Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit von Vorhaben. Art der Nutzung. Gebietscharakter. Gebietsverträglichkeit. Störung des Gebietscharakters
Leitsatz (amtlich)
Die den Baugebieten der §§ 2 bis 9 BauNVO allgemein (regelhaft) zugewiesenen Nutzungsarten sind ebenso wie die Vorhaben, die ausnahmsweise zugelassen werden können, unzulässig, wenn sie den jeweiligen Gebietscharakter gefährden und deshalb gebietsunverträglich sind. Das gilt auch für “Anlagen für gesundheitliche Zwecke”.
Ein Vorhaben (hier: Dialysezentrum mit 33 Behandlungsplätzen in einem allgemeinen Wohngebiet) ist insbesondere dann gebietsunverträglich, wenn es wegen seines räumlichen Umfangs und der Größe seines betrieblichen Einzugsbereichs, der Art der Betriebsvorgänge und der Intensität des Zu- und Abgangsverkehrs generell (typischerweise) geeignet ist, den Gebietscharakter zu stören (im Anschluss an Urteil vom 21. März 2002 – BVerwG 4 C 1.02 – BVerwGE 116, 155).
Normenkette
BauNVO §§ 2-9, 4 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
Thüringer OVG (Urteil vom 30.08.2007; Aktenzeichen 1 KO 329/06) |
VG Gera (Entscheidung vom 19.01.2006; Aktenzeichen 4 K 1000/04 Ge) |
Tenor
Die Beschwerden der Beklagten und des Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 30. August 2007 werden zurückgewiesen.
Die Beklagte und der Beigeladene tragen die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens und die außergerichtlichen Kosten der Kläger je zur Hälfte; ihre eigenen außergerichtlichen Kosten tragen sie jeweils selbst.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 000 € festgesetzt.
Tatbestand
I
Die Kläger wenden sich im Wege der Nachbaranfechtungsklage gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Dialysezentrums mit 33 Behandlungsplätzen und 17 Kfz-Stellplätzen. Das Baugrundstück des Beigeladenen und das mit einem Wohnhaus bebaute Grundstück der Kläger sind im maßgeblichen Bebauungsplan als allgemeines Wohngebiet ausgewiesen. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufungen der Beklagten und des Beigeladenen blieben erfolglos. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dass das genehmigte Dialysezentrum seiner Art nach in dem festgesetzten allgemeinen Wohngebiet unzulässig sei. Ein Dialysezentrum könne zwar als Anlage für gesundheitliche Zwecke im Sinne von § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO im allgemeinen Wohngebiet allgemein zulässig sein. Das gelte aber nicht für das genehmigte Vorhaben, weil es im Hinblick auf die mit ihm typischerweise verbundenen Auswirkungen auf die nähere Umgebung, insbesondere wegen des vorhabenbedingten Zu- und Abfahrtsverkehrs, als gebietsunverträglich anzusehen sei.
Entscheidungsgründe
II
Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützten Beschwerden der Beklagten und des Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision bleiben erfolglos. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht.
1. Die Rechtssache besitzt nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerdeführer beimessen.
1.1 Die Beklagte möchte zunächst rechtsgrundsätzlich geklärt wissen, “inwieweit tatsächlich alle in § 4 Abs. 2 BauNVO genannten im allgemeinen Wohngebiet regelhaft zulässigen Anlagen auf Grund ihrer typischen Nutzungsweise gebietsverträglich sein müssen”.
Diese Frage ist nicht mehr klärungsbedürftig. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 21. März 2002 – BVerwG 4 C 1.02 – (BVerwGE 116, 155 ≪157 ff.≫) entschieden, dass das Erfordernis der Gebietsverträglichkeit die Zulässigkeit der den einzelnen Baugebieten allgemein (regelhaft) zugewiesenen Nutzungsarten ebenso bestimmt wie die Zulässigkeit der Nutzungen (Betriebe, Anlagen), die nach dem Willen des Verordnungsgebers in den einzelnen Baugebieten ausnahmsweise zugelassen werden können. Dieses Urteil ist zwar zur Zulässigkeit von “Anlagen für Verwaltungen” ergangen, die nach § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO im allgemeinen Wohngebiet ausnahmsweise zugelassen werden können. Die grundsätzlichen Ausführungen des Urteils zum Erfordernis der Gebietsverträglichkeit beschränken sich jedoch nicht auf den in § 4 Abs. 3 BauNVO geregelten Ausnahmebereich, sondern gelten darüber hinaus für sämtliche Baugebietstypen der §§ 2 bis 9 BauNVO und gleichermaßen für die dort geregelte allgemeine Zulässigkeit bestimmter Nutzungsarten wie für alle vom Verordnungsgeber vorgesehenen Ausnahmen.
