Verfahrensgang
Hessischer VGH (Urteil vom 08.02.2007; Aktenzeichen 3 N 841/06) |
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerinnen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Februar 2007 wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Antragstellerin zu 1 die Hälfte und die Antragstellerinnen zu 2 bis 4 je ein Sechstel.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 120 000 € festgesetzt.
Gründe
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO gestützte Beschwerde bleibt erfolglos. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Antragstellerinnen beimessen.
1.1 Die mit der Beschwerde aufgeworfene Frage, “ob außerhalb des Plangebiets liegende Gewerbebetreibende und Eigentümer antragsbefugt i.S.d. § 47 Abs. 2 VwGO sind”, zielt auf die Antragsbefugnis der Antragstellerin zu 1, die außerhalb des angegriffenen Bebauungsplans (mit der Festsetzung eines Sondergebiets für einen Lebensmittelsupermarkt) einen Einkaufsmarkt betreibt, sowie auf die Antragsbefugnis der Antragstellerinnen zu 2 und 3, die Eigentümerinnen des Grundstücks sind, auf dem die Antragstellerin zu 1 ihren Markt betreibt.
Die aufgeworfene Frage kann nicht zur Zulassung der Revision führen, weil sie für das Normenkontrollgericht nicht entscheidungserheblich gewesen ist. Das Normenkontrollgericht hat offengelassen, ob die Antragstellerinnen zu 1 bis 3 antragsbefugt sind. Es hat die Antragsbefugnis der Antragstellerin zu 4 bejaht. und über die Antragsbefugnis der Antragstellerinnen zu 1 bis 3 nicht entschieden, weil es den Normenkontrollantrag insgesamt jedenfalls für unbegründet gehalten hat. Eine die Entscheidung der Vorinstanz nicht tragende Begründung kann die Zulassung der Revision wegen rechtsgrundsätzlicher Bedeutung nicht rechtfertigen (vgl. Beschluss vom 21. September 1993 – BVerwG 2 B 109.93 – Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 181 m.w.N.).
1.2 Die Beschwerde möchte ferner rechtsgrundsätzlich geklärt wissen, “ob eine Gemeinde bei der Aufstellung von Bebauungsplänen eine drohende Existenzvernichtung vorhandener Betriebe berücksichtigen muss”. Die Fragestellung ist auf den von der Antragstellerin zu 1 betriebenen Einkaufsmarkt zugeschnitten. Sie wäre in einem Revisionsverfahren nicht klärungsfähig, da sie einen Sachverhalt zugrunde legt, den das Normenkontrollgericht nicht festgestellt hat. Die Vorinstanz gelangt auf der Grundlage ihrer Sachverhaltswürdigung zu dem Ergebnis, dass der Einkaufsmarkt der Antragstellerin zu 1 die Funktion eines Vollversorgers für die motorisierte Kundschaft aus Linden, Gießen und benachbarten Gemeinden innehabe, sich die Funktion eines Nahversorgers wegen der beträchtlichen Entfernung zu den Ortskernen von Großen-Linden und Leihgestern aber auf die Stadtteile Forst und Mühlberg beschränke. Den von der Antragstellerin zu 1 befürchteten Kaufkraftabzug und ruinösen Wettbewerb durch die Ansiedlung eines Nahversorgers in zentraler Lage zwischen den Stadtteilen Großen-Linden und Leihgestern habe die Antragsgegnerin angesichts der überörtlichen Bedeutung des Einkaufsmarkts der Antragstellerin zu 1 mit 7 500 m(2) Verkaufsfläche nicht “überzubewerten” brauchen (UA S. 13 f.). Eine dem Einkaufsmarkt der Antragstellerin zu 1 “drohende Existenzvernichtung” hat das Normenkontrollgericht also nicht festgestellt. Die hierzu erhobenen Verfahrensrügen bleiben erfolglos (vgl. unten 3.).
