Gründe
I
Rz. 1
Der Antragsteller, ein türkischer Staatsangehöriger, begehrt einstweiligen Rechtsschutz im Hinblick auf die Anordnung seiner Abschiebung in die Türkei.
Rz. 2
Der 1987 in Deutschland geborene und hier aufgewachsene Antragsteller ist seit 2008 mit einer in der Türkei geborenen und aufgewachsenen türkischen Staatsangehörigen verheiratet. Aus der Ehe sind zwei Söhne hervorgegangen (geboren am... November... und... Januar...), die (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Vor seiner Verhaftung lebte der Antragsteller mit seiner Familie bei seinen Eltern. Er ist im Besitz einer Niederlassungserlaubnis.
Rz. 3
Im März 2014 wurde der Antragsteller aufgrund eines Haftbefehls des Bundesgerichtshofs festgenommen und befindet sich seitdem in Haft (zunächst in Untersuchungs-, dann in Straf- und inzwischen in Haft zur Sicherung der Abschiebung). Mit Urteil des Kammergerichts Berlin vom 6. Juli 2015 wurde er wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Betrug, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, weil er im Juli 2013 die im syrischen Bürgerkrieg aktive Vereinigung "Junud al-Sham" durch die Übergabe eines zuvor in betrügerischer Weise erlangten Geldbetrags sowie Überlassung eines hieraus finanzierten Kraftfahrzeugs und im März 2014 die seinerzeit vor allem im Irak und Syrien aktive Organisation "Islamischer Staat im Irak und Großsyrien" ("ISIG"), die sich inzwischen umbenannt hat in "Islamischer Staat" ("IS"), durch eine Geldüberweisung unterstützt hatte. Der Antragsteller hat die Strafe in vollem Umfang verbüßt und sich nach eigenen Angaben in der Haft von seiner radikal-islamistischen Überzeugung abgewandt.
Rz. 4
Die Ausländerbehörde wies den Antragsteller mit Bescheid vom 3. Juni 2016 - unter Anordnung der sofortigen Vollziehung - aus der Bundesrepublik aus, drohte ihm die Abschiebung in die Türkei aus der Haft heraus an und befristete die Wirkungen der Ausweisung und einer aufgrund dieser Verfügung zu vollziehenden Abschiebung auf die Dauer von zehn Jahren. Hiergegen erhob der Antragsteller Klage und beantragte die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Den Eilantrag lehnte das Verwaltungsgericht Gießen mit Beschluss vom 29. Mai 2017 ab. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 31. August 2017 zurück.
Rz. 5
Einen im August 2017 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - gestellten Asylantrag begründete der Antragsteller damit, dass er bei Abschiebung in die Türkei mit Inhaftierung und Folter rechnen müsse. Er habe im Juli 2017 erfahren, dass in der Türkei gegen ihn wegen einer vorgeschobenen Mitgliedschaft bei "Al-Qaida" ermittelt werde. Das Bundesamt lehnte den Antrag mit Bescheid vom 23. August 2017 als offensichtlich unbegründet ab, verneinte Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG und drohte dem Antragsteller die Abschiebung in die Türkei an. Hiergegen erhob der Antragsteller ebenfalls Klage und beantragte die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Auch diesen Eilantrag lehnte das Verwaltungsgericht Gießen mit Beschluss vom 21. September 2017 ab. Mit Beschluss vom 18. Dezember 2017 hob das Bundesverfassungsgericht den Beschluss vom 21. September 2017 auf und verwies den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Gießen zurück. Es begründete seine Entscheidung damit, dass das Verwaltungsgericht ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids des Bundesamts auch bezüglich der geltend gemachten Abschiebungsverbote aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ohne hinreichende Sachaufklärung zur Foltergefahr und zu den Haftbedingungen in der Türkei verneint habe. Im Hinblick auf ein vom Antragsteller überreichtes Schreiben von Amnesty International vom 5. September 2017 habe vor dem Hintergrund der als gerichtsbekannt einzustufenden allgemeinen Erkenntnisse zur politischen Situation in der Türkei Anlass zur weiteren Sachverhaltsaufklärung oder zur Einholung von Zusicherungen der türkischen Behörden zur Behandlung des Antragstellers bestanden.
Rz. 6
Nach Anhörung ordnete das Hessische Ministerium des Innern und für Sport mit Verfügung vom 12. März 2018 - gestützt auf § 58a AufenthG - die Abschiebung des Antragstellers in die Türkei an (Ziffer 1). Gleichzeitig wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2) und das mit der Abschiebung verbundene Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 5 AufenthG unbefristet gilt und keine Ausnahme zugelassen wird (Ziffer 3). Die Abschiebungsanordnung wurde damit begründet, dass vom Antragsteller ein beachtliches Risiko ausgehe, das sich jederzeit in seiner Person aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr umschlagen könne. Er habe die Kontakte, die Erfahrung und die charakterliche Disposition, um in Deutschland einen terroristischen Anschlag zu verüben. Die behauptete Deradikalisierung während der Haft sei nicht glaubhaft. Der Antragsteller habe nachweislich terroristische Vereinigungen durch Bar- und Sachmittel gefördert. Es sei davon auszugehen, dass er in Syrien auch selbst in Kampfhandlungen verwickelt gewesen sei und damit eine grundsätzliche Gewaltbereitschaft vorliege. Seine islamistisch geprägte Einstellung ergebe sich u.a. aus der Beteiligung an der mittlerweile verbotenen Koranverteilaktion "LIES!" und seiner Verwurzelung in der islamistischen Szene. Zu den Strukturen und Hintermännern der von ihm geförderten terroristischen Organisationen habe er keine Angaben gemacht, so dass er in der Szene nicht als Verräter gelte. Psychologische Begutachtungen attestierten ihm zwar eine Abwendung vom radikalen Islam, aber auch eine naive, beeinflussbare Persönlichkeit. Während der Haft habe er sich beanstandungsfrei geführt, aber weiterhin Kontakt zu gleichgesinnten Personen gehabt. Bart und Haare habe er nur gekürzt, um eine Abkehr von seiner radikalen Einstellung vorzuspielen. Eine äußerlich angepasste Lebensführung im geschlossenen Rahmen der JVA und eine positive private Perspektive nach Haftentlassung stünden der Risikoeinschätzung nicht entgegen, zumal dem Antragsteller von seinem Umfeld geraten worden sei, sich während der Inhaftierung angepasst zu verhalten, und dies eine im Islam zulässige Verhaltensweise sei. Das Prinzip der Taqiya (Verstellung) erlaube es einem Jihadisten, zur Unterwanderung des Gegners und unauffälligen Planung eines Terrorakts seine wahre Religiosität bzw. Ideologie zu verschleiern und ein nach salafistischem Verständnis sündhaftes Leben zu führen, ohne sich dafür im Jenseits verantworten zu müssen. Nach seiner Haftentlassung könne der Antragsteller seine Kontakte zu radikal-islamischen Kreisen ohne Weiteres wieder reaktivieren bzw. intensivieren. Diese Gefahr bestehe insbesondere, weil er in sein früheres bürgerliches Lebensumfeld zurückkehren wolle, aus dem heraus er sich zuvor radikalisiert habe. Damit sei selbst im Falle einer zwischenzeitlichen Abkehr in Anbetracht seiner von Naivität geprägten und potentiell beeinflussbaren Persönlichkeitsstruktur eine erneute Radikalisierung jederzeit möglich und wahrscheinlich. Angesichts der vom Antragsteller ausgehenden Gefahr überwiege bei der Ermessensentscheidung auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er in Deutschland geboren und aufgewachsen sei, seine ganze Familie hier lebe und seine Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit besäßen, das öffentliche Interesse an seiner Ausreise das private Interesse an seinem Verbleib. Es lägen weiterhin keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei eine nicht mit Art. 3 EMRK zu vereinbarende Behandlung drohe.
Rz. 7
Am 13. März 2018 hat der Antragsteller beim Bundesverwaltungsgericht Klage gegen die Abschiebungsanordnung erhoben und zugleich einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt. Er macht insbesondere geltend, der Antragsgegner instrumentalisiere rechtswidrig § 58a AufenthG, da die Abschiebungshaft ansonsten nicht mehr hätte verlängert werden können. Von ihm gehe keine Gefahr i.S.d. § 58a AufenthG aus. Er habe niemals Gewalttaten verübt, angekündigt oder gebilligt. Vom islamistischen Gedankengut und Verhalten habe er sich abgewandt. Dies bestätigten alle Einrichtungen, die über längere Zeit mit ihm persönlich zu tun gehabt hätten. Die Abschiebungsanordnung sei zudem unverhältnismäßig; die nach Haftentlassung eintretende fünfjährige Führungsaufsicht wäre völlig ausreichend. Außerdem bestehe ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen seiner Verurteilung in Deutschland und der inzwischen gegen ihn erhobenen Anklage in der Türkei. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes müssten Personen, die unter dem Verdacht der "IS"-Mitgliedschaft oder -unterstützung stünden, zwar nicht grundsätzlich mit einer Art. 3 EMRK-widrigen Behandlung rechnen, dies sei aber auch nicht in jedem Fall auszuschließen. Eine Zusicherung seitens der türkischen Regierung wäre zur Ausräumung des Restrisikos nicht geeignet.
Rz. 8
Der Senat hat eine Liste von Erkenntnismitteln über die abschiebungsrelevante Lage in der Türkei (Stand April 2018) erstellt und den Beteiligten die darin aufgeführten Erkenntnismittel zur Kenntnis gebracht.
II
Rz. 9
Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport im Bescheid vom 12. März 2018 anzuordnen, ist zulässig (§ 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO), auch ist das Bundesverwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache zuständig (§ 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO).
Rz. 10
Der Antrag ist aber unbegründet. Bei der gebotenen Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers, bis zum Abschluss des Klageverfahrens in Deutschland zu bleiben, und dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung überwiegt das öffentliche Interesse. An der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Abschiebungsanordnung bestehen keine ernstlichen Zweifel (1.). Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote, die einer Abschiebung in die Türkei entgegenstehen könnten, liegen bei Beachtung der vom Senat im Tenor festgesetzten Maßgaben nicht vor (2.).
Rz. 11
1. Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 58a Abs. 1 AufenthG. Danach kann die oberste Landesbehörde aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen. Diese Regelung ist formell und materiell verfassungsgemäß (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 16; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 20 ff. und vom 26. Juli 2017 - 2 BvR 1606/17 - NVwZ 2017, 1530 Rn. 18).
Rz. 12
1.1 Die Vorschrift findet auch auf türkische Staatsangehörige Anwendung, denen - wie dem Antragsteller - als Arbeitnehmer und/oder Familienangehörige ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht aus Art. 6 und/oder Art. 7 ARB 1/80 zusteht.
Rz. 13
a) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) kann der Aufenthalt eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen über Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 beendet werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Aufenthaltsbeendigung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 [ECLI:EU:C:2011:809], Ziebell - NVwZ 2012, 422 Rn. 80 ff.). Diese Voraussetzungen liegen in den Fällen des § 58a AufenthG vor. Das nach der Rechtsprechung des EuGH zu erfüllende Erfordernis einer gegenwärtigen "konkreten Gefährdung" der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit bedeutet, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht allein auf vergangenes strafbares Verhalten gestützt werden dürfen, sondern von dem Betroffenen gegenwärtig noch eine konkrete Bedrohung für hochrangige Rechtsgüter ausgehen muss. Eine konkrete Gefahr im Sinne des deutschen Polizeirechts wird damit nicht gefordert, vielmehr reicht ein beachtliches Risiko im Sinne von § 58a Abs. 1 AufenthG aus, das gegenwärtig ist und sich jederzeit realisieren kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 7.17 - NVwZ 2017, 1798 Rn. 45).
