Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches OVG (Aktenzeichen 2 L 148/97) |
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. November 1999 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
Sie wendet sich gegen die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zugunsten des Klägers, eines afghanischen Staatsangehörigen. Zur Begründung hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, es lägen zwar keine Anhaltspunkte dafür vor, daß der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, die aus tatsächlichen Gründen nur in den Machtbereich der Taliban möglich sei, erheblichen Gefährdungen von Leib, Leben oder Freiheit im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ausgesetzt wäre. Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 sei für ihn jedoch ausnahmsweise – in verfassungskonformer Anwendung der Vorschrift – deshalb anzunehmen, weil eine „Gesamtschau” der allgemeinen Gefahren für die Bevölkerung in Afghanistan insgesamt und für bestimmte Gruppen afghanischer Staatsangehöriger, zu denen der Kläger zu rechnen sei, die Annahme einer extremen Gefahrenlage rechtfertige. Dabei begründe allerdings weder die väterlicherseits tadschikische noch die mütterlicherseits hazarische Volkszugehörigkeit oder seine Zugehörigkeit zum schiitischen Glauben eine erhöhte Gefährdung (vgl. UA S. 12 ff.). Ebensowenig begründeten die Asylantragstellung und ein längerer Auslandsaufenthalt eine außergewöhnliche Gefährdung im Rückkehrfall; auch müßten Rückkehrer nicht in ein vom Bürgerkrieg betroffenes Kampfgebiet zurückkehren (UA S. 17). Doch bildeten die aufgezeigten Umstände in ihrer Kumulation gleichwohl ein Gefährdungspotential, das die Annahme der Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG gebiete. Hinzu trete, daß der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan aus in seiner Person liegenden Gründen einer besonderen Gefährdung ausgesetzt wäre.
Die Beschwerde rügt, das Berufungsurteil weiche von der Entscheidung des erkennenden Senats vom 8. Dezember 1998 – BVerwG 9 C 4.98 – (BVerwGE 108, 77) ab, weil es die dort verlangte „Feststellung einer alsbald nach Rückkehr in den Herkunftsstaat drohenden Gefahr des sicheren Todes oder schwerster Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit” nicht feststelle (Beschwerdebegründung unter 1., S. 2 f.). Damit rügt die Beschwerde indessen lediglich eine nach ihrer Auffassung fehlerhafte Rechtsanwendung, ohne einen Rechtssatzwiderspruch in der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts aufzuzeigen.
Auch die weitere Divergenzrüge (vgl. ergänzende Beschwerdebegründung vom 9. Februar 2000) greift nicht durch. Es trifft zwar zu, daß das Bundesverwaltungsgericht in dem zitierten Urteil vom 8. Dezember 1998 a.a.O. den Rechtssatz aufgestellt hat, daß individuelle Gefährdungen des Ausländers, die sich aus einer allgemeinen Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG ergeben, auch dann nicht als Abschiebungshindernis unmittelbar nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG berücksichtigt werden können, wenn sie auch durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt werden, aber nur typische Auswirkungen der allgemeinen Gefährdungslage sind. Einen dem entgegenstehenden Rechtssatz hat das Berufungsgericht indessen in dem angegriffenen Urteil weder ausdrücklich noch sinngemäß aufgestellt. Die Auffassung der Beschwerde, das Berufungsgericht habe lediglich „derartige typische Auswirkungen einer allgemeinen Gefahr” festgestellt, was sich schon daraus ergebe, daß es sich hierbei um einen Textbaustein handle, der offenbar in einer Vielzahl von Fällen Anwendung finde, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Auch damit wird lediglich auf eine nach Auffassung der Beschwerde fehlerhafte Rechtsanwendung im vorliegenden Einzelfall abgestellt, ohne einen ausdrücklichen oder stillschweigenden Rechtssatzwiderspruch darzutun.
