Verfahrensgang
VG Gera (Urteil vom 20.03.2002; Aktenzeichen 2 K 1698/99 GE) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 20. März 2002 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 57 775,98 € festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde der Klägerinnen gegen die Nichtzulassung der Revision ist begründet. Es liegt ein Verfahrensfehler vor, auf dem das Urteil beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht als zurückgenommen behandelt, weil es unter Verstoß gegen Bundesrecht angenommen hat, die Klägerinnen seien nicht durch höhere Gewalt an der rechtzeitigen Einreichung der Klagebegründung gehindert gewesen.
Das Verwaltungsgericht ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass es sich bei der Frist des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO um eine Ausschlussfrist handelt und deswegen eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nicht in Betracht kommt, es sei denn, dass ein Fall höherer Gewalt vorliegt (vgl. Urteile vom 23. April 1985 – BVerwG 9 C 7.85 – Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 4 S. 14 ≪16 ff.≫ und vom 15. Januar 1991 – BVerwG 9 C 96.89 – Buchholz a.a.O. Nr. 11 S. 14 ≪20≫). Hier ist aber nach dem Vorbringen der Klägerinnen ein Fall höherer Gewalt gegeben. Das Verwaltungsgericht hätte daher die Umstände, die zur verspäteten Einreichung der Klagebegründung geführt haben, aufklären und den ermittelten Sachverhalt würdigen müssen.
Der Begriff der höheren Gewalt entspricht dem Begriff der “Naturereignisse und andere unabwendbare Zufälle” in § 233 Abs. 1 ZPO a.F. (Urteil vom 11. Mai 1979 – BVerwG 6 C 70.78 – Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 106 S. 43 ≪46≫ m.w.N.). Als höhere Gewalt sind daher insbesondere die Fälle anzusehen, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch nach der alten Fassung des § 233 Abs. 1 ZPO eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand ermöglichten (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl. 2000, § 58 Rn. 20).
Der hier von den Klägerinnen geltend gemachte Verlust der Klagebegründungsschrift auf dem Postweg wäre – die Richtigkeit des Vorbringens unterstellt – ein unabwendbarer Zufall i.S.d. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Beschlüsse vom 28. September 1972 – IV ZB 8/72 – VersR 1973, 81 ≪82≫ und vom 19. November 1991 – VI ZB 40/91 – VersR 1992, 899). Dies gilt umso mehr, als die Absendung des Schriftsatzes lange vor Ablauf der Frist erfolgt sein soll. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts brauchte sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerinnen auch nicht nach dem Eingang des Schriftsatzes bei Gericht zu erkundigen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 1972 – a.a.O.), zumal die Bestätigung des Eingangs eines Schriftsatzes, der auf eine Betreibensaufforderung nach § 92 Abs. 2 VwGO ergangen ist, im Unterschied zu einer Klageerhebung oder der Einlegung eines Rechtsmittels nicht zu erwarten war.
Nach alledem hätte das Verwaltungsgericht prüfen müssen, ob das Vorbringen der Klägerinnen glaubhaft gemacht ist, gegebenenfalls hätte es dem Vorbringen weiter nachgehen müssen.
Im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens macht der Senat von der Möglichkeit des § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das angefochtene Urteil ohne vorheriges Revisionsverfahren durch Beschluss aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 13, 14 GKG.
Unterschriften
Dr. Müller, Golze, Postier
Fundstellen