Rz. 14
b) Auch das Verschlechterungsverbot des Art. 13 ARB 1/80 steht der Anwendung des § 58a AufenthG nicht entgegen. Diese Stillhalteklausel steht neben den unmittelbar anwendbaren Rechten aus Art. 6 und 7 ARB 1/80 und erfasst auch Personen, die nach diesen Vorschriften bereits eine assoziationsrechtliche Rechtsposition erworben haben (BVerwG, Urteil vom 28. April 2015 - 1 C 21.14 - BVerwGE 152, 76 Rn. 28). Nach Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der EU und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet rechtmäßig sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Selbst wenn es sich bei § 58a AufenthG um eine "neue Beschränkung" im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 handelt, ist eine daraus resultierende Verschlechterung der rechtlichen Situation nach der Rechtsprechung des EuGH (u.a.) zulässig, wenn sie - wie hier - zu den in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 aufgeführten Beschränkungen gehört (EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - C-225/12 [ECLI:EU:C:2013:725], Demir - Rn. 40).
Rz. 15
1.2 Die angegriffene Verfügung ist bei der hier gebotenen umfassenden Prüfung (BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 13) nicht zu beanstanden. Der Rechtmäßigkeit steht nicht entgegen, dass der Antragsgegner die Abschiebungsanordnung erst erlassen hat, nachdem auf der Grundlage der zuvor von der Ausländerbehörde verfügten Ausweisung eine weitere Verlängerung der Abschiebungshaft nicht mehr möglich war. Dies stellt - entgegen der Auffassung des Antragstellers - keine unzulässige Instrumentalisierung dar. Die Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG ist gegenüber der Ausweisung nach §§ 53 ff. AufenthG eine selbstständige ausländerrechtliche Maßnahme der Gefahrenabwehr. Sie zielt auf die Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und/oder einer terroristischen Gefahr und ist grundsätzlich unabhängig vom Vorliegen oder Nichtvorliegen der Voraussetzungen für den Erlass und/oder die Vollziehung einer Ausweisung. Auch ein - vom Antragsteller behaupteter - Verstoß gegen den Grundsatz der Beschleunigung in Haftsachen führt nicht zur Rechtswidrigkeit oder Nicht-Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung.
Rz. 16
a) Der Begriff der "Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland" ist - wie die wortgleiche Formulierung in § 54 Abs. 1 Nr. 2 und § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - nach der Rechtsprechung des Senats enger zu verstehen als der Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des allgemeinen Polizeirechts. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umfasst die innere und äußere Sicherheit und schützt nach innen den Bestand und die Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Das schließt den Schutz vor Einwirkungen durch Gewalt und Drohungen mit Gewalt auf die Wahrnehmung staatlicher Funktionen ein (BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 ≪120≫). In diesem Sinne richten sich auch Gewaltanschläge gegen Unbeteiligte zum Zwecke der Verbreitung allgemeiner Unsicherheit gegen die innere Sicherheit des Staates (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 21).
Rz. 17
Der Begriff der "terroristischen Gefahr" knüpft an die neuartigen Bedrohungen an, die sich nach dem 11. September 2001 herausgebildet haben. Diese sind in ihrem Aktionsradius nicht territorial begrenzt und gefährden die Sicherheitsinteressen auch anderer Staaten. Im Aufenthaltsgesetz findet sich zwar keine Definition, was unter Terrorismus zu verstehen ist, die aufenthaltsrechtlichen Vorschriften zur Bekämpfung des Terrorismus setzen aber einen der Rechtsanwendung fähigen Begriff des Terrorismus voraus. Auch wenn bisher die Versuche, auf völkerrechtlicher Ebene eine allgemein anerkannte vertragliche Definition des Terrorismus zu entwickeln, nicht in vollem Umfang erfolgreich gewesen sind, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts doch im Grundsatz geklärt, unter welchen Voraussetzungen die - völkerrechtlich geächtete - Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln anzunehmen ist. Wesentliche Kriterien können insbesondere aus der Definition terroristischer Straftaten in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus vom 9. Dezember 1999 (BGBl. 2003 II S. 1923), aus der Definition terroristischer Straftaten auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft im Beschluss des Rates Nr. 2002/475/JI vom 13. Juni 2002 (ABl. L 164 S. 3) sowie dem gemeinsamen Standpunkt des Rates Nr. 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Dezember 2001 (ABl. L 344 S. 93) gewonnen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 ≪129 f.≫). Trotz einer gewissen definitorischen Unschärfe des Terrorismusbegriffs liegt nach der Rechtsprechung des Senats eine völkerrechtlich geächtete Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln jedenfalls dann vor, wenn politische Ziele unter Einsatz gemeingefährlicher Waffen oder durch Angriffe auf das Leben Unbeteiligter verfolgt werden (BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - 1 C 13.10 - BVerwGE 141, 100 Rn. 19 m.w.N.). Entsprechendes gilt bei der Verfolgung ideologischer Ziele. Eine terroristische Gefahr kann nicht nur von Organisationen, sondern auch von Einzelpersonen ausgehen, die nicht als Mitglieder oder Unterstützer in eine terroristische Organisation eingebunden sind oder in einer entsprechenden Beziehung zu einer solchen stehen. Erfasst sind grundsätzlich auch Zwischenstufen lose verkoppelter Netzwerke, (virtueller oder realer) Kommunikationszusammenhänge oder "Szeneeinbindungen", die auf die Realitätswahrnehmung einwirken und die Bereitschaft im Einzelfall zu wecken oder zu fördern geeignet sind (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 22).
Rz. 18
Das Erfordernis einer "besonderen" Gefahr bezieht sich allein auf das Gewicht und die Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter sowie das Gewicht der befürchteten Tathandlungen des Betroffenen, nicht auf die zeitliche Eintrittswahrscheinlichkeit. In diesem Sinne muss die besondere Gefahr für die innere Sicherheit aufgrund der gleichen Eingriffsvoraussetzungen eine mit der terroristischen Gefahr vergleichbare Gefahrendimension erreichen. Dafür spricht auch die Regelung in § 11 Abs. 5 AufenthG, die die Abschiebungsanordnung in eine Reihe mit Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellt. Geht es um die Verhinderung schwerster Straftaten, durch die im "politischen/ideologischen Kampf" die Bevölkerung in Deutschland verunsichert und/oder staatliche Organe der Bundesrepublik Deutschland zu bestimmten Handlungen genötigt werden sollen, ist regelmäßig von einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und jedenfalls von einer terroristischen Gefahr auszugehen. Da es um die Verhinderung derartiger Straftaten geht, ist nicht erforderlich, dass mit deren Vorbereitung oder Ausführung in einer Weise begonnen wurde, die einen Straftatbestand erfüllt und etwa bereits zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen geführt hat (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 23).
Rz. 19
Die für § 58a AufenthG erforderliche besondere Gefahrenlage muss sich aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ergeben. Aus Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich, dass die Bedrohungssituation unmittelbar vom Ausländer ausgehen muss, in dessen Freiheitsrechte sie eingreift. Ungeachtet ihrer tatbestandlichen Verselbstständigung ähnelt die Abschiebungsanordnung in ihren Wirkungen einer für sofort vollziehbar erklärten Ausweisung nebst Abschiebungsandrohung. Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung ist sie aber mit Verkürzungen im Verfahren und beim Rechtsschutz verbunden. Insbesondere ist die Abschiebungsanordnung kraft Gesetzes sofort vollziehbar (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 AufenthG). Da es keiner Abschiebungsandrohung bedarf (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 AufenthG), erübrigt sich auch die Bestimmung einer Frist zur freiwilligen Ausreise. Zuständig sind nicht die Ausländerbehörden, sondern grundsätzlich die obersten Landesbehörden (§ 58a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG). Die Zuständigkeit für den Erlass einer Abschiebungsanordnung begründet nach § 58a Abs. 3 Satz 3 AufenthG zugleich eine eigene Zuständigkeit für die Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG ohne Bindung an hierzu getroffene Feststellungen aus anderen Verfahren. Die gerichtliche Kontrolle einer Abschiebungsanordnung und ihrer Vollziehung unterliegt in erster und letzter Instanz dem Bundesverwaltungsgericht (§ 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO), ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes muss innerhalb einer Frist von sieben Tagen gestellt werden (§ 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Die mit dieser Ausgestaltung des Verfahrens verbundenen Abweichungen gegenüber einer Ausweisung lassen sich nur mit einer direkt vom Ausländer ausgehenden terroristischen und/oder dem gleichzustellenden Bedrohungssituation für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigen (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 24).
Rz. 20
Die vom Ausländer ausgehende Bedrohung muss aber nicht bereits die Schwelle einer konkreten Gefahr im Sinne des polizeilichen Gefahrenabwehrrechts überschreiten, bei der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des geschützten Rechtsguts zu erwarten ist. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, die zur Abwehr einer besonderen Gefahr lediglich eine auf Tatsachen gestützte Prognose verlangt. Auch Sinn und Zweck der Regelung sprechen angesichts des hohen Schutzguts und der vom Terrorismus ausgehenden neuartigen Bedrohungen für einen abgesenkten Gefahrenmaßstab, weil seit den Anschlägen von 11. September 2001 damit zu rechnen ist, dass ein Terroranschlag mit hohem Personenschaden ohne großen Vorbereitungsaufwand und mit Hilfe allgemein verfügbarer Mittel jederzeit und überall verwirklicht werden kann. Eine Abschiebungsanordnung ist daher schon dann möglich, wenn aufgrund konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte ein beachtliches Risiko dafür besteht, dass sich eine terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in der Person des Ausländers jederzeit aktualisieren kann, sofern nicht eingeschritten wird (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 25).
Rz. 21
Diese Auslegung steht trotz der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Einklang mit dem Grundgesetz (BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 42). Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht von vornherein für jede Art der Aufgabenwahrnehmung auf die Schaffung von Eingriffstatbeständen beschränkt, die dem tradierten sicherheitsrechtlichen Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren entsprechen. Vielmehr kann er die Grenzen für bestimmte Bereiche der Gefahrenabwehr mit dem Ziel schon der Straftatenverhinderung auch weiter ziehen, indem er die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs reduziert. Dann bedarf es aber zumindest einer hinreichend konkretisierten Gefahr in dem Sinne, dass tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr bestehen. Hierfür reichen allgemeine Erfahrungssätze nicht aus, vielmehr müssen bestimmte Tatsachen im Einzelfall die Prognose eines Geschehens tragen, das zu einer zurechenbaren Verletzung gewichtiger Schutzgüter führt. Eine hinreichend konkretisierte Gefahr in diesem Sinne kann schon bestehen, wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, aber bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. In Bezug auf terroristische Straftaten, die oft von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, kann dies schon dann der Fall sein, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird. Angesichts der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist eine Verlagerung der Eingriffsschwelle in das Vorfeldstadium dagegen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, wenn nur relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren bestehen, etwa allein die Erkenntnis, dass sich eine Person zu einem fundamentalistischen Religionsverständnis hingezogen fühlt (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 26; BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 45). Allerdings kann in Fällen, in denen sich eine Person in hohem Maße mit einer militanten, gewaltbereiten Auslegung des Islam identifiziert, den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung dieser radikal-islamischen Auffassung für gerechtfertigt und die Teilnahme am sogenannten "Jihad" als verpflichtend ansieht, von einer hinreichend konkreten Gefahr auszugehen sein, dass diese Person terroristische Straftaten begeht (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 8.17 - juris Rn. 18). Gefahrerhöhende Umstände können sich auch aus einem freiwilligen Aufenthalt im Ausland im unmittelbaren Umfeld jihadistischer oder sonstiger terroristischer oder extremistischer Vereinigungen ergeben (vgl. BR-Drs. 175/18 S. 13).
Rz. 22
Für diese "Gefahrenprognose" bedarf es - wie bei jeder Prognose - zunächst einer hinreichend zuverlässigen Tatsachengrundlage. Der Hinweis auf eine auf Tatsachen gestützte Prognose dient der Klarstellung, dass ein bloßer (Gefahren-)Verdacht oder Vermutungen bzw. Spekulationen nicht ausreichen. Zugleich definiert dieser Hinweis einen eigenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Abweichend von dem sonst im Gefahrenabwehrrecht geltenden Prognosemaßstab der hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit mit seinem nach Art und Ausmaß des zu erwartenden Schadens differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab muss für ein Einschreiten nach § 58a AufenthG eine bestimmte Entwicklung nicht wahrscheinlicher sein als eine andere. Vielmehr genügt angesichts der besonderen Gefahrenlage, der § 58a AufenthG durch die tatbestandliche Verselbstständigung begegnen soll, dass sich aus den festgestellten Tatsachen ein beachtliches Risiko dafür ergibt, dass die von einem Ausländer ausgehende Bedrohungssituation sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen kann (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 27).