1.3 Die Beschwerde wirft ferner als grundsätzlich klärungsbedürftig die Frage auf, “ob im Rahmen einer Normenkontrolle gegen einen Bebauungsplan Entscheidungen der Regionalen Planungsversammlung oder ihrer Ausschüsse inzidenter geprüft werden können”. Die Frage zielt auf die Ansicht des Normenkontrollgerichts, der angegriffene Bebauungsplan stehe in Einklang mit dem Anpassungsgebot des § 1 Abs. 4 BauGB. Die Vorinstanz hat hierzu ausgeführt, dass der streitgegenständlichen Planung Ziele des Regionalplans Mittelhessen 2001 (StAnz. S. 2190) entgegenstünden, von denen jedoch eine Abweichung auf der Grundlage von § 12 HLPG zugelassen worden sei. Aus den von der Vorinstanz in Bezug genommenen Verwaltungsakten ergibt sich, dass das Regierungspräsidium Gießen als obere Landesplanungsbehörde auf der Grundlage eines Beschlusses der Regionalversammlung (Haupt- und Planungsausschuss) mit Entscheidung vom 5. März 2003 auf den Antrag der Antragsgegnerin die Abweichung vom Regionalplan Mittelhessen 2001 “zwecks bauleitplanerischer Ausweisung eines Sondergebietes für die Errichtung eines Lebensmittelmarktes mit einer Verkaufsfläche von max. 1 250 m(2) im Südosten des Stadtteils Großen-Linden” unter bestimmten Maßgaben zugelassen hat. Nach den Feststellungen des Normenkontrollgerichts ist diese mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehene Entscheidung bestandskräftig geworden.
Die Grundsatzrüge bleibt erfolglos. Die aufgeworfene Frage kann auf der Grundlage des Gesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ohne weiteres beantwortet werden. Der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf es daher nicht.
Die Überprüfung einer bestandskräftigen Abweichungsentscheidung im Rahmen der Normenkontrolle eines Bebauungsplans scheidet angesichts der von dieser Entscheidung ausgehenden Bindungswirkung aus. Die Bestandskraft der Abweichungsentscheidung wirkt zwar nur im Verwaltungsrechtsverhältnis zwischen der Gemeinde, die die Abweichung beantragt hat (hier: die Antragsgegnerin), und der entscheidenden Behörde (hier: obere Landesplanungsbehörde). Darüber hinaus greift jedoch die Tatbestandswirkung der Entscheidung. Das folgt aus Art. 20 Abs. 3 GG und § 43 VwVfG. Danach ist ein (rechtswirksamer) Verwaltungsakt grundsätzlich von allen Staatsorganen zu beachten und ihren Entscheidungen als gegeben zugrunde zu legen. Das gilt auch für rechtsförmliche, rechtsbehelfsfähige Abweichungsentscheidungen in einem Zielabweichungsverfahren i.S.v. § 11 ROG. Im vorliegenden Streitfall hat die obere Landesplanungsbehörde die rechtlichen Voraussetzungen einer Abweichung vom Regionalplan geprüft und bejaht. Sie hat das Planvorhaben aus raumordnungsrechtlicher Sicht “freigegeben”. Ein inhaltlicher Widerspruch zwischen Bebauungsplan und Zielen der Regionalplanung besteht danach nicht mehr. Über die Tatbestandswirkung der bestandskräftigen Abweichungsentscheidung hätte sich das Normenkontrollgericht nicht hinwegsetzen dürfen (vgl. Senatsurteil vom 30. Januar 2003 – BVerwG 4 CN 14.01 – BVerwGE 117, 351 ≪354 f.≫ – zur Tatbestandswirkung einer landschaftsschutzrechtlichen Ausnahmegenehmigung im Rahmen der prinzipalen Normenkontrolle eines Bebauungsplans).