Die von der Beschwerde ferner für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), „ob es im Hinblick auf die besonders hohen Anforderungen an eine Überwindung der Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG einer besonders eingehenden Begründung für die Annahme des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses in verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 AuslG bedarf” (Beschwerdebegründung unter 3., S. 4), rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Sie läßt sich – soweit verallgemeinerungsfähig – ohne weiteres aus dem Gesetz und der hierzu ergangenen Rechtsprechung beantworten. Nach § 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO müssen in jedem verwaltungsgerichtlichen Urteil diejenigen Entscheidungsgründe schriftlich niedergelegt werden, welche für die richterliche Überzeugungsbildung leitend gewesen sind (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Sinn dieser Regelung ist es zum einen, die Beteiligten über die dem Urteil zugrunde liegenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen zu unterrichten, und zum anderen, dem Rechtsmittelgericht die Nachprüfung der Entscheidung auf ihre inhaltliche Richtigkeit in prozeßrechtlicher und materiellrechtlicher Hinsicht zu ermöglichen (vgl. den Beschluß des Senats vom 5. Juni 1998 – BVerwG 9 B 412.98 – Buchholz 310 § 138 Ziff. 6 VwGO Nr. 32 = NJW 1998, 3290). Darüber hinausreichende gesteigerte Begründungsanforderungen, wie sie die Beschwerde fordert, kennt das Prozeßrecht nicht; sie ergeben sich auch nicht aus der verfassungskonformen Anwendung einer Vorschrift des materiellen Rechts.
Auch die Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), die Entscheidung des Berufungsgerichts sei im Sinne von § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen, muß erfolglos bleiben. Wie die Beschwerde unter Zitierung des angeführten Beschlusses des erkennenden Senats vom 5. Juni 1998 a.a.O. selbst ausführt, liegt der „grobe Formmangel” fehlender Gründe nach § 138 Nr. 6 VwGO nur vor, wenn die Entscheidungsgründe so mangelhaft sind, daß sie ihre bereits angesprochene Doppelfunktion nicht mehr erfüllen können. Das setzt indessen voraus, daß dem Tenor der Entscheidung entweder überhaupt keine Gründe beigegeben sind oder die Begründung „völlig unverständlich und verworren ist, so daß sie in Wirklichkeit nicht erkennen läßt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend gewesen sind” (Beschluß vom 5. Juni 1998 a.a.O.). Das ist dann der Fall, wenn die Entscheidungsgründe „rational nicht nachvollziehbar, sachlich inhaltslos oder aus sonstigen Gründen derart unbrauchbar sind, daß die angeführten Gründe unter keinem denkbaren Gesichtspunkt geeignet sind, den Urteilstenor zu tragen”. Dagegen reicht es nicht aus, wenn die Entscheidungsgründe lediglich unklar, unvollständig, oberflächlich oder unrichtig sind (Beschluß vom 5. Juni 1998 a.a.O.). Nach diesem Maßstab liegt der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht vor.
Die Beschwerde macht insoweit zum einen geltend, es sei „nicht nachvollziehbar, warum eine Gesamtschau von Einzelaspekten, die jeweils nicht zur Annahme eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG führen, letztlich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG in der Person des Klägers begründen sollen”. Die Beschwerde wendet sich damit wohl nicht gegen die auch bei der Bestimmung einer extremen Gefahrenlage erforderliche Gesamtbetrachtung oder Gesamtbewertung (Gesamtschau) aller einem Ausländer bei der Rückkehr in sein Heimatland dort möglicherweise aus unterschiedlichen Gründen drohenden allgemeinen Gefahren, sondern dagegen, in welcher Art und Weise das Oberverwaltungsgericht diese Gesamtschau im vorliegenden Einzelfall vorgenommen und begründet hat. Nach der Rechtsprechung des beschließenden Senats ist die Frage, ob sich aus einer allgemeinen Gefahr eine extreme Gefährdungslage für alle betroffenen Personen oder einzelne von ihnen ergibt, stets anhand einer sogenannten Gesamtschau, nämlich mit Blick auf sämtliche dem Ausländer drohenden Gefahren zu beantworten (Beschluß vom 23. März 1999 – BVerwG 9 B 866.98 