Rz. 23
Dieses beachtliche Eintrittsrisiko kann sich auch aus Umständen ergeben, denen (noch) keine strafrechtliche Relevanz zukommt, etwa wenn ein Ausländer fest entschlossen ist, in Deutschland einen mit niedrigem Vorbereitungsaufwand möglichen schweren Anschlag zu verüben, auch wenn er noch nicht mit konkreten Vorbereitungs- oder Ausführungshandlungen begonnen hat und die näheren Tatumstände nach Ort, Zeitpunkt, Tatmittel und Angriffsziel noch nicht feststehen. Eine hinreichende Bedrohungssituation kann sich aber auch aus anderen Umständen ergeben. In jedem Fall bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Ausländers, seines bisherigen Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren oder geäußerten inneren Einstellung, seiner Verbindungen zu anderen Personen und Gruppierungen, von denen eine terroristische Gefahr und/oder eine Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik ausgeht sowie sonstiger Umstände, die geeignet sind, den Ausländer in seinem gefahrträchtigen Denken oder Handeln zu belassen oder zu bekräftigen. Dabei kann sich - abhängig von den Umständen des Einzelfalls - in der Gesamtschau ein beachtliches Risiko, das ohne ein Einschreiten jederzeit in eine konkrete Gefahr umschlagen kann, auch schon daraus ergeben, dass sich ein im Grundsatz gewaltbereiter und auf Identitätssuche befindlicher Ausländer in besonderem Maße mit dem radikal-extremistischen Islamismus in seinen verschiedenen Ausprägungen bis hin zum ausschließlich auf Gewalt setzenden jihadistischen Islamismus identifiziert, über enge Kontakte zu gleichgesinnten, möglicherweise bereits anschlagsbereiten Personen verfügt und sich mit diesen in "religiösen" Fragen regelmäßig austauscht (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 28).
Rz. 24
Der obersten Landesbehörde steht bei der für eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erforderlichen Gefahrenprognose aber keine Einschätzungsprärogative zu. Als Teil der Exekutive ist sie beim Erlass einer Abschiebungsanordnung - wie jede andere staatliche Stelle - an Recht und Gesetz, insbesondere an die Grundrechte, gebunden (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG) und unterliegt ihr Handeln nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG der vollen gerichtlichen Kontrolle. Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen für einen der gerichtlichen Überprüfung entzogenen behördlichen Beurteilungsspielraum. Auch wenn die im Rahmen des § 58a AufenthG erforderliche Prognose besondere Kenntnisse und Erfahrungswissen erfordert, ist sie nicht derart außergewöhnlich und von einem bestimmten Fachwissen abhängig, über das nur oberste (Landes-)Behörden verfügen. Vergleichbare Aufklärungsschwierigkeiten treten auch in anderen Zusammenhängen auf. Der hohe Rang der geschützten Rechtsgüter und die Eilbedürftigkeit der Entscheidung erfordern ebenfalls keine Einschätzungsprärogative der Behörde (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 29; BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 42).
Rz. 25
b) In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass vom Antragsteller im Zeitpunkt seiner Verhaftung im März 2014 aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ein beachtliches Risiko im Sinne des § 58a AufenthG ausging, auch wenn den Sicherheitsbehörden kein konkreter Plan zur Ausführung einer terroristischen Gewalttat bekannt geworden war. Es bestand ein zeitlich und sachlich beachtliches Risiko, dass der Antragsteller seinen über einen langen Zeitraum gebildeten und bekundeten radikal-islamischen Überzeugungen, aufgrund derer er in Syrien zwei jihadistisch ausgerichtete terroristische Organisationen unterstützt hat, weitere Taten folgen lässt einschließlich der Begehung oder aktiven Mitwirkung an einem - ohne großen Vorbereitungsaufwand möglichen - Terroranschlag mit unbeteiligten Toten. Diese vom Antragsteller ausgehende Bedrohungssituation konnte sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen. Dies ergibt sich in der Gesamtschau insbesondere aus der tiefen Verwurzelung des Antragstellers in der islamistischen Szene vor seiner Verhaftung und den Vorgängen, die zu seiner Verurteilung durch das Kammergericht Berlin geführt haben.
Rz. 26
Der Antragsteller war vor seiner Verhaftung tief in der islamistischen Szene in Frankfurt verwurzelt. 2011 begann er, sich mit dem Islam auseinanderzusetzen und seine Religion intensiver zu praktizieren. Schnell geriet er in radikal-salafistisch geprägte Kreise, änderte sein äußeres Erscheinungsbild und sein Freizeitverhalten und traf sich häufig mit ähnlich orientierten Bekannten. 2012 beteiligte er sich an der Koranverteilungsaktion "Lies!". Außerdem war er in Ausreiseplanungen und -aktivitäten mehrerer Personen involviert, die sich in Syrien terroristischen Vereinigungen als Mitglieder angeschlossen haben (vgl. Urteil des Kammergerichts Berlin vom 6. Juli 2015, UA S. 4 f., 24 f. und 40 sowie die Erkenntniszusammenstellung des LKA Hessen, Bl. 318 ff. der Verwaltungsakten).
Rz. 27
Dass der Antragsteller mit einer den Jihad als bewaffneten Kampf verstehenden und damit grundsätzlich gewaltbereiten Ausrichtung des Salafismus sympathisierte, zeigt sich vor allem daran, dass er mehrfach in das syrische Bürgerkriegsgebiet gereist ist und dort zwei jihadistisch ausgerichtete terroristische Organisationen durch Zurverfügungstellung beträchtlicher Geldmittel und eines geländegängigen Fahrzeugs unterstützt hat. Aus diesem Grund wurde er vom Kammergericht Berlin mit Urteil vom 6. Juli 2015 wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Betrug, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen des Strafgerichts und der Erkenntnismittelzusammenstellung des LKA Hessen (Bl. 318 ff. der Verwaltungsakten) - an deren Richtigkeit insoweit jeweils keine Zweifel bestehen und vom Antragsteller auch nicht geltend gemacht werden - beschäftigte sich der Antragsteller spätestens ab Anfang 2013 intensiv mit der Situation im syrischen Bürgerkriegsgebiet. Er beschloss, seine feste Anstellung als Gepäckfahrer auf dem Frankfurter Flughafen aufzugeben und sich für längere Zeit nach Syrien zu begeben, um dort Hilfe zu leisten. Mitte Juni 2013 reiste er gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen - damals fünf und 19 Monate alten - Söhnen über die Türkei in ein Dorf in der vom Bürgerkrieg betroffenen nordsyrischen Provinz Latakya, wo er sich - wie geplant - mit zwei Freunden aus der Frankfurter Salafistenszene (P.E. und R.F. ) traf. Während sich diese der Vereinigung "Junud al-Sham" - einer der globalen jihadistischen Bewegung zuzurechnenden terroristischen Organisation (s.a. BGH, Beschluss vom 21. September 2017 - AK 43/17 - juris Rn. 9 ff.) - anschlossen und eine paramilitärische Ausbildung absolvierten, reiste der Antragsteller Ende Juni 2013 vorübergehend allein nach Deutschland zurück, erschlich sich betrügerisch ein Darlehen über 25 000 € und erwarb damit in der Türkei für 10 000 € einen Geländewagen. Nach seiner Rückkehr in das syrische Dorf Anfang Juli 2013 stellte er über seinen Freund P.E. der "Junud al-Sham" das Fahrzeug und 7 000 € Bargeld zur Verfügung. Wenige Tage später reiste er mit seiner Familie in die Türkei zu einer Familienfeier und kehrte von dort Ende September 2013 nach Deutschland zurück. Den Kontakt zu seinen Freunden in Syrien (insbesondere zu G.F. und P.E., die seinerzeit noch der "Junud al-Sham" angehörten und später zum "ISIG" wechselten) hielt er weiterhin aufrecht. Im September 2013 besuchte er in Syrien zusammen mit I.N., einem Mitglied der "Junud al-Sham", und D.P., einem für diese Vereinigung aktiven Schleuser und Logistiker, V.R. alias X.J., ein mutmaßliches Mitglied der Vereinigung "Islamischer Staat im Irak und Großsyrien" (ISIG) - einer ebenfalls jihadistisch ausgerichteten und inzwischen in "Islamischer Staat" (IS) umbenannten terroristischen Vereinigung (s.a. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2018 - AK 4/18 - juris Rn. 14 ff.). Mit diesem ließ er sich vor einer Flagge des "ISIG" mit verschiedenen Handfeuerwaffen fotografieren. Über den inzwischen zum "ISIG" gewechselten P.E. stellte er dieser Organisation im März 2014 durch Überweisung einen Geldbetrag in Höhe von 1 550 € zur Verfügung. Zuvor hatte er von einem unbekannt gebliebenen Bekannten 1 400 € erhalten, den Rest steuerte er aus eigenen Mitteln bei. Dabei war dem Antragsteller nach den Feststellungen des Kammergerichts bewusst, dass die überlassenen Gelder und der Geländewagen von den Terrororganisationen für deren Zwecke eingesetzt, namentlich zum Ankauf von Waffen bzw. zum Transport von Kämpfern verwendet werden würden (UA S. 27 und 30). Das Strafgericht konnte weder eine geringe Schuld noch eine Mitwirkung von untergeordneter Bedeutung feststellen (UA S. 38). Auch wenn der Antragsteller der syrischen Bevölkerung helfen wollte (was sich daran zeigt, dass er Ende 2013 in Deutschland mit Unterstützung einer türkischen Hilfsorganisation eine Lieferung von Hilfsgütern im Wert von 7 000 € organisierte, die er persönlich in der syrischen Stadt Azaz verteilte), sich als gläubiger Muslim zur Unterstützung des Aufstands gegen das syrische Regime verpflichtet fühlte (UA S. 39) und nach seinem Vortrag nur oberflächliche Kenntnisse über die von ihm unterstützten Vereinigungen und deren Zielsetzung hatte (UA S. 31), waren ihm die jihadistische Ausrichtung der Vereinigung "Junud al-Sham" und deren Ziele bekannt (UA S. 30). Gleiches gilt hinsichtlich der Zwecke des "ISIG" (UA S. 31), wobei das Strafgericht hier straferschwerend berücksichtigte, dass die Überweisung an "ISIG" im März 2014 zu einem Zeitpunkt erfolgte, als diese Organisation bereits sehr medienwirksam auf ihr brutales und menschenverachtendes Vorgehen aufmerksam gemacht hatte (UA S. 40).