Das ungeschriebene Erfordernis der Gebietsverträglichkeit eines Vorhabens im Hinblick auf die Art der Nutzung rechtfertigt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem typisierenden Ansatz der Baugebietsvorschriften in der Baunutzungsverordnung. Der Verordnungsgeber will durch die typisierende Zuordnung von Nutzungen zu den näher bezeichneten Baugebieten die vielfältigen und oft gegenläufigen Ansprüche an die Bodennutzung “zu einem schonenden Ausgleich im Sinne überlegter Städtebaupolitik bringen” (Urteil vom 21. März 2002 a.a.O. S. 158 m.w.N.). Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die vom Verordnungsgeber dem jeweiligen Baugebiet zugewiesene allgemeine Zweckbestimmung den Charakter des Gebiets eingrenzend bestimmt. Die vom Verordnungsgeber festgelegte typische Funktion der Baugebiete, ihr Gebietscharakter, schließt das Erfordernis der Gebietsverträglichkeit der in einem Baugebiet allgemein oder ausnahmsweise zulässigen Nutzungsarten ein. Die Zulässigkeit von Nutzungen in den einzelnen Baugebieten hängt insbesondere von deren Immissionsverträglichkeit ab. Diesen rechtlichen Maßstab hat das Bundesverwaltungsgericht in zahlreichen Fällen angelegt, in denen zu entscheiden war, ob ein Vorhaben nach der Art der Nutzung in dem jeweils festgesetzten Baugebiet allgemein (regelhaft) zulässig ist (vgl. Beschlüsse vom 2. Juli 1991 – BVerwG 4 B 1.91 – NVwZ 1991, 982 zu § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO 1990 und vom 28. Juli 1988 – BVerwG 4 B 119.88 – NVwZ 1989, 50 zu § 7 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO; Urteil vom 21. Februar 1986 – BVerwG 4 C 31.83 – NVwZ 1986, 643 zu § 6 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO; vgl. auch Urteile vom 18. Mai 1990 – BVerwG 4 C 49.89 – NVwZ 1991, 264 zu § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO und vom 29. April 1992 – BVerwG 4 C 43.89 – BVerwGE 90, 140 ≪145≫ zu § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO 1977; Beschluss vom 20. Dezember 2005 – BVerwG 4 B 71.05 – NVwZ 2006, 457 zu § 8 Abs. 2 BauNVO).
Vor diesem rechtlichen Hintergrund trifft die Ansicht der Beklagten, das Erfordernis der Gebietsverträglichkeit könne allenfalls für die in § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO genannten “nicht störenden Handwerksbetriebe” und für “sonstige nicht störende Gewerbebetriebe” im Sinne von § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO Geltung beanspruchen, nicht zu. Rechtssystematisch und teleologisch ist das Erfordernis der Gebietsverträglichkeit eines Vorhabens untrennbar mit der jeweiligen spezifischen Zweckbestimmung des Baugebietstypus verbunden, die der Verordnungsgeber dem Katalog der allgemein und ausnahmsweise zulässigen Nutzungen in den Baugebietsvorschriften vorangestellt hat. Zwischen der Zweckbestimmung des Baugebiets und den jeweils zugeordneten Nutzungsarten besteht ein funktionaler Zusammenhang, der für die Auslegung und Anwendung jeder tatbestandlich normierten Nutzungsart maßgeblich ist (vgl. Urteil vom 21. März 2002 a.a.O. S. 158). Die Einbeziehung “nicht störender” Handwerks- bzw. Gewerbebetriebe in den Nutzungskatalog des § 4 BauNVO ist nur ein besonders deutlicher Beleg dafür, dass der Verordnungsgeber seine Vorstellungen über den Gebietscharakter mit dem Erfordernis der Gebietsverträglichkeit verbindet. Hieraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass der Verordnungsgeber das Erfordernis der Gebietsverträglichkeit auf Handwerks- und Gewerbebetriebe beschränken wollte.