Dieses Ergebnis folgt auch aus Wortlaut, Sinn und Zweck des § 1 Abs. 4 BauGB, nach dem die Bauleitpläne den Zielen der Raumordnung anzupassen sind. Die Anpassungspflicht der Gemeinden setzt das Bestehen von Zielen der Raumordnung (§ 3 Nr. 2 ROG) voraus. Der Regelungszweck des § 1 Abs. 4 BauGB besteht in der “Gewährleistung materieller Konkordanz” zwischen der übergeordneten Landesplanung und der gemeindlichen Bauleitplanung (Urteil vom 17. September 2003 – BVerwG 4 C 14.01 – BVerwGE 119, 25 ≪39≫). Die Anpassungspflicht der Gemeinde rechtfertigt sich daraus, dass die Ziele der Raumordnung grundsätzlich keine unmittelbare bodenrechtliche Wirkung entfalten, und daher regelmäßig der planerischen Umsetzung durch nachgeordnete Planungsträger bedürfen, um ihren Ordnungs- und Entwicklungsauftrag auch gegenüber dem einzelnen Raumnutzer erfüllen zu können. Bebauungspläne dürfen den Zielen der Raumordnung daher nicht widersprechen. Raumordnerische Zielvorgaben können eine Anpassungspflicht der Gemeinde nach § 1 Abs. 4 BauGB nur auslösen, wenn sie hinreichend bestimmt (jedenfalls aber bestimmbar) und rechtmäßig sind. Aus diesem Grund können sie im Rahmen einer prinzipalen Normenkontrolle von Bebauungsplänen Gegenstand einer Inzidentüberprüfung sein (vgl. Urteil vom 17. September 2003 – BVerwG 4 C 14.01 – a.a.O., S. 40 f.). Dabei wird geprüft, ob der Bebauungsplan das Anpassungsgebot erfüllt. Fehlt eine steuernde Zielvorgabe der Raumordnung, kann die in § 1 Abs. 4 BauGB normierte Anpassungspflicht der Gemeinde von vornherein nicht zum Zuge kommen. In einem solchen Fall stellt sich die Frage nach der Zielkonformität des Bebauungsplans nicht. § 1 Abs. 4 BauGB rechtfertigt es nicht, im Rahmen der Normenkontrolle eines Bebauungsplans die Entscheidung der Raumplanungsbehörde, von einer Zielaussage abzusehen, inzident zu überprüfen. Nichts anderes kann in dem Fall gelten, in dem wie hier die Bindungskraft raumordnerischer Zielvorgaben auf Antrag einer Gemeinde im Wege einer Abweichungsentscheidung nachträglich punktuell eingeschränkt (“zurückgenommen”) wird.
1.4 Die Frage, “inwieweit § 1a BauGB eine konkrete Bestimmung der Wertigkeit von Ausgleichsflächen und exakte parzellenscharfe Zuordnung zu einer Eingriffsmaßnahme vorschreibt”, wäre in einem Revisionsverfahren nicht klärungsbedürftig, weil sie – wie sich aus dem Beschwerdevorbringen ergibt – auf besondere Umstände des vorliegenden Streitfalls zugeschnitten ist und nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise geklärt werden könnte. Der Sache nach greift die Beschwerde die vorinstanzliche Sachverhaltswürdigung und Rechtsanwendung an. Eine solche Entscheidungskritik kann die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache nicht begründen.
1.5 Die von der Beschwerde formulierte Frage, “ob eine Bauleitplanung, die zu einem erkennbaren Überangebot an Verkaufsflächen führt, eine städtebauliche Unordnung schafft und damit gegen § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB verstößt”, wäre in einem Revisionsverfahren nicht klärungsfähig, da sie einen Sachverhalt zugrunde legt, den das Normenkontrollgericht nicht festgestellt hat. Der Sache nach richtet sich auch diese Grundsatzrüge gegen die tatrichterliche Sachverhaltswürdigung, ohne einen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf darzulegen.