Rz. 28
Der Annahme eines unmittelbar vom Antragsteller ausgehenden beachtlichen Risikos im Sinne des § 58a AufenthG steht nicht entgegen, dass sich im Strafverfahren der ursprüngliche Vorwurf der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat nicht bestätigt hat, er in Deutschland bislang nicht mit Gewalttaten aufgefallen ist, seine Unterstützungsleistungen für jihadistische Organisationen auf deren Aktivitäten im syrischen Bürgerkriegsgebiet zielten und keine gesicherten Erkenntnisse darüber vorliegen, ob er während seiner Aufenthalte in Syrien Kampferfahrung erworben hat. Für eine erhebliche Radikalisierung des Antragstellers spricht, dass er bereit war, zur Erfüllung sich aus seiner radikal-salafistischen Überzeugung ergebender Pflichten sein gesamtes bisheriges bürgerliches Leben aufzugeben. Seine Überzeugung war so stark ausgeprägt, dass er aus freien Stücken seine feste Arbeitsstelle am Flughafen kündigte, sich betrügerisch einen Kredit verschaffte und Deutschland im Juni 2013 mit seiner Ehefrau und zwei Kleinkindern Richtung Syrien verließ. Dort unterstützte er mit beträchtlichen Mitteln die Terrororganisation "Junud al-Sham", deren jihadistische Ausrichtung er kannte. Auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland im September 2013 zeigte er keinerlei Einstellungs- oder Verhaltensänderung. Er behielt weiterhin Kontakt mit seinen Freunden in Syrien und unterstützte im März 2014 mit dem "ISIG" erneut in Syrien eine jihadistische Terrororganisation. Damit hat der Antragsteller nicht nur das Risiko von Anschlägen durch Mitglieder dieser beiden Terrororganisationen in Syrien erhöht. Sein Verhalten zeigt zugleich, dass er sich bis zu seiner Verhaftung im März 2014 in hohem Maße mit einer militanten, gewaltbereiten Auslegung des Islam identifizierte, die den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung radikal-islamischer Zwecke für gerechtfertigt hält. Die mit Gefahren für Leib und Leben verbundene Ausreise des Antragstellers in das syrische Bürgerkriegsgebiet zusammen mit seiner Ehefrau und den beiden gemeinsamen Kleinkindern belegt, dass er seinen Glauben über alles stellte und bereit war, für diesen nicht nur sein eigenes, sondern auch das Leben seiner Familie zu opfern. Seine mehrfachen freiwilligen Aufenthalte im syrischen Bürgerkriegsgebiet und seine engen Kontakte zu Mitgliedern jihadistischer Terrororganisationen lassen zudem eine gewisse Verrohung und Abstumpfung erwarten. Für eine den Jihad als bewaffneten Kampf bejahende Grundhaltung spricht außerdem, dass sich der Antragsteller nach den Feststellungen des Kammergerichts im September 2013 in Syrien zusammen mit einem mutmaßlichen Mitglied des "ISIG" vor einer Flagge des "ISIG" mit verschiedenen Handfeuerwaffen hat fotografieren lassen (UA S. 29). Weitere - im Ermittlungsverfahren beim früheren Mitangeklagten I. N. sichergestellte und zwischen dem 18. und dem 22. September 2013 aufgenommene - Fotos zeigen den Antragsteller mit ausgestrecktem Zeigefinger, einer in jihadistischen Kreisen verbreiteten Geste, die den islamischen Monotheismus symbolisiert und zwischenzeitlich vom "IS" vereinnahmt worden ist, mit Tarnkleidung, schwarzem Stirnband mit dem islamischen Glaubensbekenntnis und weiteren Feuerwaffen an unterschiedlichen Orten in Syrien und in der Türkei (zum Inhalt der insgesamt 75 sichergestellten Lichtbilder vgl. die Beschreibungen in der Anklageschrift vom 12. September 2014, Bl. I 146 ff. der Gefangenenpersonalakten). Dabei kann dahinstehen, ob aus der Existenz dieser Fotos - wie der Antragsgegner meint - auf eine Verwicklung des Antragstellers in Kampfhandlungen in Syrien geschlossen werden kann. Nach eigenen Angaben wollte der Antragsteller mit den Fotos nur "angeben/prahlen" und fand dies seinerzeit "cool", was jedenfalls auf eine gewisse Affinität zu Waffen hindeutet. Zudem räumt er ein, dass in Syrien "jeder" eine Waffe getragen habe (vgl. die Wiedergabe seiner Angaben im psychologischen Fachbeitrag der JVA vom 18. Dezember 2015, Bd. VII der Gefangenenpersonalakten und die Bezugnahme hierauf in der Stellungnahme des Leiters der JVA B. vom 5. Februar 2016, Bd. 1 Teil 1 Bl. 61 ff. der Vollstreckungsakten). Dies spricht dafür, dass auch er während seiner Aufenthalte im syrischen Bürgerkriegsgebiet bewaffnet war, was aber nur Sinn macht, wenn er mit der Waffe im Ernstfall auch umgehen konnte. Der Umstand, dass sich der Antragsteller in Syrien zusammen mit einem mutmaßlichen Mitglied des "ISIG" vor einer Fahne des "ISIG" mit verschiedenen Handfeuerwaffen hat ablichten lassen und nach den im Ermittlungsverfahren sichergestellten Lichtbildern offenbar auch in der Türkei Zugriff auf Waffen hatte, ist zugleich ein gewichtiges Indiz für eine generelle, nicht lediglich auf den Schutz der syrischen Bevölkerung im syrischen Bürgerkriegsgebiet beschränkte Identifikation des Antragstellers mit der gewaltbereiten Auslegung des Islam durch jihadistische Organisationen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die vom Antragsteller unterstützte Terrororganisation "ISIG" mit der zwischenzeitlichen Ausrufung des Kalifats und ihrer Umbenennung in "IS" ihre territoriale Beschränkung aufgegeben hat (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2018 - AK 4/18 - juris Rn. 14 ff.) und inzwischen weltweit zur Verübung jihadistischer Anschläge aufruft. In diesem Zusammenhang wertet der Senat im Übrigen die Einlassung des Antragstellers, er habe die Fahne seinerzeit nicht als Flagge des "ISIG" angesehen und sei auch über die symbolische Geste des ausgestreckten Zeigefingers erst im Strafverfahren aufgeklärt worden, angesichts seiner tiefen Verwurzelung in die islamistische Szene als nicht glaubhafte Schutzbehauptung.
Rz. 29
Die vom Antragsteller bei seiner Verhaftung aufgrund seiner radikal-salafistischen Einstellung und der darauf beruhenden Unterstützung zweier jihadistischer Terrororganisationen ausgehende Gefährlichkeit entfällt nicht aufgrund einer zwischenzeitlichen Abwendung des Antragstellers vom radikalen Islam als ideologischer Grundlage und Rechtfertigung für die Begehung schwerer Gewaltstraftaten. Denn der Senat hat erhebliche Zweifel an der Glaubhaftigkeit der vom Antragsteller behaupteten Deradikalisierung in der Haft.
Rz. 30
Der Antragsteller hat sich zwar im Strafverfahren umfänglich geständig eingelassen (Urteil des Kammergerichts Berlin vom 6. Juli 2015, UA S. 30 und 39) und in seinem letzten Wort eine für das Kammergericht glaubhafte Abkehr von seiner radikalen Einstellung erklärt (a.a.O. UA S. 40). Auch in der Haft hat er sich verbal vom bewaffneten Jihad distanziert (vgl. die Wiedergabe seiner Angaben im psychologischen Fachbeitrag der JVA vom 18. Dezember 2015, Bd. VII der Gefangenenpersonalakten). Sein Verhalten in der Strafhaft war nach den bei den Vollstreckungsakten befindlichen Äußerungen des Leiters der JVA B. "hausordnungsgemäß/beanstandungsfrei" (vgl. u.a. die Stellungnahmen des Leiters der JVA B. vom 15. Mai 2017, Bd. 1 Teil 3 Bl. 502 ff. der Vollstreckungsakten und vom 24. April 2017, Bd. 1 Teil 3 Bl. 473 ff. der Vollstreckungsakten). Es gab auch keine Auffälligkeiten im Hinblick auf seine religiöse Einstellung (vgl. Vollzugsplanfortschreibung Nr. 3 vom 28. März 2018, Bd. 1 Teil 3 Bl. 482 ff. der Vollstreckungsakten). In der Haft nahm der Antragsteller von März bis Dezember 2016 an einer Einzeltherapie bei einem externen Therapeuten teil; von Ende Juli 2016 bis Januar 2017 führte er regelmäßig und hochfrequent Gespräche mit Mitarbeitern der Beratungsstelle "Violence Prevention Network" (VPN) und absolvierte dort erfolgreich einen Antigewalt- und Kompetenztrainingskurs (vgl. Stellungnahme des Leiters der JVA B. vom 15. Mai 2017, Bd. 1 Teil 3 Bl. 502 ff. der Vollstreckungsakten und Anlage A 3 zum Schriftsatz des Antragstellers vom 15. April 2018). Die pädagogischen Mitarbeiter von VPN bestätigen in mehreren Stellungnahmen eine Abwendung des Antragstellers vom radikalen Islam und dem bewaffneten Jihad und gehen davon aus, dass er sich nicht mit der "IS"-Ideologie oder ähnlichen Ideologien identifiziert habe (vgl. Fax vom 8. September 2016, Bd. 1 Teil 2 Bl. 335 der Vollstreckungsakten, Stellungnahmen vom 25. Januar 2017, Bl. 6 der Behördenakten und vom 9. Mai 2017, Bd. 1 Teil 3 Bl. 481 der Vollstreckungsakten, jeweils ohne Briefkopf und Unterschrift). Diese Einschätzung beruht allerdings allein auf verbalen Äußerungen des Antragstellers. Auch der den Antragsteller therapierende Psychologe vermutet, dass die Ursachen der Delinquenz weniger in radikal-religiösen Einstellungen und Überzeugungen als vielmehr in den selbstunsicheren Persönlichkeitsanteilen des Antragstellers zu lokalisieren sind (vgl. Therapiebericht des Dipl. Psych. Z. E. vom 17. August 2016, Bd. 1 Teil 2 Bl. 337 der Vollstreckungsakten). Diese Einschätzung wird aber dadurch relativiert, dass er in seinem Abschlussbericht ausdrücklich darauf hinweist, dass im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung eine Auseinandersetzung mit einer möglicherweise vorhandenen problematischen religiösen Überzeugung aufgrund der Zusammenarbeit des Antragstellers mit VPN eingestellt worden ist (vgl. Abschlussbericht des Dipl. Psych. Z. E. vom 14. Dezember 2016, Bd. 1 Teil 3 Bl. 363 f. der Vollstreckungsakten).
Rz. 31
Bei der Frage einer möglichen Deradikalisierung oder eines nur aus taktischen Gründen angepassten Verhaltens in der Haft ist auch das sonstige Aussageverhalten im Strafverfahren zu berücksichtigen. Denn der Antragsteller hat im Strafverfahren nur bruchstückhafte Angaben zu weiteren Personen aus dem Umfeld der Vereinigung "Junud al-Sham" und zum früheren Mitangeklagten I. N. gemacht (Urteil des Kammergerichts Berlin vom 6. Juli 2015, UA S. 31). Soweit er dies im vorliegenden Verfahren mit der Befürchtung einer möglichen Bedrohung zu rechtfertigen versucht, dürfte es sich um eine Schutzbehauptung handeln. Dessen ungeachtet hat er durch sein strafprozessual legitimes Aussageverhalten objektiv die Brücken für eine Rückkehr in die radikal-salafistische Szene nicht zerstört und könnte seine Kontakte dorthin nach Haftentlassung ohne Weiteres reaktivieren. Er gilt in der Szene nicht als Verräter, sondern hat im Gegenteil durch die abgeurteilten Straftaten und die verbüßte Strafhaft Anerkennung erworben (vgl. Kammergericht Berlin, Beschluss vom 28. Dezember 2016, Bd. 1 Teil 3 Bl. 380 ff. der Vollstreckungsakten). Dies zeigt sich auch daran, dass er nach den Erkenntnissen des LKA Hessen in der Haft über mehrere Monate hinweg (von Juni bis November 2014) von D. V. (nach eigenen Angaben unerwünschte) Briefe mit Koranauszügen und Hadithen erhielt, in denen die Haftstrafe des Antragstellers als göttliche Prüfung interpretiert wird, um eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Haftstrafe zu verhindern. D. V. gehörte nach den Erkenntnissen des LKA Hessen dem 2015 vom Bundesminister des Innern verbotenen salafistischen Unterstützungsnetzwerk "Ansarul-Aseer" an, das bundesweit in Kontakt mit salafistischen Gefangenen stand (vgl. Stellungnahme des LKA Hessen vom 15. Mai 2017, Bd. 1 Teil 3 Bl. 504 ff. der Vollstreckungsakten). Im Mai 2016 empfing der Antragsteller nach den Erkenntnissen des LKA Hessen ein ähnliches Schreiben von Ph. E., die nachweislich Kontakt zu Personen in Syrien pflegte und Kontaktperson zu einer des Mordes und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland verdächtigen Person war (vgl. Stellungnahme des LKA Hessen vom 15. Mai 2017, Bd. 1 Teil 3 Bl. 504 ff. der Vollstreckungsakten).
