Entscheidungsstichwort (Thema)

Unzureichende Anhörung und ermessensfehlerhafte Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 130a VwGO

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine mündliche Anhörung kann nur dann den Anforderungen des § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO genügen, wenn sie vom Gericht aktenkundig gemacht und den Beteiligten zur Kenntnis gebracht worden ist.

2. Hat sich die Prozesssituation durch eine entscheidungserhebliche Änderung der Rechtslage wesentlich geändert, ist das Oberverwaltungsgericht verpflichtet, die Beteiligten erneut gemäß § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO anzuhören, wenn es daran festhalten will, im Beschlussverfahren nach § 130a Satz 1 VwGO zu entscheiden.

3. Hat das Oberverwaltungsgericht nach § 130a Satz 1 VwGO ermessensfehlerhaft ohne mündliche Verhandlung entschieden, verletzt dies nicht nur den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern kann auch gegen das Recht der Beteiligten auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen und damit einen absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 138 Nr. 1 VwGO begründen, wenn der Verfahrensverstoß zu einem Besetzungsfehler führt, weil Landesrecht für das Beschlussverfahren eine andere Besetzung des Gerichts vorsieht als für das Urteilsverfahren.

 

Verfahrensgang

OVG für das Land NRW (Beschluss vom 12.07.2021; Aktenzeichen 12 A 395/18)

VG Köln (Entscheidung vom 13.12.2017; Aktenzeichen 26 K 7470/16)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Juli 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

 

Tatbestand

Rz. 1

Der Kläger ist der Spitzenverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand. Er betreibt unter anderem die "Hochschule der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, Campus Hennef" (HGU). Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Betrieb der HGU einer jugendhilferechtlichen Erlaubnis bedarf, weil dort im Rahmen der dreijährigen Ausbildung zu Sozialversicherungsfachangestellten mehrmals im Jahr ein- bis siebenwöchige Vollzeitkurse durchgeführt werden, an denen auch minderjährige Auszubildende teilnehmen.

Rz. 2

Die vom Kläger erhobene Klage auf Feststellung, dass die HGU nicht der Erlaubnispflicht unterliegt, soweit sich dort Minderjährige aufhalten, hatte keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Feststellungsklage schon als unzulässig abgewiesen und darüber hinaus ausgeführt, sie "wäre" auch unbegründet. Hiergegen hat der Kläger Berufung bei dem Oberverwaltungsgericht eingelegt. Dieses hat den Beteiligten mit Schreiben der Berichterstatterin vom 27. Mai 2021 folgenden Hinweis übermittelt:

"In pp. zieht der Senat wegen der pandemiebedingten Einschränkungen von Sitzungen (auch solchen ohne mündliche Verhandlung) - wie bereits telefonisch besprochen - in Erwägung, gemäß § 130a Satz 1 VwGO über die Berufung durch Beschluss zu entscheiden, soweit der Senat diese für einstimmig begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Der Senat beabsichtigt, die Revision gegen die Entscheidung zuzulassen.

Gemäß § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO wird Ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zehn Tagen ab Erhalt dieses Schreibens gegeben."

Rz. 3

Nach Erhalt dieser Anhörungsmitteilung erklärte der Kläger mit Schriftsatz vom 7. Juni 2021 gegenüber dem Gericht, er sei mit einer Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung einverstanden und bat darum, die Revision zuzulassen. Mit weiterem Schriftsatz vom 17. Juni 2021 wies der Kläger auf das zwischenzeitliche Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) vom 3. Juni 2021 sowie auf den durch dieses Gesetz eingefügten § 45a SGB VIII hin. Dazu machte er geltend, diese Neuregelung stütze seine Rechtsposition, dass die HGU als Einrichtung mit anderer Zweckbestimmung gerade nicht von dem Erlaubnisvorbehalt des § 45 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 45a SGB VIII erfasst sei. Nach Gewährung der von ihm beantragten Akteneinsicht teilte der Kläger dem Oberverwaltungsgericht mit Schriftsatz vom 5. Juli 2021 mit, aus der Akte ergäben sich keine relevanten Erkenntnisse für die Beurteilung der streitentscheidenden Rechtsfragen, eine weitere Stellungnahme sei nicht beabsichtigt, das Gericht möge entscheiden. Das Oberverwaltungsgericht hat am 12. Juli 2021 ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130a VwGO entschieden und die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die Klage sei zwar zulässig, jedoch aus den näher dargelegten Gründen unbegründet.