2. Die erhobenen Divergenzrügen genügen nicht den Darlegungsanforderungen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Eine die Revision eröffnende Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) setzt voraus, dass die Vorinstanz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz von einem in der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen (abstrakten) Rechtssatz abgewichen ist (stRspr). Die Beschwerde zeigt keinen Rechtssatz des angegriffenen Normenkontrollurteils auf, der einem entscheidungstragenden Rechtssatz im Senatsbeschluss vom 20. November 1995 – BVerwG 4 NB 23.94 – (Buchholz 406.11 § 1 BauGB Nr. 87) widerspricht. Entsprechendes gilt für die gerügte Abweichung vom Urteil vom 17. September 2003 – BVerwG 4 C 14.01 – (BVerwGE 119, 25).
3. Die erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch.
3.1 Eine Verletzung der Grundsätze richterlicher Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ist nicht schlüssig dargelegt. Die Kritik an der vorinstanzlichen Auffassung zur Nahversorgungsfunktion und zur überörtlichen Bedeutung des Einkaufsmarkts der Antragstellerin zu 1 stellen sich lediglich als Angriff auf die sachliche Richtigkeit des angefochtenen Urteils dar. Sie setzt der Sachverhaltswürdigung des Normenkontrollgerichts eigene, abweichende Einschätzungen entgegen. Damit kann ein Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht dargetan werden.
3.2 Die erhobene Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) betreffend die Notwendigkeit eines weiteren Einkaufsmarkts und die Befürchtung eines ruinösen Wettbewerbs muss erfolglos bleiben, weil die Beschwerde nicht substantiiert darlegt, dass das Normenkontrollgericht auf der Grundlage der in den Urteilsgründen wörtlich wiedergegebenen Planbegründung der Antragsgegnerin Anlass hätte sehen müssen, in der von der Beschwerde bezeichneten Richtung weiter zu ermitteln. Die Vorinstanz macht die Planbegründung zur Grundlage ihrer Abwägungskontrolle und entnimmt ihr, dass die Antragsgegnerin planerischen Handlungsbedarf sehen durfte. Die Beschwerde fordert weitere Aufklärungsmaßnahmen, weil sie die Schlussfolgerungen des Normenkontrollgerichts nicht teilt. Sie legt aber nicht dar, dass sich der Vorinstanz auf der Grundlage ihres Kontrollmaßstabes weitere Ermittlungen aufdrängen mussten. Die in diesem Zusammenhang gerügte Verletzung von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO genügt ebenfalls nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, da sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
3.3 Der Vorwurf der Beschwerde, das Normenkontrollurteil sei i.S.v. § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen, geht fehl. Der absolute Revisionsgrund der fehlenden Urteilsbegründung liegt nicht schon dann vor, wenn die Gründe des vorinstanzlichen Urteils nach Ansicht des unterlegenen Beteiligten inhaltlich unrichtig oder unvollständig sind. Lediglich Urteilsgründe, die unter keinem denkbaren Gesichtspunkt geeignet sind, den Urteilstenor zu tragen und deshalb einen groben Formmangel darstellen, erfüllen die Voraussetzungen des § 138 Nr. 6 VwGO (Beschluss vom 25. Februar 2000 – BVerwG 9 B 77.00 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 31; Beschluss vom 5. Juni 1998 – BVerwG 9 B 412.98 – Buchholz 310 § 138 Ziff. 6 VwGO Nr. 32 = NJW 1998, 3290; Beschluss vom 13. Juni 1988 – BVerwG 4 C 4.88 – Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 80; stRspr). Eine Urteilsbegründung ist also nicht schon dann unzureichend, wenn sie nicht alle Gründe wiedergibt, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sein mögen. Unschädlich ist auch, wenn einzelne Einwendungen, die nach Ansicht des Gerichts für die Entscheidung unerheblich sind, übergangen werden. Ein Begründungsdefizit i.S.v. § 138 Nr. 6 VwGO zeigt die Beschwerde nicht auf. Sie rügt nur die sachliche Fehlerhaftigkeit des Normenkontrollgerichts. Das genügt zur Darlegung des absoluten Revisionsgrundes in § 138 Nr. 6 VwGO nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Unterschriften
Dr. Paetow, Prof. Dr. Rojahn, Gatz
Fundstellen
BauR 2007, 1712 |
BBB 2007, 54 |