Rz. 32
Gegen eine glaubhafte Deradikalisierung des Antragstellers in der Haft spricht vor allem, dass er dort ausweislich der Gefangenenpersonalakten in Kontakt mit dem Mitgefangenen P. G. stand, einem in der salafistischen Szene auftretenden konvertierten Gewalttäter. Dieser sieht sich selbst als eine Art "Pierre Vogel" und will wie dieser islamistische Hassprediger "missionieren" (vgl. Protokoll der Vollzugsplankonferenz zu P. G. vom 8. Juni 2017, Bl. 328 ff. der Verwaltungsakten). Dass es sich hierbei nicht lediglich um eine in der Haft unvermeidbare gelegentliche Begegnung zwischen Mitgefangenen handelte, sondern beide Gefangene eine persönliche Beziehung verband, zeigt sich insbesondere daran, dass der Antragsteller noch im Oktober 2016 bei P. G. Eheschließung Trauzeuge war (Bl. 327 der Verwaltungsakten). Auch hat ihm P. G. im Juni 2017 als Freigänger einen - von der Anstaltsleitung zurückgehaltenen - persönlichen Brief mit religiösen Durchhalteparolen geschrieben (Bl. 332 der Verwaltungsakten: "... mein Herz blutet nur wenn ich an meine leidenden Geschwister denke. Bleibe weiterhin geduldig und standhaft, Allah verkündet den Standhaften Heil"). Außerdem wurde beim Antragsteller bei einer Haftraumkontrolle im August 2017 in einer selbstverfassten handschriftlichen Aufstellung seiner Kontaktdaten nicht nur eine P. G. zugeordnete Privatanschrift, sondern auch ein Hinweis auf D. B. festgestellt (Bl. 345 der Verwaltungsakten). Bei diesem handelt es sich nach - vom Antragsteller nicht bestrittenen - Erkenntnissen des Antragsgegners um einen Gefährder mit paramilitärischer Ausbildung bei der terroristischen Vereinigung "Islamische Jihad Union" (IJU), der an jihadistischen Kampfhandlungen in Afghanistan gegen dort stationierte US-amerikanische Truppen teilgenommen und nachweislich eine gewaltbereite Person an die IJU vermittelt haben soll. Dass der E-Mail-Eintrag für D. B. so nicht stimmen kann ("D. B....outlook@de"), erklärt nicht, warum sich der Name überhaupt bei den Kontaktdaten des Antragstellers befand. Zudem gab es aus Sicht der Anstaltsleitung in der Haft zwar keine Auffälligkeiten im Hinblick auf das religiöse Verhalten des Antragstellers, gleichwohl aber Hinweise aus dem Kreis der Gefangenen, die darauf hindeuten, dass er sich nicht von seiner radikalen Einstellung abgewandt hat (vgl. VG Gießen, Beschluss vom 29. Mai 2017, BA S. 9 unter Hinweis auf eine Stellungnahme des Leiters der JVA B. gegenüber der Ausländerbehörde vom 16. Dezember 2016, Bl. 31 der Behördenakten).
Rz. 33
Aufgrund der offenbar nicht abgebrochenen Kontakte des Antragstellers in der Haft zu anderen - gewaltbereiten - Islamisten ist für die Prognose davon auszugehen, dass seiner verbalen Distanzierung keine echte innere Abkehr, sondern nur ein aus taktischen Gründen angepasstes Haftverhalten zugrunde liegt, durch das er die deutschen Behörden und Gerichte von seiner (fortbestehenden) Radikalisierung und Gefährlichkeit ablenken will. In diesem Sinne ist dem Antragsteller schon vor seiner Verhaftung Anfang März 2014 telefonisch empfohlen worden, wegen einer möglichen Observation "Vorsichtsmaßnahmen" zu ergreifen und seine Haare zu kürzen, "drin nütze er gar nichts, er werde draußen gebraucht" (zum Inhalt dieses Telefongesprächs vgl. die Ausführungen in der Anklageschrift vom 12. September 2014, Bl. I 155 der Gefangenenpersonalakten). Ein derartiges Verbergen bzw. Verschleiern der wahren Religion bzw. Ideologie ist Gläubigen im Islam aus Sicherheitsgründen nach dem Prinzip der Taqiya (Verstellung) erlaubt und wird im jihadistischen Salafismus zur Irreführung (angeblicher) Feinde des Islam bewusst eingesetzt (vgl. Islamwissenschaftliche Kurzbeschreibung der islamisch legitimierten Täuschung des Gegners des LKA Hessen vom 9. März 2018, Bl. 346 der Verwaltungsakten). In diese Richtung deutet auch eine Äußerung des Antragstellers in der Haft gegenüber dem psychologischen Dienst, er wolle nicht mehr als radikal "angesehen" werden und würde deshalb keinen langen Bart mehr tragen (vgl. die Wiedergabe seiner Angaben im psychologischen Fachbeitrag der JVA vom 18. Dezember 2015, Bd. VII der Gefangenenpersonalakten).
Rz. 34
Dieser Einschätzung durch den Senat steht nicht entgegen, dass das Kammergericht Berlin - in seinem Urteil vom 6. Juli 2015 und auch noch in seinem Beschluss vom 27. Juli 2017 (Bl. 124 der Behördenakten) zur Führungsaufsicht nach Haftentlassung - von einer glaubhaft bekundeten Abkehr des Antragstellers von seiner radikalen Einstellung ausgegangen ist. Denn dem Kammergericht war - vor allem bei seiner letzten Entscheidung vom Juli 2017 - offenbar nicht bekannt, dass der Antragsteller in der Haft seine Kontakte zu anderen - gewaltbereiten - Islamisten nicht abgebrochen hat. Vielmehr ist es - noch bei seiner Entscheidung vom Juli 2017 - davon ausgegangen, dass der Antragsteller auf mehrere Kontaktversuche aus islamistischen Kreisen weiterhin nicht reagiert habe (BA S. 6). Dass dem Kammergericht die Verbindungen des Antragstellers zu P. G. und D. B. nicht bekannt waren, zeigt sich schon daran, dass es im Rahmen der Führungsaufsicht nicht auch ein Kontaktverbot zu diesen beiden Personen ausgesprochen hat.
Rz. 35
Nichts anderes gilt für die Einschätzungen der den Antragsteller in der Haft psychologisch und pädagogisch begleitenden Personen. Der nicht abgebrochene Kontakt des Antragstellers in der Haft zu anderen - gewaltbereiten - Islamisten relativiert insbesondere den allein auf die verbal bekundete Abkehr gestützten Rückschluss der Mitarbeiter von VPN auf eine fehlende Identifizierung des Antragstellers mit der "IS"-Ideologie und ähnlichen Ideologien. Im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung des Antragstellers erfolgte schon keine Auseinandersetzung mit einer möglicherweise vorhandenen problematischen religiösen Überzeugung.
Rz. 36
Im Übrigen hat auch das Kammergericht Berlin - obwohl der Antragsteller erstmals strafrechtlich in Erscheinung getreten war und sich zum ersten Mal in Haft befand - im Dezember 2016 eine vorzeitige Haftentlassung mangels positiver Prognose abgelehnt (vgl. Beschluss des Kammergerichts vom 28. Dezember 2016 zur Ablehnung des Antrags auf Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung nach § 57 StGB, Bd. 1 Teil 3 Bl. 380 der Vollstreckungsakten). Dass es dabei zu Lasten des Antragstellers berücksichtigt hat, dass ihm aufgrund der ergangenen Ausweisungsverfügung keine Vollzugslockerungen gewährt worden waren, ändert nichts an der Richtigkeit seiner Prognose. Eine weitere Entscheidung des Kammergerichts über eine vorzeitige Freilassung erledigte sich im Juli 2017, nachdem dem Antragsteller eine erneute Ablehnung signalisiert worden war (Bd. 2 Teil 1 Bl. 31 ff. der Vollstreckungsakten). Das Kammergericht sah die Gefahr eines Rückfalls auch noch nach vollständiger Verbüßung der Strafe und erteilte dem Antragsteller im Rahmen der Führungsaufsicht zahlreiche Weisungen nach § 68b StGB einschließlich eines Betretungsverbots für die vom Antragsteller vor seiner Verhaftung besuchte E. Moschee in Frankfurt und Kontaktverboten mit drei der salafistischen Szene zuzuordnenden Personen, von denen das Gericht eine negative Beeinflussung des Antragstellers befürchtete (D. V., Ph. E. und E. I.; vgl. Beschluss des Kammergerichts vom 23. Februar 2017, Bd. 2 Teil 1 Bl. 39 der Vollstreckungsakten). Ohne eine nachhaltige Verhaltensänderung und tatsächliche Distanzierung in Freiheit ist daher gefahrenabwehrrechtlich weiterhin von einem beachtlichen Risiko auszugehen. Dies gilt umso mehr, als es sich beim Antragsteller nach Einschätzung des psychologischen Dienstes vom 18. Dezember 2015 (Bd. VII der Gefangenenpersonalakten) um eine eher naive, leichtgläubige und dadurch leicht beeinflussbare Persönlichkeit handelt. Auch der den Antragsteller therapierende Psychologe bescheinigte ihm im August 2016 eine nicht abgeschlossene Persönlichkeitsentwicklung und eine deutliche Naivität zum Deliktzeitpunkt (Therapiebericht des Dipl.-Psych. Z. E. vom 17. August 2016, Bd. 1 Teil 2 Bl. 337 der Vollstreckungsakten). In seinem Abschlussbericht vom Dezember 2016 stellt er zwar eine Nachreifung fest, empfiehlt aber gleichzeitig eine Wiederaufnahme der psychotherapeutischen Begleitung beim Übergang aus dem Vollzug in das Alltagsleben (Bd. 1 Teil 3 Bl. 363 der Vollstreckungsakten).
Rz. 37
Das Risiko eines terroristischen Anschlags durch oder unter Beteiligung des Antragstellers ist nach Überzeugung des Senats auch nicht dadurch entscheidungserheblich verringert, dass er nach seiner Entlassung zu seiner Familie zurückkehren könnte. Denn er hat sich aus diesen bürgerlichen Lebensverhältnissen heraus innerhalb kurzer Zeit radikalisiert. Die Ehefrau des Antragsstellers, die dieser selbst als "sehr religiös" bezeichnet (vgl. die Wiedergabe seiner Angaben im psychologischen Fachbeitrag der JVA vom 18. Dezember 2015, Bd. VII der Gefangenenpersonalakten) - war bereit, ihn mit den gemeinsamen Kindern in das syrische Bürgerkriegsgebiet zu begleiten, und stand in Kontakt mit Frauen sich dort aufhaltender Kämpfer und Sympathisanten der "Junud al-Sham" (Urteil des Kammergerichts Berlin vom 6. Juli 2015, UA S. 27), was für eine mit dem Antragsteller übereinstimmende Ideologisierung spricht. Auch seine - offenbar gemäßigten (UA S. 3) - Eltern konnten ein Abgleiten des Antragstellers in den radikalen Islam und seine Reisen nach Syrien nicht verhindern. Damit ist eine stabilisierende Wirkung der Familie in ideologischer Hinsicht zumindest zweifelhaft (s.a. Kammergericht Berlin, Beschluss vom 28. Dezember 2016, Bd. 1 Teil 3 Bl. 380 ff. der Vollstreckungsakten).