Rz. 4

Mit seiner vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision rügt der Kläger neben der Verletzung materiellen Rechts, dass die Entscheidung der Vorinstanz verfahrensfehlerhaft ergangen sei. Das Oberverwaltungsgericht habe nicht im schriftlichen Verfahren nach § 130a VwGO entscheiden dürfen. Es habe daher sein Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, sodass ein absoluter Revisionsgrund gemäß § 138 Nr. 3 VwGO vorliege. Er sei bereits nicht ordnungsgemäß im Sinne von § 130a VwGO angehört worden, weil sowohl bei Erlass der Anhörungsmitteilung am 27. Mai 2021 als auch in einem Telefonat mit der Vorsitzenden des Senats mit seinem Prozessbevollmächtigten am 17. Juni 2021 im Ergebnis noch offen gewesen sei, wie das Oberverwaltungsgericht entscheiden wolle. Ebenso wenig sei eine neuerliche Anhörung zur Frage der Durchführung einer mündlichen Verhandlung erfolgt, die wegen der Änderung der Rechtslage durch Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes während des Berufungsverfahrens erforderlich geworden sei. Das Oberverwaltungsgericht habe zudem sachwidrig von § 130a Satz 1 VwGO Gebrauch gemacht, weil die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach alledem geboten gewesen sei. Zum Ablauf des Verfahrens trägt der Kläger vor, die Senatsvorsitzende habe schon vor der Anhörungsmitteilung vom 27. Mai 2021 ein Telefongespräch mit seinem Prozessbevollmächtigten geführt. Darin habe sie mitgeteilt, vom Judiz her passe die Einrichtung nicht recht unter die Regelung des § 45 SGB VIII über die Erlaubnispflicht. Dabei handle es sich aber nicht um das Ergebnis einer Vorberatung oder einer abgestimmten einheitlichen Einschätzung des Senats. Bislang liege nur ein Votum der Berichterstatterin vor. Die Senatsvorsitzende habe ein weiteres Mal am 17. Juni 2021 mit seinem Prozessbevollmächtigten telefoniert und diesem mitgeteilt, dass der Senat zwar zur Abweisung der Klage als unbegründet neige. Sie habe die in seinem Schriftsatz vom gleichen Tage mit Blick auf die Gesetzesänderung geäußerten inhaltlichen Einwände aber nachvollziehen können und erklärt, dass sich der Senat damit noch auseinandersetzen müsse. In der Gerichtsakte befinden sich keine Vermerke oder sonstige Hinweise über die beiden vom Kläger geschilderten Telefonate.

Rz. 5

Der Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung in materiell-rechtlicher Hinsicht, ohne sich zu der Frage eines Verstoßes gegen § 130a VwGO zu äußern.

 

Entscheidungsgründe

Rz. 6

Die zulässige Revision ist begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf der Verletzung von Bundesrecht, weil sie verfahrensfehlerhaft ergangen ist. Das Oberverwaltungsgericht durfte nicht gemäß § 130a VwGO im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil es den Kläger - erstens - zuvor nicht ordnungsgemäß nach § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO angehört (1.) und darüber hinaus - zweitens - ermessensfehlerhaft gemäß § 130a Satz 1 VwGO von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat (2.). Beide Verfahrensfehler begründen zugleich eine Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2, § 138 Nr. 3 VwGO). Überdies begründet der zweite Verfahrensfehler in Gestalt der ermessensfehlerhaften Anwendung des § 130a VwGO hier auch einen vom Kläger der Sache nach ebenfalls gerügten Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Jedenfalls der deswegen vorliegende absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 1 VwGO führt gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur Aufhebung der Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht (3.).

Rz. 7

1. Der Kläger ist vor der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nicht ordnungsgemäß nach § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO angehört worden. Ein revisionsrechtlich beachtlicher Verfahrensfehler ist wegen Rügeverlustes zwar noch nicht durch die schriftliche Anhörungsmitteilung des Oberverwaltungsgerichts vom 27. Mai 2021 begründet worden (a). Das Oberverwaltungsgericht ist jedoch seiner Verpflichtung zur erneuten Anhörung des Klägers gemäß § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO, die nach diesem Zeitpunkt entstanden ist, nicht ausreichend nachgekommen (b).

Rz. 8

a) Obgleich die schriftliche Anhörungsmitteilung des Oberverwaltungsgerichts vom 27. Mai 2021 nicht ordnungsgemäß war (aa), kann sich der Kläger im Revisionsverfahren auf diesen Verfahrensfehler nicht erfolgreich berufen, weil er sein Rügerecht gemäß § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 295 und 556 ZPO verloren hat (bb).