Der von der Beklagten unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung angeführte Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Oktober 1990 – BVerwG 4 B 121.90 – (Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 5 = NVwZ 1991, 267) zu Störungen der Wohnruhe im Zusammenhang mit der freiberuflichen Berufsausübung im Sinne von § 13 BauNVO gibt keinen Anlass, Anlagen für gesundheitliche Zwecke im allgemeinen Wohngebiet (wie das hier umstrittene Dialysezentrum) vom Erfordernis der Gebietsverträglichkeit der Art der Nutzung auszunehmen. Wie im Beschluss vom 9. Oktober 1990 ausgeführt worden ist, geht der Verordnungsgeber typisierend davon aus, dass die Berufsausübung freiberuflich Tätiger im Allgemeinen – auch in Bezug auf den von ihnen ausgelösten Zu- und Abgangsverkehr – keine gebietsunverträglichen Störungen entfalten werde. Sei eine solche Störung im Einzelfall dennoch anzunehmen, könne sie nach § 15 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 BauNVO möglicherweise unterbunden werden. Nach Ansicht der Beklagten muss dies auch für Anlagen für gesundheitliche Zwecke (“Nutzungen zu Gesundheitszwecken”) gelten: Ihre “Gebietsunverträglichkeit” könne sich nicht aus einem “typischen Störpotenzial” ergeben, sondern allenfalls aus einer Einzelfallbetrachtung unter Anwendung der Maßstäbe des § 15 BauNVO. Ebenso wie im Fall freiberuflicher Berufsausübung stehe die typische Gebietsverträglichkeit von Anlagen für gesundheitliche Zwecke (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO) nach dem Willen des Verordnungsgebers fest.
Dieses Vorbringen gibt keinen Anlass, die Rechtsprechung des Senats zum Erfordernis der Gebietsverträglichkeit im Rahmen der Baugebietsvorschriften der §§ 2 bis 9 BauNVO zu modifizieren. § 13 BauNVO enthält nach Regelungszweck und Regelungsinhalt eine Sonderregelung, die auf die Ausübung freier Berufe zugeschnitten und deshalb nicht verallgemeinerungsfähig ist. Die freiberufliche Berufsausübung ist in allen Baugebieten zulässig, in den Baugebieten der §§ 2 bis 4 BauNVO in “Räumen”, in den anderen Baugebieten in “Gebäuden”. Die Beschränkung auf Räume in den Gebieten nach §§ 2 bis 4 BauNVO berücksichtigt, dass die freien Berufe wohnartig im Sinne von “gleichsam privat” und deshalb mehr oder weniger in jeder Wohnung ausgeübt werden können (Urteil vom 25. Januar 1985 – BVerwG 4 C 34.81 – ZfBR 1985, 143). Mit der Begrenzung auf Räume trägt § 13 BauNVO zugleich den Anforderungen dieser Gebiete an die Wohnruhe Rechnung (Urteil vom 18. Mai 2001 – BVerwG 4 C 8.00 – NVwZ 2001, 1284 ≪1285≫). Einer darüber hinausgehenden Differenzierung nach bestimmten “Anlagentypen” freiberuflicher Berufsausübung, an die das Kriterium der Gebietsverträglichkeit der Art der Nutzung anknüpfen könnte, sind die freiberuflichen Nutzungen in Wohngebäuden (§§ 2 bis 4 BauNVO) kaum zugänglich (vgl. auch Stock, in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 2. Auflage 2003, § 13 Rn. 22). Das unterscheidet die freiberufliche Nutzung in “Räumen” von “Anlagen für gesundheitliche Zwecke”, die ohne nähere Umschreibung in sämtlichen Baugebieten der §§ 2 bis 9 BauNVO allgemein oder ausnahmsweise zulässig sind, jedoch nach Größe, betrieblicher Ausrichtung, räumlichem Einzugsbereich und Immissionspotenzial von sehr unterschiedlicher Art (Krankenhäuser, Klinikzentren, Sanatorien, Unfallstationen, Untersuchungslabore, Bäder, Kurheime, Drogenhilfestationen) sein können und deshalb je nach ihrer Gebietsverträglichkeit den einzelnen Baugebieten zugeordnet werden müssen.