Rz. 38
Damit ergibt sich in der Gesamtschau der den Antragsteller betreffenden Erkenntnisse, insbesondere seiner Persönlichkeit, seines Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren Einstellung und seiner Verbindungen zu Mitgliedern jihadistisch ausgerichteter Terrororganisationen und anderen radikal-islamischen Personen nicht lediglich eine radikal-religiöse Einstellung. Vielmehr ist angesichts der nicht gänzlich abgebrochenen Kontakte des Antragstellers zu gewaltbereiten Islamisten, seinen durch seine Aufenthalte in Syrien gewonnenen Erfahrungen und seiner charakterlichen Disposition konkret zu besorgen, dass er (weiterhin) bereit ist, seiner fortbestehenden radikal-islamischen Überzeugung auch durch gewaltsame und terroristische Taten Ausdruck zu verleihen. Dieses Risiko kann sich ohne großen Vorbereitungsaufwand jederzeit realisieren. Dass es bislang noch nicht zu einer derartigen Tat gekommen ist und den Sicherheitsbehörden keine Hinweise für einen konkreten Anschlagsplan vorliegen, mindert das Risiko nicht. Der Senat verkennt dabei nicht, dass sowohl hinsichtlich der vom Antragsteller vor seiner Inhaftierung ausgehenden Gefährlichkeit als auch hinsichtlich der von ihm behaupteten Deradikalisierung in der Haft auch eine andere Deutung der festgestellten Tatsachen möglich ist. Die für einen in überschaubarer Zukunft drohenden Terroranschlag unter Mitwirkung des Antragstellers sprechenden tatsächlichen Anhaltspunkte und Gründe sind in der Gesamtschau aber mindestens ebenso gewichtig wie die möglicherweise für eine gegenteilige Prognose sprechenden Gründe. Dies reicht nach dem dargelegten Maßstab aus für das im Rahmen des § 58a AufenthG erforderliche, aber auch ausreichende beachtliche Risiko.
Rz. 39
Der Senat kann zu dieser bewertenden Gesamtschau gelangen, ohne auf das vom Bundeskriminalamt entwickelte Risikobewertungsinstrument RADAR-iTE (Regelbasierte Analyse potentiell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos - islamistischer Terrorismus - dazu Pressemitteilung des Bundeskriminalamts vom 2. Februar 2017) oder vergleichbare Instrumente zur Risiko- bzw. Gefährlichkeitseinschätzung (s. dazu Rettenberger, Die Einschätzung der Gefährlichkeit bei extremistischer Gewalt und Terrorismus, Kriminalistik 2016, 532) zurückgreifen zu müssen. Derartige Instrumente können bei Beachtung ihrer methodischen Anwendungsvoraussetzungen und unter Berücksichtigung der Grenzen ihrer Aussagekraft für eine erste Risikoeinschätzung nützlich und hilfreich sein und etwa die sicherheitsbehördliche Entscheidung über das Ob und den Umfang zu treffender Maßnahmen unterstützen; es handelt sich aber nicht um Instrumente, deren Einsatz notwendige Voraussetzung der gebotenen gerichtlichen Gesamtschau ist. Auch bei RADAR-iTE handelt es sich lediglich um ein Instrument zur strukturierten Erhebung der für eine Gefährdungsprognose relevanten Tatsachen, das der Priorisierung der polizeilichen Arbeit dient, eine eigenständige Gefahrenbewertung durch die Polizeibehörden aber nicht ersetzt (BVerwG, Urteil vom 27. März 2018 - 1 A 5.17 - Rn. 51).
Rz. 40
c) Die Abschiebungsanordnung steht - bei unterstellter Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) - im Einklang mit dem Unionsrecht. Eine Frist zur freiwilligen Ausreise musste dem Antragsteller nach Unionsrecht wegen der von ihm ausgehenden Gefahr der Begehung einer terroristischen Gewalttat nicht eingeräumt werden (Art. 7 Abs. 4 Richtlinie 2008/115/EG; vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 35).
Rz. 41
d) Der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung steht auch nicht entgegen, dass der Antragsgegner mit der Abschiebungsanordnung keine Ausnahme nach § 11 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf das nach nationalem Recht mit dem Vollzug einer Abschiebungsanordnung entstehende Einreise- und Aufenthaltsverbot zugelassen hat. In diesem Zusammenhang bedarf keiner Entscheidung, ob und inwieweit die Regelung in § 11 Abs. 1, 2 und 5 AufenthG, wonach bei jeder Abschiebung kraft Gesetzes ein Einreise- und Aufenthaltsverbot eintritt, das von der Ausländerbehörde beim Vollzug einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG nicht befristet werden darf, solange die oberste Landesbehörde nicht im Einzelfall eine Ausnahme zulässt, für die hier gegenständliche Fallkonstellation einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG an der Richtlinie 2008/115/EG zu messen und mit dieser ggf. zu vereinbaren ist. Dies hängt u.a. davon ab, ob die Richtlinie auch ein Einreiseverbot erfasst, das - wie hier - nicht im Zusammenhang mit einer Rückführung wegen Verletzung geltender Migrationsbestimmungen steht, sondern der Sache nach an eine Abschiebungsanordnung zum Schutze der öffentlichen Sicherheit wegen der von einem Drittstaatsangehörigen ausgehenden Gefahr eines jederzeit möglichen Terroranschlags anknüpft. Hierbei könnte es sich auch um ein neben der Rückführungsrichtlinie zulässiges nationales Einreiseverbot zu nicht migrationsbedingten Zwecken handeln (vgl. hierzu die Ausführungen des Senats im Verweisungsbeschluss vom 22. August 2017 - 1 A 10.17 - NVwZ 2018, 345 m.w.N. und der neuerliche Hinweis in der Empfehlung ≪EU≫ 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames "Rückkehr-Handbuch" ≪ABl. L 339 S. 83, 124≫, die von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist).
Rz. 42
Diese Frage ist hier aber nicht entscheidungserheblich. Denn es geht im vorliegenden Verfahren um die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung, die nach nationalem Recht nicht mit einem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot verbunden ist. Soweit der Antragsgegner mit der Abschiebungsanordnung auf das in diesen Fällen nach nationalem Recht mit einer Abschiebung verbundene unbefristete Einreise- und Aufenthaltsverbot hingewiesen und hiervon keine Ausnahme zugelassen hat, würde auch eine fehlerhafte behördliche Entscheidung zur Dauer des Einreiseverbots nicht zur Rechtswidrigkeit oder Nichtvollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung führen, da unionsrechtlich ein Einreiseverbot zwar im Zusammenhang mit einer Rückkehrentscheidung angeordnet wird (vgl. Art. 11 Abs. 1a Richtlinie 2008/115/EG: "gehen... einher"), aber gleichwohl eine eigenständige Entscheidung darstellt, die gesondert anfechtbar ist (vgl. Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 36). Ausgehend davon lassen sich der Richtlinie Anhaltspunkte für einen "Rechtswidrigkeitszusammenhang" zwischen dem Einreiseverbot und seiner Befristung einerseits und der Rückkehrentscheidung andererseits nicht entnehmen.
Rz. 43
e) Die Abschiebungsanordnung ist weder ermessensfehlerhaft noch unverhältnismäßig. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner dem öffentlichen Interesse an der Abwehr der von dem Antragsteller ausgehenden terroristischen Gefahr ein höheres Gewicht beimisst als dessen Interesse am Verbleib in Deutschland. Der Schutz der Allgemeinheit vor Terroranschlägen gehört zu den wichtigsten öffentlichen Aufgaben und kann auch sehr weitreichende Eingriffe in die Rechte Einzelner rechtfertigen (BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1973 - 1 BvR 23/73, 1 BvR 155/73 - BVerfGE 35, 382 ≪402 f.≫; Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09 u.a. - BVerfGE 141, 220 Rn. 96, 132). Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 58a AufenthG vor, hat die oberste Landesbehörde zu prüfen, ob sie eine Abschiebungsanordnung erlässt oder ggf. anderweitige Maßnahmen durch die Ausländerbehörde - etwa der Erlass einer sofort vollziehbaren Ausweisung nebst Abschiebungsandrohung - oder Maßnahmen auf der Grundlage des Strafrechts oder des allgemeinen Polizeirechts ausreichen (Entschließungsermessen); ein Auswahlermessen kommt hingegen nur bei mehreren möglichen Zielstaaten in Betracht, was hier nicht der Fall ist (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 39).
Rz. 44
Vorliegend hat die oberste Landesbehörde ihr Entschließungsermessen fehlerfrei dahingehend ausgeübt, dass andere im Aufenthaltsgesetz vorgesehene Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung oder sonstige gefahrenabwehrrechtliche Möglichkeiten nicht ausreichen, um der besonderen vom Antragsteller ausgehenden Gefahr wirksam zu begegnen. Dies ist unter den hier gegebenen Umständen angesichts der an anderer Stelle festgestellten Bereitschaft des Antragstellers zur Begehung oder Mitwirkung an einem mit einfachsten Mitteln jederzeit realisierbaren Terroranschlags in Deutschland, der momentan nicht möglichen Vollziehung der gegen ihn bereits ergangenen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, der auf der Grundlage dieser Maßnahmen nicht weiter verlängerbaren Haft zur Sicherung der Abschiebung und der allenfalls begrenzten Wirksamkeit auch aufwändigerer Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen nicht zu beanstanden (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - InfAuslR 2018, 11 Rn. 40). Nichts anderes gilt - entgegen der Auffassung des Antragstellers - für die vom Kammergericht Berlin im Rahmen der Führungsaufsicht nach § 68b StGB angeordneten Weisungen.
Rz. 45
Der Antragsgegner hat bei seiner Entscheidung die persönlichen Umstände hinreichend berücksichtigt. Er hat insbesondere die Verwurzelung des in Deutschland geborenen und hier aufgewachsenen und vor seiner Inhaftierung in die hiesigen Lebensverhältnisse integrierten Antragstellers sowie die familiären Bindungen zu seiner Ehefrau und den beiden - die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden - Kindern gewürdigt. Dass sich der Antragsgegner dennoch für eine Aufenthaltsbeendigung entschieden hat, ist angesichts der vom Antragsteller ausgehenden besonderen Gefahr eines jederzeit möglichen Terroranschlags auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig. Aus den sich hieraus ergebenden verfassungs- und menschenrechtlichen Vorgaben folgt kein uneingeschränkter Anspruch eines Ausländers auf Aufenthalt im Bundesgebiet. Stehen seinem (weiteren) Aufenthalt - wie hier - öffentliche Belange entgegen, bedarf es einer Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, bei der die besonderen Umstände des Einzelfalls und die familiären Belange in angemessener Weise und mit dem ihnen zukommenden Gewicht zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. September 2013 - 10 B 14.13 - Buchholz 402.242 § 30 AufenthG Nr. 7 Rn. 4 f. m.w.N. aus der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR). Danach ist der Familie eine Trennung und dem Antragsteller eine Eingliederung in die Lebensverhältnisse seines Heimatstaats möglich und zumutbar. Er ist in einem arbeitsfähigen Alter, der türkischen Sprache mächtig und verfügt nach Aktenlage in der Türkei über verwandtschaftliche Beziehungen.
Rz. 46
Die Abschiebungsanordnung ist auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil sie nach deutscher Rechtslage - deren Vereinbarkeit mit Unionsrecht allerdings noch nicht abschließend geklärt ist - im Falle einer Abschiebung mit einem grundsätzlich unbefristeten Fernhalten vom Bundesgebiet verbunden ist (§ 11 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 und 5 AufenthG) und der Antragsgegner von einer möglichen Ausnahme abgesehen hat. Auch in diesem Zusammenhang kann dahinstehen, ob und in welchem zeitlichen Rahmen der Antragsteller im Falle einer Abschiebung einem Einreise- und Aufenthaltsverbot unterliegt. Denn auch der Adressat einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG kann jedenfalls eine nachträgliche Aufhebung oder Verkürzung eines - aufgrund behördlicher Anordnung oder kraft Gesetzes - mit der Abschiebung entstandenen Einreise- und Aufenthaltsverbots erreichen, wenn er glaubhaft darlegen kann, dass von ihm aufgrund einer nachhaltigen Änderung seines Verhaltens keine Gefahr mehr ausgeht. Eine spätere Wiedereinreise des Antragstellers in das Bundesgebiet zum Zwecke der Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet ist mithin nicht ausgeschlossen.