Rz. 9

aa) Die Anhörungsmitteilung des Oberverwaltungsgerichts vom 27. Mai 2021 genügte nicht den Anforderungen des § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO. Danach sind die Beteiligten vor einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung in dem Verfahren nach § 130a VwGO zu hören.

Rz. 10

Bei der Entscheidung nach § 130a VwGO handelt es sich um eine Ausnahme von der grundsätzlich im Mittelpunkt des Berufungsverfahrens stehenden mündlichen Verhandlung. Die Vorschrift verleiht dem Berufungsgericht unter bestimmten Voraussetzungen die Befugnis, auch gegen den Willen der Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu verzichten. Mit Rücksicht darauf sowie auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK werden in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an das Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen strenge Anforderungen gestellt. Das gilt auch für die nach § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO vorgeschriebene Anhörungsmitteilung. Eine ordnungsgemäße Anhörung zum Beschlussverfahren nach § 130a VwGO setzt voraus, dass die Anhörung unmissverständlich erkennen lässt, wie das Berufungsgericht zu entscheiden beabsichtigt, und zwar sowohl hinsichtlich der Verfahrensweise - ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss - als auch hinsichtlich der beabsichtigten Sachentscheidung - Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung - (stRspr, vgl. z. B. BVerwG, Urteil vom 21. März 2000 - 9 C 39.99 - BVerwGE 111, 69 ≪75 f.≫ und Beschlüsse vom 5. September 2007 - 3 B 33.07 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 75 Rn. 4 und vom 12. Juni 2018 - 9 B 4.18 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 89 Rn. 14, jeweils m. w. N.). Demgegenüber setzt eine ordnungsgemäße Anhörung nicht voraus, dass bereits zu diesem Zeitpunkt die in § 130a Satz 1 VwGO verlangte einstimmige Überzeugungsbildung des Senats vorliegen muss, auf die es erst bei der anschließenden Beschlussfassung nach § 130a VwGO ankommt (BVerwG, Urteil vom 21. März 2000 - 9 C 39.99 - BVerwGE 111, 69 ≪76≫).

Rz. 11

Den dargelegten Anforderungen genügte die schriftliche Anhörungsmitteilung vom 27. Mai 2021 schon deshalb nicht, weil sie keinerlei Festlegung dazu enthält, welche Entscheidung in der Sache getroffen werden sollte, sondern lediglich unter Wiederholung des Gesetzeswortlauts mitteilte, dass eine Entscheidung über die Berufung gemäß § 130a Satz 1 VwGO in Erwägung gezogen werde, "soweit der Senat diese für einstimmig begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält". Eine den gesetzlichen Anforderungen genügende Konkretisierung lässt sich der Anhörungsmitteilung vom 27. Mai 2021 selbst dann nicht entnehmen, wenn davon ausgegangen wird, dass es zuvor ein Telefongespräch der Senatsvorsitzenden mit dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit dem von diesem geschilderten Inhalt gegeben hat. Denn unabhängig davon, ob und inwieweit eine solche (ergänzende) mündliche Erläuterung überhaupt den formellen Anforderungen des § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO genügen kann, hat die Senatsvorsitzende jedenfalls auch in dem vom Kläger geschilderten Telefonat nicht eindeutig mitgeteilt, wie der Senat zu entscheiden beabsichtigte.

Rz. 12

bb) Der Kläger kann sich allerdings auf diesen Verstoß gegen das Anhörungserfordernis des § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO und die darauf gestützte Rüge der Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht berufen, weil er sein Rügerecht nach § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 295 und 556 ZPO bereits in der Berufungsinstanz verloren hat.

Rz. 13

Gemäß § 173 Satz 1 VwGO sind die zivilprozessualen Vorschriften über den Verlust des Rügerechts und insbesondere § 295 ZPO auch im Verwaltungsprozess anwendbar (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Dezember 1980 - 6 C 110.79 - ZBR 1982, 30 f. und Beschlüsse vom 6. Juli 1998 - 9 B 562.98 - Buchholz 303 § 391 ZPO Nr. 1 S. 2 und vom 18. Juli 2019 - 2 B 7.19 - Buchholz 303 § 295 ZPO Nr. 18 Rn. 9 m. w. N.). Das gilt auch für § 556 ZPO (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 2014 - 4 C 37.13 - NVwZ-RR 2015, 292 Rn. 19 und Beschluss vom 22. August 2000 - 2 B 47.00 - Buchholz 310 § 125 VwGO Nr. 14 S. 2). Danach kann die Verletzung einer das Verfahren der Berufungsinstanz betreffenden Vorschrift in der Revisionsinstanz nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei das Rügerecht bereits in der Berufungsinstanz nach der Vorschrift des § 295 ZPO verloren hat. § 295 Abs. 1 ZPO bestimmt, dass die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozesshandlung betreffenden Vorschrift nicht mehr gerügt werden kann, wenn die Partei auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet oder wenn sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die aufgrund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste. Die Regelung findet auch Anwendung, wenn in einem schriftlichen Verfahren entschieden werden soll. In diesen Fällen muss der Verfahrensfehler grundsätzlich in dem auf den Verfahrensfehler folgenden Schriftsatz gerügt werden (vgl. etwa Assmann, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl. 2023, § 295 Rn. 42; Prütting, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 295 Rn. 41).