1.2 Die Beklagte wirft ferner die Frage auf, ob das Störpotenzial einer bestimmten, grundsätzlich nach § 4 Abs. 2 BauNVO zulässigen baulichen Anlage “im Wege einer typischen Bewertung (‘typisches Störpotenzial’)” zu ermitteln sei oder ob “auf ein im Einzelfall über das typische Störpotenzial hinausgehendes besonderes bzw. zusätzliches Störpotenzial der individuell zur Genehmigung gestellten Anlage” abzustellen und deshalb die Frage der Zulässigkeit des Vorhabens nach § 15 BauNVO zu beurteilen sei. Die Frage ist ebenfalls in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt.
Nach dem Senatsurteil vom 21. März 2002 – BVerwG 4 C 1.02 – (BVerwGE 116, 155 ≪158 ff.≫) gefährdet ein im allgemeinen Wohngebiet regelhaft zulässiges Vorhaben (§ 4 Abs. 2 BauNVO) den Gebietscharakter und ist gebietsunverträglich, wenn das Vorhaben – bezogen auf den Gebietscharakter des allgemeinen Wohngebiets – auf Grund seiner typischen Nutzungsweise störend wirkt. Ausgangspunkt und Gegenstand dieser typisierenden Betrachtungsweise ist das jeweils zur Genehmigung gestellte Vorhaben. Zu fragen ist, ob ein Vorhaben dieser Art generell geeignet ist, das Wohnen in einem allgemeinen Wohngebiet zu stören. Gegenstand der Betrachtung sind die Auswirkungen, die typischerweise von einem Vorhaben der beabsichtigten Art, insbesondere nach seinem räumlichen Umfang und der Größe seines betrieblichen Einzugsbereichs, der Art und Weise der Betriebsvorgänge, dem vorhabenbedingten An- und Abfahrtsverkehr sowie der zeitlichen Dauer dieser Auswirkungen und ihrer Verteilung auf die Tages- und Nachtzeiten, ausgehen (vgl. Urteile vom 21. März 2002 a.a.O. S. 159 f. und vom 21. Februar 1986 – BVerwG 4 C 31.83 – a.a.O.; Beschlüsse vom 2. Juli 1991 – BVerwG 4 B 1.91 – a.a.O. und vom 25. März 2004 – BVerwG 4 B 15.04 – BRS 67 Nr. 70). Entscheidend ist dabei nicht, ob die mit der Nutzung verbundenen immissionsschutzrechtlichen Lärmwerte eingehalten werden. Die geschützte Wohnruhe ist nicht gleichbedeutend mit einer immissionsschutzrechtlich relevanten Lärmsituation. Bei dem Kriterium der Gebietsverträglichkeit geht es um die Vermeidung als atypisch angesehener Nutzungen, die den Wohngebietscharakter als solchen stören (vgl. Urteil vom 21. März 2002 a.a.O. S. 160).
Im Rahmen dieser Beurteilung der Gebietsverträglichkeit eines Vorhabens kommt es nicht auf die konkrete Bebauung in seiner Nachbarschaft an. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass im Geltungsbereich eines ausgewiesenen Baugebiets im Grunde auf jedem Baugrundstück die nach dem Katalog der Nutzungsarten der jeweiligen Baugebietsvorschrift (§§ 2 bis 9 BauNVO) zulässige Nutzung soll in Betracht kommen können (vgl. Urteil vom 21. Februar 1986 a.a.O. S. 644). Das von der Beklagten angeführte Korrektiv des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO, für das die örtlichen Verhältnisse in der näheren Umgebung des beabsichtigten Vorhabens maßgeblich sind, greift auf dieser Ebene der Zulässigkeitsprüfung noch nicht ein. Der in § 15 Abs. 1 BauNVO geregelte Schutz der Nachbarschaft besitzt eine andere Aufgabe. Die Vorschrift ermöglicht es, die Genehmigung solcher Vorhaben zu versagen, die zwar nach Art, Größe und störenden Auswirkungen generell (typischerweise) den Gebietscharakter nicht gefährden, jedoch nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung angesichts der konkreten Verhältnisse an Ort und Stelle der Eigenart des Baugebiets widersprechen bzw. für die Nachbarschaft mit unzumutbaren Belästigungen oder Störungen verbunden sind (vgl. Urteile vom 21. Februar 1986 a.a.O. S. 644 und vom 21. März 2002 a.a.O. S. 159).