Rz. 47
2. Dem Vollzug der Abschiebungsanordnung stehen - bei Beachtung der vom Senat im Tenor festgesetzten Maßgaben - auch keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote entgegen. Das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG hindert den Erlass einer Abschiebungsanordnung nicht, es führt aber dazu, dass der Betroffene nicht in diesen Staat abgeschoben werden darf (§ 58a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 59 Abs. 2 und 3 AufenthG in entsprechender Anwendung). Aus diesem Grund hat die zuständige Behörde beim Erlass einer Abschiebungsanordnung in eigener Verantwortung zu prüfen, ob der beabsichtigten Abschiebung ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG entgegensteht. Dies umfasst sowohl die Frage, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz als Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) oder als subsidiär Schutzberechtigter (§ 60 Abs. 2 AufenthG) vorliegen, als auch die Prüfung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.
Rz. 48
a) Für eine Verfolgung des Antragstellers wegen dessen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG liegen keine Anhaltspunkte vor. Eine etwaige Bestrafung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder terroristischer Betätigung stellt grundsätzlich keine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG dar. Soweit der Antragsteller im Asylverfahren geltend gemacht hat, gegen ihn werde aufgrund eines offensichtlich manipulierten Strafvorwurfs ermittelt und sei inzwischen zu Unrecht Anklage wegen Mitgliedschaft bei "Al-Qaida" erhoben worden, hat er hierzu im vorliegenden Verfahren auf Aufforderung zwar ein 69 Seiten umfassendes Schriftstück in türkischer Sprache vorgelegt. Bei unterstellter Richtigkeit der behaupteten und vom Antragsgegner nicht bestrittenen Anklage fehlt es aber an näheren Darlegungen, warum der gegen ihn in der Türkei erhobene Strafvorwurf nur vorgeschoben ist und in Wahrheit an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund anknüpft.
Rz. 49
Im Übrigen steht der Berufung auf ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG auch § 60 Abs. 8 AufenthG entgegen. Danach findet § 60 Abs. 1 AufenthG - in Umsetzung der Ausnahme vom Refoulement-Verbot des Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GK -) und im Einklang mit Art. 21 Abs. 2 Anerkennungs-RL 2011/95/EU - keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist (Satz 1). Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer - in Umsetzung der Ausschlussgründe des Art. 1 F GK und des Art. 12 Abs. 2 Anerkennungs-RL 2011/95/EU - die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt (Satz 2). Danach ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er (1.) ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen, (2.) vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder (3.) den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Satz 1). Dies gilt auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (Satz 2).
Rz. 50
Diese Voraussetzungen liegen hier mit der Verurteilung des Antragsstellers wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Betrug, dem dieser Verurteilung zugrunde liegenden Verhalten des Antragstellers und der - nach dem Vorstehenden - von ihm weiterhin ausgehenden Gefahr der Begehung oder Mitwirkung an einem terroristischen Anschlag unzweifelhaft vor (vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 4. September 2012 - 10 C 13.11 - BVerwGE 144, 127 Rn. 26 zur Erfüllung des Ausschlusstatbestands des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. Satz 2 AsylG bei logistischen Unterstützungshandlungen von hinreichendem Gewicht, und Beschluss vom 21. März 2017 - 1 VR 2.17 - juris Rn. 41 zur Ausnahme vom Refoulement-Verbot, wenn vom Ausländer eine terroristische Gefahr ausgeht).
Rz. 51
b) Dem Antragsteller droht bei Beachtung der im Tenor festgesetzten Maßgaben im Falle einer Abschiebung in die Türkei auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG in Verbindung mit § 4 Abs. 1 AsylG und/oder eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Er muss zwar möglicherweise wegen der in der Türkei gegen ihn erhobenen Anklage und/oder der zu seiner Abschiebung in die Türkei führenden Gründe bei Rückführung mit seiner Inhaftierung rechnen. Ihm droht deswegen aber weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (aa) noch Folter oder eine andere gegen § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG oder gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung (bb). Eine im Falle einer Inhaftierung allein wegen der Überfüllung türkischer Haftanstalten nach dem Putsch vom Juli 2016 und der damit allgemein einhergehenden Haftbedingungen gegen § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG oder gegen Art. 3 EMRK verstoßende Unterbringung kann durch eine entsprechende Zusicherung einer türkischen Regierungsstelle ausgeräumt werden (cc).
Rz. 52
aa) Dem Antragsteller droht in der Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe. Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft. Zwar gibt es seit dem Putschversuch vom Juli 2016 eine Debatte um die Wiedereinführung der Todesstrafe (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Februar 2017 S. 24). Welchen Ausgang diese Debatte haben wird, ist derzeit aber nicht erkennbar.
Rz. 53
bb) Dem Antragsteller droht in der Türkei auch nicht wegen Verdachts der Mitgliedschaft in einer islamistisch-extremistischen terroristischen Vereinigung oder wegen der zu seiner Abschiebung führenden Gründe Folter oder eine andere unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen werden Anhänger der Terrororganisation "Islamischer Staat" in der Türkei strafrechtlich verfolgt (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das BVerwG vom 5. September 2017). Nichts anderes dürfte für Anhänger oder Mitglieder der Terrororganisation "Al-Qaida" oder anderer islamistisch-extremistischer Terrororganisationen gelten. Dabei geht der Senat davon aus, dass eine Strafverfolgung des Antragstellers bei Abschiebung in die Türkei auch wegen seiner Aktivitäten außerhalb der Türkei möglich erscheint. Was die Konsequenzen einer Inhaftierung anbetrifft, liegt aber keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür vor, dass ihm in der Haft oder im Polizeigewahrsam als Islamist und wegen der von ihm in diesem Zusammenhang begangenen Straftaten eine gegen § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG oder gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung droht (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 7.17 - NVwZ 2017, 1798 Rn. 51).
Rz. 54
Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes ist es der türkischen Regierung bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung im Rahmen einer "Null-Toleranz-Politik" vollständig zu unterbinden. Von Übergriffen betroffen sind vor allem Personen, denen eine Beteiligung am Putschversuch vom Juli 2016 vorgeworfen wird, sowie Anhänger der PKK. Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass es systematische Folter gibt, auch gibt es keine offizielle Abweichung von der "Null-Toleranz-Politik" (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Februar 2017 S. 23). Amnesty International weist darauf hin, dass weiterhin Fälle von Folter und anderen Misshandlungen, insbesondere im Polizeigewahrsam gemeldet würden, inzwischen allerdings in deutlich geringerem Maße als in den Wochen nach dem Putschversuch (AI Report Türkei 2017/2018 vom 22. Februar 2018 S. 5). Dabei geht auch Amnesty International von einer besonderen Gefährdung von Putschisten und PKK-Anhängern aus (AI Report 2017 S. 2 f.). Die türkische Regierung macht für den Putschversuch die Gülen-Bewegung verantwortlich und hat diese als terroristische Organisation ("FETÖ") eingestuft (AI Report Türkei 2017/2018 vom 22. Februar 2018 S. 2). Nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe sollen daneben weitere Personengruppen einer besonderen Gefährdung unterliegen, denen der Antragsteller aber ebenfalls nicht angehört (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Gefährdungsprofile vom 19. Mai 2017 S. 4 ff.). Human Rights Watch berichtet in seinem neuesten Bericht von Fällen von Folter in Polizeigewahrsam, Entführungen und massiven Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen. Dabei werden 11 Fälle von schweren Menschenrechtsverletzungen in Haft und fünf Fälle von Entführungen dokumentiert. Auch nach Einschätzung dieser Organisation unterliegen dem größten Risiko, in Gewahrsam gefoltert zu werden, Personen, denen eine Verbindung zur "FETÖ" vorgeworfen wird. Daneben seien auch Personen besonders gefährdet, denen eine Verbindung zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder zur Koma Civakên Kurdistan (KCK) vorgeworfen werde (Human Rights Watch vom 17. Oktober 2017, Türkei: Erneut Fälle von Folter in Polizeigewahrsam und Entführungen).
Rz. 55
Dass Personen aus dem islamistisch-extremistischen Spektrum in der Türkei in ähnlicher Weise einem - beachtlichen - Misshandlungsrisiko ausgesetzt sind, ist den Erkenntnisquellen nicht zu entnehmen. Dem Auswärtigen Amt sind Verstöße gegen Art. 3 EMRK spezifisch gegenüber "IS"-Anhängern weder im Rahmen der Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren noch außerhalb derartiger Verfahren bekannt geworden. Vielmehr gelte die Einschätzung im Lagebericht vom Februar 2017 (S. 29) weiterhin (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das BVerwG vom 5. September 2017). Danach ist dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gelte auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist. Zu demselben Ergebnis kämen andere EU-Staaten und die USA (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Februar 2017 S. 29). In der neuesten dem Senat vorliegenden Auskunft bestätigt die Botschaft in Ankara nochmals, dass es keine Anzeichen für ein strukturell bestehendes Misshandlungsrisiko für "IS"-Verdächtige oder eine größere Zahl von Einzelfällen von Misshandlungen "IS"-Verdächtiger gebe, auch wenn Misshandlungen nicht in jedem Fall völlig ausgeschlossen werden könnten (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 12. März 2018 an den Antragsgegner). Auch Amnesty International liegen ausweislich eines vom Antragsteller im Verfassungsbeschwerdeverfahren 2 BvR 2259/17 vorgelegten Schreibens vom 5. September 2017 keine eigenen Erkenntnisse über die Folter von Islamisten in der Türkei vor. Soweit Amnesty International in diesem Schreiben - nach dem vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss wiedergegebenen Inhalt - darauf hinweist, dass die deutsche Sektion Ende Juli 2017 eine E-Mail eines in Deutschland lebenden Vaters erhalten habe, der berichte, dass sein seit Oktober 2016 in der Türkei wegen Terrorismusverdachts inhaftierter Sohn seit einiger Zeit zusammen mit Mitgefangenen schwer geschlagen und gefoltert werde, handelt es sich um die Wiedergabe einer Äußerung vom Hörensagen, die mangels Mitteilung näherer Umstände zudem nur bedingt Rückschlüsse auf das Misshandlungsrisiko terrorismusverdächtiger Islamisten zulässt. Nach dem Bekanntwerden dieses Schreibens hat die Deutsche Botschaft im Rahmen des vom Antragsteller eingeleiteten Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu den Haftbedingungen in der Türkei mitgeteilt, dass ihr eine Beschwerde eines unter Terrorismusverdacht stehenden deutschen Untersuchungsgefangenen wegen Gewaltanwendung im Gefängnis vorliege, alle anderen befragten Häftlinge hätten Gewalt seitens des Personals und unter den Gefangenen indes verneint (Bericht des Auswärtigen Amtes - Haftbedingungen in TUR ≪Stand 16. November 2017≫, Anlage zur Stellungnahme des BMI im Verfahren 2 BvR 2259/17). Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 2017 hat die Deutsche Botschaft die Büros von Amnesty International und Human Rights Watch in der Türkei kontaktiert, denen auch weiterhin keine eigenen Erkenntnisse über Misshandlungen von "IS"-Verdächtigen vorliegen. Außerdem haben die Botschaft und das Generalkonsulat in Istanbul drei Rechtsanwälte in Städten mit einer hohen Zahl von als "IS"-Verdächtige verfolgten Personen angesprochen, die als Strafverteidiger entweder in "IS"-Fällen oder zumindest von als Terrorverdächtige Beschuldigten (PKK, Gülen) tätig sind und im Kreis der in diesem Feld tätigen Strafverteidiger gut vernetzt sind. Alle drei Rechtsanwälte hätten erklärt, weder selbst von Missbrauchsfällen Kenntnis noch im Kollegenkreis davon gehört zu haben. Auch seien der Botschaft und dem Generalkonsulat in Istanbul aus ihren Haftbesuchen bei "IS"-Verdächtigen bzw. wegen Mitgliedschaft im "IS" Verurteilten keine Hinweise auf Misshandlungen bekannt geworden. Nur ein Verurteilter habe während seiner Haftzeit über Provokationen und Handgreiflichkeiten durch eine Wärtergruppe berichtet, die sich mehrmals wiederholt hätten, dann jedoch endeten, wobei offen sei, ob es sich hierbei bereits um eine Misshandlung gehandelt habe (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 12. März 2018 an den Antragsgegner).
