Verfahrensgang

OVG für das Land NRW (Aktenzeichen 9 A 2993/98.A)

 

Tenor

Dem Kläger wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Günther Pribil, Zweigertstraße 53, 45130 Essen, als Prozessbevollmächtigter beigeordnet.

Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. Februar 2000 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde des Klägers hat Erfolg.

Die von der Beschwerde geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist allerdings schon nicht in der nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO gebotenen Weise dargetan. Mit der Frage, „welche konkreten Anforderung(en) an bestehende familiäre Verbindung(en) zu stellen sind, insbesondere wann von einer sippenmäßigen Einbindung auszugehen ist” (Beschwerdebegründung S. 5), damit die Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums im kurdisch kontrollierten Nordirak angenommen werden kann, zielt die Beschwerde nicht auf eine in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähige Rechtsfrage. Ihre Beantwortung hängt vielmehr von der den Tatsachengerichten vorbehaltenen Aufklärung und Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse in diesem Gebiet ab.

Die Beschwerde ist jedoch mit der Rüge eines Verstoßes gegen den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) begründet. Zu Recht beanstandet sie, das Berufungsgericht hätte nicht annehmen dürfen, der Kläger könne im Falle seiner Rückkehr in den Nordirak dort jedenfalls auf die Hilfe der Familie seiner Ehefrau zählen, da der Kläger weder vorgetragen hat, dass Familienangehörige der Ehefrau im Nordirak lebten, noch das Berufungsgericht hierzu Feststellungen getroffen hat.

Ob darin, wie die Beschwerde meint, ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu sehen ist und ob dies, selbst wenn es so wäre, zu einem nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO rügefähigen Verfahrensmangel führen würde, bedarf hier keiner Entscheidung (zu dieser Frage vgl. etwa Beschluss des Senats vom 2. November 1995 – BVerwG 9 B 710.94 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266; BVerwG, Urteil vom 18. Mai 1990 – BVerwG 7 C 3.90 – BVerwGE 85, 155 ≪158≫; Urteil vom 5. Juli 1994 – BVerwG 9 C 158.94 – BVerwGE 96, 200 ≪208 f.≫; Beschluss vom 18. Mai 1999 – BVerwG 7 B 11.99 – und Beschluss vom 26. Mai 1999 – BVerwG 8 B 193.98 –). Mit dieser, die Entscheidung tragenden Begründung stellt sich der Beschluss jedenfalls als unzulässige „Überraschungsentscheidung” dar. Das Berufungsgericht hat damit einen bis dahin nicht erörterten tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und dadurch dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben, mit dem der Kläger nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (zu diesen Voraussetzungen einer „Überraschungsentscheidung” vgl. aus der stRspr etwa BVerwG, Urteil vom 10. April 1991 – BVerwG 8 C 106.89 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235; BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 – 1 BvR 986/91BVerfGE 86, 133 ≪144 f.≫). Darin liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

Das Berufungsgericht hat dem Kläger Asyl- und Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG deshalb versagt, weil er jedenfalls auf das autonome Kurdengebiet in der Provinz Sulaimaniya verwiesen werden könne, das den Anforderungen an eine inländische Fluchtalternative genüge (BA S. 8). Das für die Annahme einer inländischen Fluchtalternative u.a. vorausgesetzte wirtschaftliche Existenzminimum hält das Berufungsgericht unter Bezugnahme auf eine eigene Grundsatzentscheidung vom 5. Mai 1999 nur bei den irakischen Kurden für gewährleistet, „die längere Zeit in den kurdischen Autonomiegebieten gelebt hätten oder aber dort über familiäre Verbindungen verfügten, die im Rahmen des dort herrschenden Clanwesens und Familienverbandes die Hilfe in Notlagen gewährleisteten” (BA S. 11). Das Berufungsgericht geht zunächst davon aus, dass der Kläger nach seiner Rückkehr nach Sulaimanija in seine dort vorhandene Sippe eingebunden sein werde. Es bezweifelt auch die Richtigkeit des Vortrags des Klägers, wonach sein Vater mittlerweile das dort betriebene Juweliergeschäft verkauft habe, mit der Familie ins Ausland gegangen sei und der Kläger nunmehr keinen Kontakt mehr zu ihnen habe. Das Berufungsgericht lässt jedoch letztlich offen, ob es dem Vorbringen des Klägers hierzu wie auch zu dem behaupteten Tod seiner Ehefrau und der Kinder glaubt. Es stützt sich stattdessen darauf, dass selbst dann „die Aufhebung seiner sippenmäßigen Einbindung in die kurdische Gesellschaft im kurdischen Autonomiegebiet nicht ersichtlich (sei), da dem Kläger zumindest seine durch die Heirat begründete Beziehung zu der Familie seiner Ehefrau verbleibt” (BA S. 12).

Zu Recht rügt die Beschwerde, dass sie mit dieser tatsächlichen Annahme des Berufungsgerichts nicht zu rechnen brauchte. Der Kläger hat weder im Asylverfahren noch im gerichtlichen Verfahren vorgetragen, dass Familienangehörige seiner Ehefrau im Nordirak lebten noch dass eine „Sippe” seiner Ehefrau überhaupt existiere. Tatsächliche Feststellungen hierzu hat das Berufungsgericht nicht getroffen. Die Beschwerde trägt in diesem Zusammenhang nunmehr vor, die Familie der verstorbenen Ehefrau des Klägers lebe nicht im kurdischen Autonomiegebiet, sondern in den von der irakischen Zentralregierung beherrschten Landesteilen.

Mit der Frage des wirtschaftlichen Existenzminimums betrifft der Gehörsverstoß tragende Gründe des angefochtenen Beschlusses. Ob die Hinweise des Berufungsgerichts auf die Erfahrungen des Klägers mit dem Betrieb eines Restaurants, die er in Bagdad gesammelt habe, und auf seine wegen der hohen Geldzahlung an die Schlepper vermutete finanzielle Leistungsfähigkeit allein dem Berufungsgericht auch ohne sippenmäßige Einbindung zur Annahme genügt hätten, der Kläger könne in den autonomen Kurdengebieten wirtschaftlich existieren, kann dem Beschluss nicht entnommen werden.

Da bereits der unter dem Gesichtspunkt der Überraschungsentscheidung festgestellte Gehörsverstoß Erfolg hat, bedarf es keiner Entscheidung über die weitere von der Beschwerde geltend gemachte Gehörsrüge (zur Anhörungsmitteilung vor Eingang der Berufungsbegründung und zur Frage einer erneuten Anhörungsmitteilung nach wesentlich neuem Vorbringen vgl. Beschluss des Senats vom 24. Juni 1999 – BVerwG 9 B 18.99 – m.w.N.).

Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung machte der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).

 

Unterschriften

Dr. Paetow, Hund, Dr. Eichberger

 

Fundstellen

Dokument-Index HI567021

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