1.3 Die vom Beigeladenen erhobenen Grundsatzrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) führen ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision.
Der Beigeladene möchte zunächst geklärt wissen, ob die Grundsätze zur Beurteilung der Gebietsverträglichkeit für Sportstätten, die der beschließende Senat in seinem Beschluss vom 2. Juli 1991 – BVerwG 4 B 1.91 – (NVwZ 1991, 982) aufgestellt habe, uneingeschränkt auch für Anlagen für gesundheitliche Zwecke im Sinne von § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO gelten oder ob hier “wegen der Rechte der betroffenen Patienten” ein anderer Maßstab anzulegen sei. Der Beigeladene sieht Unterschiede zwischen einer Sportanlage und einer Anlage für gesundheitliche Zwecke (Dialysezentrum) und macht geltend, allein die Bedeutung der betroffenen Grundrechte der Patienten mache deutlich, dass Anlagen für gesundheitliche Zwecke, die jedenfalls wie hier eine medizinisch dringend notwendige und lebensverlängernde Behandlung sicherstellten und die nur kurze Patientenwege zuließen, anders als Sportanlagen im allgemeinen Wohngebiet zu bewerten seien.
Die aufgeworfene Frage ist im Anschluss an die vorstehenden Ausführungen unter 1.1 und 1.2 ohne Weiteres dahin zu beantworten, dass das Erfordernis der Gebietsverträglichkeit gleichermaßen für alle in § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO genannten, im allgemeinen Wohngebiet regelhaft zulässigen Anlagen gilt. Mit seiner Entscheidung, Anlagen für gesundheitliche Zwecke im allgemeinen Wohngebiet regelhaft zuzulassen, hat der Verordnungsgeber gerade das von der Beschwerde hervorgehobene Bedürfnis nach einer ausreichenden und wohnortnahen medizinischen Versorgung anerkannt. Das (ungeschriebene) Kriterium der Gebietsverträglichkeit steht nicht in Widerspruch zu dieser Entscheidung. Der vorliegende Streitfall wirft nicht die Frage nach dem “Ob” einer patientennahen medizinischen Versorgung der “kurzen Wege” in einem allgemeinen Wohngebiet auf, sondern die Frage, in welcher Dimension (Anzahl der Behandlungsplätze und Leistungsumfang, Einzugsbereich) eine Anlage für gesundheitliche Zwecke im allgemeinen Wohngebiet noch gebietsverträglich ist.
Der Beigeladene möchte ferner rechtsgrundsätzlich geklärt wissen, “ob und inwieweit das Interesse der Bevölkerung an einer ‘wohnortnahen’ gesundheitlichen Versorgung, das sich in § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO manifestiert, in der Lage (ist), das dem Gebietstypus entsprechende Ruhebedürfnis der Anwohner einzuschränken”. Er ist der Ansicht, der Schutz der Wohnruhe müsse in Form einer Güterabwägung dort seine Grenzen finden, wo wichtige Gemeinschaftsgüter wie die wohnortnahe gesundheitliche Versorgung beeinträchtigt würden. Auch diese Frage ist nicht in einem Revisionsverfahren klärungsbedürftig. Die Grundentscheidung für die Zulässigkeit einer wohnortnahen gesundheitlichen Versorgung in Gestalt einer Anlage für gesundheitliche Zwecke hat der Verordnungsgeber selbst in § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO getroffen, allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Anlage wohngebietsverträglich ist. Für eine Güterabwägung, wie sie der Beigeladene befürwortet, ist in dem Regelungssystem, das den Baugebietsvorschriften der Baunutzungsverordnung zugrunde liegt, kein Raum.
