Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorverfahren. Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten. Musterung. Knallphobie
Leitsatz (amtlich)
Die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren kann nicht damit begründet werden, dass der Widerspruchsführer aufgrund einer psychischen Ausnahmesituation nicht in der Lage gewesen sei, die Erkrankung an der Knallphobie den Wehrersatzbehörden von sich aus mitzuteilen.
Normenkette
VwVfG § 80 Abs. 2
Verfahrensgang
VG Darmstadt (Urteil vom 05.12.2002; Aktenzeichen 1 E 1504/98 (3)) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 5. Dezember 2002 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 200 € festgesetzt.
Gründe
Der zunächst als wehrdienstfähig gemusterte Kläger wurde im Widerspruchsverfahren, in dem er von seinem Prozessbevollmächtigten vertreten wurde, wegen einer nunmehr erstmals vorgetragenen Knallphobie ausgemustert und erstrebt mit seiner Frage, die Hinzuziehung des Prozessbevollmächtigten zum Widerspruchsverfahren für notwendig zu erklären. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Auch die auf die Abweichungs- (1.) und Verfahrensrüge (2.) gestützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Verwaltungsgerichts bleibt ohne Erfolg.
1. Die Abweichungsrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) ist nicht begründet. Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz verlangt die Darlegung eines inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatzes, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten ebensolchen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts oder des Bundesverfassungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht oder das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt hingegen weder den Anforderungen einer Divergenz- noch denen einer Grundsatzrüge (Beschluss vom 19. August 1997 – BVerwG 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 (n.F.) VwGO Nr. 26).
Der Kläger macht geltend, das Urteil des Verwaltungsgerichts weiche von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren nach § 80 Abs. 2 VwVfG ab, indem es bei der Beurteilung der Zumutbarkeit, das Vorverfahren selbst zu führen, nicht auf die “persönlichen Verhältnisse” abstelle, sondern diesen Maßstab durch die Betrachtung eines “Durchschnittswehrpflichtigen” ersetze, und verweist hierzu auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Januar 1997 – BVerwG 8 C 39.95 – Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 39.
Das Verwaltungsgericht zitiere zwar diese Rechtsprechung, verkenne aber deren Inhalt und weiche insofern von ihr ab. Die rechtliche Abweichung komme insbesondere in folgender Passage zum Ausdruck: “Selbst wenn der Kläger aufgrund höchst individueller Disposition insoweit (sc… hinsichtlich der persönlichen Geltendmachung seiner Erkrankung an einer Knallphobie bereits im Musterungsverfahren) vor einer für ihn nicht überwindbaren Hemmschwelle gestanden haben sollte, ändert dies am Ergebnis nichts, denn abzustellen ist auf den “Durchschnittswehrpflichtigen” mit etwa gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand wie der Kläger; …” (Urteil S. 8).
Der Beschwerde kann nicht in der Einschätzung gefolgt werden, das Verwaltungsgericht sei damit im abstrakten Rechtssatz von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abgewichen. Den abstrakten Rechtssatz zur Auslegung von § 80 Abs. 2 VwVfG hat das Verwaltungsgericht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gebildet, und es hat auch nicht etwa den Zusammenhang zwischen den persönlichen Verhältnissen des Klägers und dem mutmaßlichen Verhalten eines “Durchschnittswehrpflichtigen” verkannt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung zu § 80 Abs. 2 VwVfG ausgeführt, dass – ungeachtet der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers in § 80 Abs. 2 VwVfG und § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO, im Vorverfahren eine Vertretung des Widerspruchsführers durch Rechtsanwälte oder sonstige Bevollmächtigte in der Regel weder für üblich noch erforderlich zu halten – die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren von der Prüfung im Einzelfall abhängt. Danach ist die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren unter Würdigung der jeweiligen Verhältnisse vom Standpunkt einer verständigen Partei aus zu beurteilen. Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte. Notwendig ist die Zuziehung eines Rechtsanwalts nach § 80 Abs. 2 VwVfG dann, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten ist, das Vorverfahren selbst zu führen (stRspr; vgl. u.a. Urteile vom 14. November 1979 – BVerwG 8 C 19.78 – Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 1 S. 1 ≪S. 2 f. und 4≫, vom 14. Januar 1983 – BVerwG 8 C 73.80 – Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 13 S. 15 f., vom 28. Oktober 1983 – BVerwG 8 C 185.81 – Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 15 ≪n.L.≫, vom 26. November 1985 – BVerwG 8 C 115.83 – Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 18 ≪n.L.≫, vom 14. August 1987 – BVerwG 8 C 129.84 – Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 25 S. 7 ≪S. 9 f.≫, vom 15. Februar 1991 – BVerwG 8 C 83.88 – Buchholz 310 § 72 VwGO Nr. 14 S. 1 ≪4≫ und vom 26. Februar 1993 – BVerwG 8 C 68.91 – Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 34 S. 41 ≪43≫). Einerseits erlaubt die Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse sowie der Schwierigkeit der Sache eine Einzelfallprüfung. Das Abstellen auf den Bildungs- und Erfahrungsstand Widerspruchsführers beinhaltet sogar eine gewisse Subjektivierung des Beurteilungsmaßstabs. Diese wird jedoch zugleich begrenzt durch den objektiven Maßstab des “vernünftigen Bürgers”. Diese Begrenzung ist erforderlich, weil eine vollständige Subjektivierung die Entscheidung des Gesetzgebers, die Erstattung von Anwaltskosten im Vorverfahren an die Voraussetzung der Notwendigkeit zu knüpfen, konterkarieren und zudem die Berechenbarkeit behördlicher und gerichtlicher Kostenentscheidungen beseitigen würde. Es liegt daher in der Logik der gebotenen Objektivierung persönlicher Verhältnisse, dass außerordentliche psychische Befindlichkeiten der hier geltend gemachten Art kostenrechtlich irrelevant sind. Indem das Verwaltungsgericht daher den mutmaßlichen “vernünftigen Bürger” als “Durchschnittswehrpflichtigen” bezeichnet, hat es sich im Rahmen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gehalten.