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 17). Dabei geht es allerdings nicht um eine „mathematische” oder „statistische” Summierung von Einzelgefahren, vielmehr hat das Tatsachengericht ggf. eine einzelfallbezogen umfassende – zusammenschauende – Bewertung der aus der allgemeinen Gefahr für den Ausländer folgenden (Gesamt-)Gefährdungslage vorzunehmen und auf dieser Grundlage über das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage zu entscheiden. Dieser Pflicht zu einer im Einzelfall anzustellenden (nicht stets ausdrücklich oder gar umfangreich erörterungsbedürftigen) Gesamtgefahrenprognose ist das Berufungsgericht im vorliegenden Ausgangsverfahren allerdings nicht gerecht geworden. Es hat lediglich einzelne Gefahrenaspekte ohne zusammenschauende Bewertung aufgelistet und diese ohne Begründung als „in ihrer Kumulation” erhebliches „Gefährdungspotential, das die Annahme der Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG gebietet”, bezeichnet. Ebenfalls formelhaft bleibt die zusammenfassende Umschreibung, „daß ein Zusammenwirken der dargestellten, für sich allein nicht ausreichenden Gefährdungsaspekte den Gefahrenverwirklichungsgrad derart erhöhen, daß ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu bejahen ist”. Eine solche schematische Betrachtung entspricht nicht den zitierten, in der Asylrechtsprechung entwickelten und auf § 53 AuslG übertragenen Anforderungen an eine Gesamtschau. Der dem Berufungsurteil insoweit anhaftende inhaltliche Begründungsmangel ist indessen nicht geeignet, die Entscheidung des Berufungsgerichts zu § 53 Abs. 6 AuslG als nicht mit Gründen versehen im Sinne von § 138 Nr. 6 VwGO erscheinen zu lassen. Selbst eine grob fehlerhafte Urteilsbegründung ergibt als solche noch keinen Verfahrensfehler im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO.
Außerdem beruht die Entscheidung des Berufungsgerichts auch nicht auf den beanstandeten Ausführungen zu einer extremen Gefahrenlage aufgrund einer Gesamtschau. Das Berufungsgericht hat vielmehr zusätzlich – und seine Entscheidung selbständig tragend – darauf gestützt, daß der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan „aus besonderen, in seiner Person liegenden Gründen” von den internationalen Hilfsprogrammen keine Unterstützung erhalten und „unabhängig davon wirtschaftlich nicht existieren” könne. Die Beschwerde wendet auch hiergegen ein, es sei nicht nachvollziehbar, aus welchen besonderen Gründen dem Kläger die Teilnahme an internationalen Hilfsprogrammen verwehrt sein solle. Ebensowenig sei nachvollziehbar, warum dem Kläger eine menschenwürdige Existenz versperrt wäre. Auch mit diesem Vortrag wird zwar auf inhaltliche Begründungsmängel sowie eine mangelhafte Feststellung und Würdigung der Tatsachengrundlage hingewiesen, ohne damit aber einen groben Formmangel gemäß § 138 Nr. 6 VwGO darzutun. Die Aussage im Berufungsurteil nämlich, daß der Kläger ohne Teilnahme an internationalen Hilfsprogrammen in Afghanistan wirtschaftlich nicht existieren könne, ist an sich geeignet, die Annahme einer extremen Gefahrenlage mit erheblicher Leibes- und Lebensgefahr für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zu tragen. Ob diese Erwägung auf einer einwandfreien tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellung und einer plausiblen Prognose beruht, ist für die Entscheidung über das Vorliegen eines Verfahrensfehlers nach § 138 Nr. 6 VwGO nicht zu prüfen. Der Senat bemerkt hierzu allerdings, daß sich dem Berufungsurteil aus revisionsgerichtlicher Sicht nicht entnehmen läßt, aus welchen persönlichen Gründen im einzelnen der Kläger von den internationalen Hilfsprogrammen ausgeschlossen sein sollte. Auch die vom Berufungsgericht zusätzlich als „ausschlaggebend” bezeichnete Erwägung, daß der Kläger in Afghanistan ohne Familie und ohne Stütze in einem Clan keine „menschenwürdige Existenz” finden könne, enthält weder die Feststellung einer extremen Gefahrenlage noch ist sie – wie an sich erforderlich – unter Bezugnahme auf die eingeführten Erkenntnismittel nachprüfbar dargelegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.
Unterschriften
Dr. Paetow, Hund, Richter
Fundstellen