1.4 Die Beklagte wirft ferner als grundsätzlich bedeutsam die Frage auf,
“ob die Gesamt-Baugenehmigung für ein Bauvorhaben, die sich aus einer ursprünglichen Genehmigung für ein der Art nach identisches, aber dem Umfang nach kleineres Bauvorhaben und einer Nachtragsgenehmigung für eine Erweiterung dieses Vorhabens zusammensetzt, und aufgrund derer von vornherein nur das Bauvorhaben in der durch die Nachtragsgenehmigung veränderten Form verwirklicht wurde, auf eine Nachbarklage hin nur hinsichtlich des durch die Nachtragsgenehmigung legalisierten Teiles aufzuheben ist, soweit nur dieser durch die Nachtragsgenehmigung gedeckte Tatbestand der Erweiterung gegen nachbarschützende Vorschriften verstößt”.
Die damit aufgeworfene Frage, unter welchen Voraussetzungen die vollständige Aufhebung einer Baugenehmigung ausscheidet und nur der Teil der Genehmigung aufzuheben ist, der Nachbarrechte verletzt, würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen. Die Fragestellung der Beklagten ist auf einen Sachverhalt zugeschnitten, den das Berufungsgericht nicht festgestellt hat. Nach seiner Auslegung der “Nachtragsgenehmigung” vom 5. November 2001 hat die Beklagte gerade nicht die Erweiterung eines bereits genehmigten und ins Werk gesetzten Vorhabens, sondern ein neueres – größeres – Vorhaben genehmigt. Auf der Grundlage ihrer Sachverhaltswürdigung, gegen die zulässige und begründete Verfahrensrügen nicht erhoben worden sind, kommt die Vorinstanz zu dem Ergebnis, das genehmigte und vom Beigeladenen betriebene Dialysezentrum mit 33 Behandlungsplätzen sei nicht in der Weise teilbar, dass nur der Teil der Genehmigung, der über das ursprünglich genehmigte Vorhaben (Dialysezentrum mit 24 Behandlungsplätzen) hinausgehe, aufgehoben werden könne. Der Sache nach geht das Berufungsgericht also davon aus, dass die Beklagte die dem Beigeladenen ursprünglich erteilte Baugenehmigung durch eine weitere Baugenehmigung nachträglich ersetzt hat, nicht aber die ursprüngliche Baugenehmigung nur in einzelnen Teilen, die einer isolierten Beurteilung zugänglich sein könnten, nachträglich abgeändert hat. Fehlt es an der Teilbarkeit eines Verwaltungsakts, scheidet seine teilweise Aufhebung im Gerichtsverfahren aus (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Auflage 2007, § 113 Rn. 16 m.w.N.).
2. Die erhobenen Divergenzrügen greifen nicht durch.
2.1 Nach Ansicht der Beklagten weicht das Berufungsurteil von den Ausführungen zum Störpotenzial einer freiberuflichen Nutzung (§ 13 BauNVO – Zu- und Abgangsverkehr) im Senatsbeschluss vom 9. Oktober 1990 – BVerwG 4 B 121.90 – (Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 5 = NVwZ 1991, 267) ab. Der Zulassungsgrund der Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO setzt einen Widerspruch in der Auslegung ein und desselben abstrakten Rechtssatzes voraus. Eine solche Divergenz scheidet hier schon deshalb aus, weil die von der Beklagten angeführten Ausführungen im Senatsbeschluss vom 9. Oktober 1990 die Vorschrift des § 13 BauNVO betreffen, das Berufungsurteil hingegen zur Auslegung von § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO ergangen ist.
2.2 Die Divergenzrügen des Beigeladenen bleiben ebenfalls erfolglos.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts zum Erfordernis der Gebietsverträglichkeit weichen nicht von Rechtssätzen ab, die der Senat in seinem Urteil vom 27. August 1998 – BVerwG 4 C 5.98 – (NVwZ 1999, 523) zur Beurteilung der Zumutbarkeit des Zu- und Abgangsverkehrs auf dem Vorplatz eines Kur- und Gemeindehauses aufgestellt hat. Das vorgenannte Senatsurteil enthält keine Ausführungen zum Erfordernis der Gebietsverträglichkeit im Rahmen der Baugebietsvorschriften der Baunutzungsverordnung. Nach dem Senatsurteil vom 21. März 2002 – BVerwG 4 C 1.02 – (BVerwGE 116, 155 ≪160≫) ist – wie oben bereits unter 1.1 ausgeführt – für die Gebietsverträglichkeit eines Vorhabens nicht allein darauf abzustellen, ob die mit einem Vorhaben verbundenen Verkehrslärmimmissionen immissionsschutzrechtliche Grenzwerte einhalten oder überschreiten.