Rz. 56
Zwar gibt es Hinweise auf Einzelfälle, in denen - im Rahmen des Vorgehens gegen mutmaßliche terroristische Täter zur Gefahrenabwehr oder bei Ermittlungshandlungen - Verstöße gegen Art. 3 EMRK von Betroffenen oder ihren Rechtsanwälten behauptet wurden (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 5. September 2017 an das BVerwG). Auch Menschenrechtsorganisationen berichten von Fällen körperlicher Misshandlungen; diese beziehen sich aber vor allem auf Inhaftierte, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung "FETÖ" unter Terrorismusverdacht stehen. Zur Frage, ob auch Mitglieder oder Anhänger islamistisch-terroristischer Organisationen in der Türkei Opfer von Folter wurden, verfügen sie über keine belastbaren eigenen Informationen. Berücksichtigt man, dass Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen bezüglich anderer Personenkreise offenbar über weitergehende Informationen verfügen, liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte für die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer gegen Art. 3 EMRK oder § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG verstoßenden Behandlung islamistisch-extremistischer Personen im Polizeigewahrsam oder in der Haft vor. Allein der Umstand, dass in der Türkei Misshandlungen im staatlichen Gewahrsam nicht in jedem Einzelfall völlig ausgeschlossen werden können, begründet entgegen der Auffassung des Antragstellers noch kein Abschiebungsverbot.
Rz. 57
Diese Beurteilung gilt auch unter Berücksichtigung der von Amnesty International in seiner Stellungnahme vom 29. August 2017 hervorgehobenen Tatsache, dass Berichte über Folter in Polizeigewahrsam seit der Aufkündigung des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Juli 2015 und insbesondere seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 drastisch zugenommen hätten. Amnesty International räumt in seinem neuesten Report vom 22. Februar 2018 ein, dass die Fälle von Folter und anderen Misshandlungen inzwischen wieder deutlich zurückgegangen seien. Dessen ungeachtet erscheint es unwahrscheinlich, dass etwaige Fälle von Folter gerade gegenüber vermeintlichen "IS"-Anhängern oder anderen Sympathisanten oder Mitgliedern von islamistisch-extremistischen Terrororganisationen im Gegensatz zu Foltervorwürfen etwa gegenüber Anhängern der PKK und der Gülen-Bewegung nicht bekannt geworden sein sollten. Dieser Beurteilung steht auch nicht die Tatsache entgegen, dass sich die Einstellung der türkischen Regierung gegenüber dem "IS" zum Negativen verändert hat, seit "IS"-Mitglieder im Sommer 2014 Geiseln im türkischen Konsulat in Mosul genommen, die Türkei ihre Enklave Süleyman Shah in Syrien im Februar 2015 räumen musste und der türkische Außenminister die Durchreise von fremden "IS"-Kämpfern durch die Türkei im Januar 2015 als "greatest threat" für sein Land bezeichnete (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 7.17 - NVwZ 2017, 1798 Rn. 54).
Rz. 58
Fehlt es an der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für eine unmenschliche Behandlung des Antragstellers wegen seiner extremistisch-islamistischen Ausrichtung und der von ihm begangenen Straftaten, kommt es für die Entscheidung des Senats nicht darauf an, ob und inwieweit Schutzmaßnahmen gegen Folter unter dem nach wie vor geltenden Ausnahmezustand systematisch abgebaut wurden. Auch ist nicht entscheidungserheblich, in welchem Umfang türkischen Behörden Informationen über ausländische Aktivitäten vermeintlicher Anhänger oder Mitglieder extremistisch-islamistischer Organisationen bekannt sind (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 7.17 - NVwZ 2017, 1798 Rn. 55).
Rz. 59
cc) Der Senat geht im Einklang mit Entscheidungen mehrerer Oberlandesgerichte in Auslieferungssachen allerdings davon aus, dass die Haftbedingungen in der Türkei nach dem Putschversuch vom Juli 2016 aufgrund der massenhaften Inhaftierungen den in Art. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen widersprechen (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 7.17 - NVwZ 2017, 1798 Rn. 56; OLG Celle, Beschluss vom 2. Juni 2017 - 2 AR (Ausl) 44/17 - StraFo 2017, 292 = juris Rn. 10; OLG München, Beschluss vom 16. August 2016 - 1 AR 252/16 - NStZ-RR 2016, 323 ≪324≫; KG Berlin, Beschlüsse vom 17. Januar 2017 - (4) 151 AuslA 11/16 (10/17) - StraFo 2017, 70 und vom 21. Dezember 2017 - (4) 151 AuslA 77/16 (107/16) - juris). Dem steht die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes im Verfassungsbeschwerdeverfahren 2 BvR 2259/17 zu den Haftbedingungen in der Türkei vom 16. November 2017 nicht entgegen. Zwar hat sich die Gefahr einer Überbelegung danach inzwischen entschärft, Überbelegung kommt aber auch nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes sowohl im Polizeigewahrsam als auch in der Untersuchungshaft weiterhin vor (Bericht des Auswärtigen Amtes - Haftbedingungen in TUR ≪Stand 16. November 2017≫, Anlage zur Stellungnahme des BMI im Verfahren 2 BvR 2259/17). Damit besteht die ernsthafte Gefahr einer nicht mit den menschenrechtlichen Mindeststandards zu vereinbarenden Unterbringung im Falle einer Inhaftierung des Antragstellers.
Rz. 60
Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) müssen Hafträume im Hinblick auf Art. 3 EMRK bestimmte Bedingungen aufweisen. Die zitierten mit Auslieferungssachen befassten Gerichte sehen die Gefahr, dass Betroffene im Falle ihrer Auslieferung wegen der Überbelegung der Haftzellen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein könnten. Dies begründe ein Zulässigkeitshindernis nach § 73 Satz 1 IRG, das jedoch dadurch ausgeräumt werden könne, dass die türkischen Behörden eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung in Bezug auf die Haftbedingungen abgeben, unter denen der Betroffene nach erfolgter Auslieferung inhaftiert sein wird. Diese Rechtsprechung lässt sich auf § 60 AufenthG übertragen, weshalb der Senat die Abschiebung nur mit der Maßgabe zulässt, dass die türkischen Behörden zusichern, dass die räumliche Unterbringung und die sonstige Gestaltung der Haftbedingungen im Fall einer Inhaftierung des Antragstellers wegen seines Verhaltens vor der Abschiebung den europäischen Mindeststandards entsprechen (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 7.17 - NVwZ 2017, 1798 Rn. 56).
Rz. 61
Diese Mindeststandards ergeben sich in einer auch für die Türkei als EMRK-Vertragsstaat verbindlichen Weise insbesondere aus dem Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 20. Oktober 2016 - Nr. 7334/13, Mursic/Kroatien. Sie beziehen sich neben einer bestimmten persönlichen Mindestfläche für jeden Häftling im Haftraum insbesondere auf die vorhandenen Tageslichtverhältnisse, die vorhandenen Sanitärzellen, das Niveau der Beleuchtung, der Heizung, der Lüftung, der medizinischen Versorgung und der Ernährung der Häftlinge (EGMR, Urteil vom 20. Oktober 2016, Rn. 114, 136 - 141). Eine weitere Präzisierung des Inhalts der "europäischen Mindeststandards" in Bezug auf eine bestimmte Haftanstalt im Beschlusstenor ist dem Senat nicht möglich. Denn im vorliegenden Verfahren steht - anders als in Auslieferungsfällen - nicht fest, ob der Ausländer inhaftiert wird und - wenn ja - in welcher Haftanstalt (BVerwG, Beschluss vom 9. November 2017 - 1 VR 9.17 - InfAuslR 2018, 88 Rn. 7; zum Erfordernis möglichst präziser Zusicherung vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 Rn. 50).
Rz. 62
Darüber hinaus ist von den türkischen Behörden zuzusichern, dass eine Überprüfung der Haftbedingungen des Antragstellers durch Besuche eines Rechtsanwalts seiner Wahl möglich ist. Soweit einige Oberlandesgerichte in Auslieferungssachen eine Kontrollmöglichkeit durch diplomatische oder konsularische Vertreter der Bundesrepublik Deutschland fordern (OLG Celle, Beschluss vom 2. Juni 2017 - 2 AR (Ausl) 44/17 - StraFo 2017, 292 = juris Rn. 11 f.; OLG München, Beschluss vom 16. August 2016 - 1 AR 252/16 - NStZ-RR 2016, 323 ≪324≫; KG Berlin, Beschlüsse vom 17. Januar 2017 - (4) 151 AuslA 11/16 (10/17) - StraFo 2017, 70 und vom 21. Dezember 2017 - (4) 151 AuslA 77/16 (107/16) - juris), ist nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes von der Türkei im Abschiebungsverkehr eine derartige Zusicherung nicht zu erlangen, da hier - im Gegensatz zu Auslieferungen - kein eigenes Interesse an einer Rückführung angenommen werden kann (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17. Oktober 2017 an das BVerwG). Statt der im Auslieferungsverkehr üblichen Zusicherung kommt im vorliegenden Abschiebungsverfahren aber eine - hinsichtlich der Einhaltung der Haftbedingungen gleichermaßen geeignete - Überprüfungsmöglichkeit mit Hilfe eines vom Antragsteller für den Fall einer Inhaftierung zu wählenden Rechtsbeistands in Betracht. Diesem ist der Besuch des Antragstellers in der Haftanstalt zu ermöglichen, falls der Antragsteller inhaftiert werden sollte. Im Rahmen solcher Besuche kann der Antragsteller dem Anwalt Mängel der Haftbedingungen mitteilen. Dieser kann dann die gebotenen Abhilfemaßnahmen beantragen und entsprechende Rechtsbehelfe einlegen. Hierzu ist nicht erforderlich, dass der Anwalt Zugang zu dem Haftraum seines Mandanten erhält. Der Rechtsbeistand kann auf der Grundlage der Mandanteninformation, die auch Angaben über den dem Antragsteller zur Verfügung stehenden persönlichen Bereich in seinem Haftraum umfasst, nach Erschöpfung des nationalen Rechtswegs Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einlegen und ggf. einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stellen. Außerdem kann er die deutsche Botschaft in der Türkei unterrichten. Diese kann dann bei den verantwortlichen türkischen Stellen auf diplomatischem Weg die Einhaltung der Zusicherung zu den Haftbedingungen einfordern. Dies stellt unter den gegebenen Umständen eine hinreichende Kontrolle der Haftbedingungen sicher (BVerwG, Beschluss vom 9. November 2017 - 1 VR 9.17 - InfAuslR 2018, 88 Rn. 5).
Rz. 63
3. Der vom Antragsteller beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - gestellte Asylantrag steht dem Vollzug der Abschiebungsanordnung schon deshalb nicht entgegen, da nach § 60 Abs. 9 AufenthG ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, bei Vorliegen der - nach dem Vorstehenden hier gegebenen - Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes abgeschoben werden kann. Die Ausschlussklausel des § 60 Abs. 8 AufenthG bringt eine verfassungsimmanente Schranke des Asylgrundrechts zum Ausdruck und erstreckt sich über § 30 Abs. 4 AsylG auch auf die Asylanerkennung nach Art. 16a GG. Unter diesen Voraussetzungen kann eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG unabhängig von der Vollziehbarkeit einer ablehnenden Entscheidung des Bundesamts vollzogen werden, wenn - wie vorliegend nach Erteilung der im Tenor bezeichneten Zusicherung - keine Anhaltspunkte für ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bestehen (BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 - 1 VR 2.17 - juris Rn. 41).
Rz. 64
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Da die Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Entscheidung in der Hauptsache praktisch vorwegnimmt, war der Streitwert auf die Höhe des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts anzuheben.
Fundstellen
Dokument-Index HI13396571 |