2. Die Verfahrensrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) bleiben ebenfalls ohne Erfolg.
a) Eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO) sowie einen gleichzeitigen Verstoß gegen die Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) sieht der Kläger darin, dass das Verwaltungsgericht – unter Zugrundelegung seines eigenen rechtlichen Prüfungsmaßstabes – seinem Vortrag in der mündlichen Verhandlung hätte nachgehen müssen, wonach gerade der Umstand, dass die Knallphobie zunächst verschwiegen worden sei, belege, dass er aufgrund dieser Erkrankung und seiner Persönlichkeitsstruktur nicht in der Lage gewesen sei, das Verfahren selbst zu führen. Gerade unter Berücksichtigung der vom Verwaltungsgericht selbst als Maßstab genannten “persönlichen Verhältnisse” hätte es diesen Vortrag berücksichtigen und gewichten müssen. Die Frage, ob eine gesundheitliche Einschränkung die Fähigkeit beeinträchtigt habe, die eigenen Rechte sachgerecht zu vertreten, sei selbstverständlich im Rahmen der “persönlichen Verhältnisse” zu berücksichtigen und nicht mit dem Hinweis auf einen Durchschnittswehrpflichtigen auszublenden. Gerade dann, wenn man davon ausgehe, dass er seine Knallphobie nicht vorgetragen habe, die wehrpflichtrechtliche Relevanz dieser Erkrankung aber ohne weiteres erkennbar gewesen sei, könne der Umstand, dass dieser doch so offenkundige Umstand bei der Untersuchung verschwiegen worden sei, nur krankheitsbedingte oder sonstige persönlichkeitsbedingte Ursachen haben.
Die geltend gemachten Verfahrensfehler liegen nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat sich ausführlich mit den Fragen beschäftigt, aus welchen Gründen der Kläger erst verhältnismäßig spät Hinweise auf die Knallphobie gegeben hat und welche Rückschlüsse dies möglicherweise auf seinen Krankheitszustand zulässt. Dabei hat es ausdrücklich die vom Klägervertreter unternommene Interpretation – es könne zu den Merkmalen einer psychisch bedingten Erkrankung gehören, diese Dritten gegenüber zu verschweigen – als “jedenfalls vertretbar” bezeichnet. Allerdings hat es von weiteren Aufklärungsschritten abgesehen, weil es nach seinem rechtlichen Ansatz maßgeblich nicht auf den tatsächlichen gesundheitlichen Zustand des Klägers ankam, sondern darauf, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage anwaltlicher Hilfe bedient haben würde. Angesichts des vom Kläger angestrebten Hochschulstudiums hat es diese Frage verneint. Das Gericht hat es für ausgeschlossen erachtet, dass ein solcher Wehrpflichtiger es unterlasse, anlässlich eines Musterungsverfahrens Entsprechendes vorzutragen. Diese Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts machte eine weitere Sachverhaltsaufklärung in der vom Kläger gewünschten Richtung entbehrlich. Das Verwaltungsgericht war auch nicht etwa verpflichtet, seine Rechtsauffassung vor Erlass des angefochtenen Urteils mit dem Kläger zu erörtert; von einer unzulässigen Überraschungsentscheidung kann in Anbetracht der vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 80 Abs. 2 VwGO nicht die Rede sein.
b) Einen Verstoß gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie die Grundsätze der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) sieht der Kläger darin, dass das Urteil bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich sei. Es sei unauflösbar widersprüchlich, wenn einerseits dargelegt werde, dass es auf die persönlichen Verhältnisse im Einzelfall ankomme, andererseits aber die insoweit ausdrücklich als “vertretbar” und damit als erheblich anerkannten Umstände mit dem Hinweis auf den maßgeblichen Durchschnittswehrpflichtigen als entscheidungsunerheblich zurückgewiesen würden. Es sei schlechterdings kein sachlicher Grund erkennbar, die persönliche Erkrankung und die daraus folgenden Einschränkungen bei der Wahrnehmung der eigenen Rechte im Widerspruchsverfahren außer Acht zu lassen.
Auch diese Rüge ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 80 Abs. 2 VwVfG zwischen einer Einzelfallbetrachtung – unter Beachtung der persönlichen Verhältnisse des Widerspruchsführers und der Schwierigkeit der Sache – und dem verallgemeinernden Beurteilungsmaßstab des “vernünftigen Bürgers” bzw. des “Durchschnittswehrpflichtigen” unterschieden. Aus dieser Unterscheidung ergibt sich folgerichtig die Einordnung einerseits der Knallphobie als eines der Pauschalierung entzogenen Einzelumstandes und andererseits die verallgemeinernde Betrachtung der “Notwendigkeit” anhand des mutmaßlichen Verhaltens eines idealtypischen Dritten. Darin liegt kein Widerspruch; vielmehr werden Abgrenzungskriterien angewandt, die – wie aufgezeigt – subjektive und objektive Elemente zugleich enthalten.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 2 GKG.
Unterschriften
Bardenhewer, Büge, Graulich
Fundstellen