Das Berufungsurteil weicht auch nicht von dem Senatsurteil vom 21. März 2002 – BVerwG 4 C 1.02 – ab. Vielmehr wendet es die dort aufgestellten Grundsätze zum Erfordernis der Gebietsverträglichkeit auf den vorliegenden Streitfall an und sieht – wiederum in Einklang mit dem vorgenannten Senatsurteil – davon ab, die vom Beigeladenen im Rahmen der Prüfung der Gebietsverträglichkeit geforderte Interessenabwägung zwischen dem Ruhebedürfnis der Nachbarn und dem öffentlichen Interesse an einer wohnortnahen medizinischen Versorgung vorzunehmen (vgl. oben unter 1.3).
Das Berufungsgericht ist auch nicht, soweit es die Teilbarkeit des nachträglich genehmigten Vorhabens (Dialysezentrum mit 33 Behandlungsplätzen) verneint, von Rechtssätzen abgewichen, die der Senat in seinem Beschluss vom 4. Februar 2000 – BVerwG 4 B 106.99 – (NVwZ 2000, 1047) aufgestellt hat. Nach diesem Senatsbeschluss ist im Fall der Änderung einer baulichen Anlage im Sinne des § 29 BauGB Gegenstand der bebauungsrechtlichen Prüfung das Gesamtvorhaben in seiner geänderten Gestalt. In dem Beschluss heißt es jedoch weiter, dies bedeute indes nicht, dass eine zuvor erteilte Baugenehmigung ohne Weiteres gegenstandslos geworden sein müsse, weil teilweise abweichend von ihr gebaut worden sei. Eine die Änderung gestattende Genehmigung müsse sich deshalb nicht stets auf alle bebauungsrechtlichen Voraussetzungen der Zulässigkeit des Gesamtvorhabens erstrecken. Der Beschluss zieht also die Möglichkeit einer Teilbarkeit zwischen einer angefochtenen Nachtragsgenehmigung und der ursprünglich erteilten Baugenehmigung in Betracht. Diesem rechtlichen Ansatz folgt auch das Berufungsgericht. Ob eine Änderungsgenehmigung (“Nachtragsgenehmigung”) losgelöst von der ursprünglichen Baugenehmigung einer isolierten Beurteilung zugänglich ist und bei Verletzung von Nachbarrechten für sich genommen aufgehoben werden kann, weil sie nicht in einem untrennbaren inneren Zusammenhang mit der ursprünglichen Baugenehmigung steht und diese selbstständig fortbestehen kann, ist eine Frage des Einzelfalls und in erster Linie im Wege tatrichterlicher Würdigung der erteilten Genehmigungen zu klären. Dieser Aufgabe hat sich das Berufungsgericht nicht entzogen. Der Umstand, dass es dabei zu einem Ergebnis gelangt ist, das der Beigeladene nicht teilt, ist nicht geeignet, eine Divergenzrüge im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zu begründen.
3. Die von der Beklagten erhobene Aufklärungsrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist unzulässig, da sie den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht genügt. Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass sich dem Berufungsgericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung zum Erfordernis der Gebietsverträglichkeit weitere Ermittlungen in der von der Beklagten bezeichneten Richtung hätten aufdrängen müssen. Der Sache nach rügt die Beklagte die tatrichterliche Sachverhaltswürdigung und Rechtsanwendung im Einzelfall. Eine solche Kritik der vorinstanzlichen Entscheidung kann einen Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht begründen.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3, § 159 Satz 1 und § 162 Abs. 3 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Unterschriften
Dr. Paetow, Prof. Dr. Rojahn, Dr. Bumke
Fundstellen
Haufe-Index 1971185 |
BauR 2008, 954 |
IBR 2008, 417 |
VR 2008, 287 |
ZfBR 2008, 379 |
BayVBl. 2008, 542 |
DVBl. 2008, 665 |
GV/RP 2009, 248 |
KomVerw 2008, 298 |
Städtetag 2008, 38 |
BBB 2008, 47 |
FuBW 2008, 715 |
KommP BY 2008, 226 |