Rz. 14

Der Verlust des Rügerechts ist in Fällen, in denen wie hier eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG geltend gemacht wird, nicht gemäß § 295 Abs. 2 ZPO ausgeschlossen. Danach ist § 295 Abs. 1 ZPO nicht anzuwenden, wenn Vorschriften verletzt sind, auf deren Befolgung eine Partei wirksam nicht verzichten kann. Die Vorschrift meint solche Verfahrensvorschriften, an deren Einhaltung im Sinne einer geordneten und funktionsfähigen Rechtspflege ein vorrangiges öffentliches Interesse besteht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Juli 2019 - 2 B 7.19 - Buchholz 303 § 295 ZPO Nr. 18 Rn. 12 m. w. N.). Zu diesen Vorschriften gehört Art. 103 Abs. 1 GG nicht. Trotz seiner verfassungsrechtlichen Verankerung ist der Anspruch auf rechtliches Gehör den Beteiligten zur Wahrung ihrer eigenen Interessen eingeräumt. Das gilt nicht nur für den Bereich des Zivilprozesses, sondern trifft in gleicher Weise auch auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren zu, sodass es einem Beteiligten freisteht, auf die ihm zur Wahrnehmung seiner Rechte eingeräumten Äußerungsmöglichkeiten zu verzichten (BVerwG, Beschluss vom 29. April 1983 - 9 B 1610.81 - Buchholz 310 § 55 VwGO Nr. 6 S. 2 m. w. N.). Der Kläger kann sich daher auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs im Revisionsverfahren nicht mehr berufen, wenn sich entweder aus den Umständen ergibt, dass sein Prozessbevollmächtigter auf eine Rüge des ihm bekannten Mangels verzichtet (vgl. dazu sowie zum konkludenten Rügeverzicht Beschluss vom 29. Mai 1991 - 4 B 71.91 - Buchholz 303 § 295 ZPO Nr. 12 S. 8) oder den Fehler bzw. Mangel nicht im nächsten Schriftsatz an das Gericht gerügt hat, obgleich ihm der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste. So liegt es hier.

Rz. 15

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat in seinem Schriftsatz vom 7. Juni 2021 den offensichtlichen Anhörungsmangel nicht beanstandet, obgleich ihm als Rechtskundigem zumindest hätte bekannt sein müssen, dass die schriftliche Anhörungsmitteilung des Oberverwaltungsgerichts vom 27. Mai 2021 (offensichtlich) fehlerhaft war. Im Gegenteil hat er sich nicht nur rügelos auf das weitere Verfahren nach § 130a VwGO eingelassen, sondern sogar ausdrücklich erklärt, mit der vom Oberverwaltungsgericht vorgeschlagenen Verfahrensweise einverstanden zu sein.

Rz. 16

b) Das Oberverwaltungsgericht ist jedoch seiner nach diesem Zeitpunkt entstandenen Verpflichtung zur erneuten Anhörung des Klägers gemäß § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO nicht ausreichend nachgekommen.

Rz. 17

aa) Nach den vorgenannten Regelungen war das Oberverwaltungsgericht verpflichtet, den Kläger nach dem Verlust des Rügerechts erneut anzuhören, weil sich die Prozesssituation durch eine entscheidungserhebliche Änderung der Rechtslage wesentlich geändert hat.

Rz. 18

Einer erneuten Anhörung nach § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO bedarf es, wenn ein Beteiligter auf die erste Anhörung hin wesentliche neue Tatsachen oder Rechtsausführungen vorbringt oder sich sonst die Prozesssituation wesentlich geändert hat (stRspr, vgl. z. B. BVerwG, Urteil vom 25. August 1999 - 8 C 12.98 - Buchholz 401.8 Verwaltungsgebühren Nr. 35 S. 1 und 4 ≪insofern nicht abgedruckt in BVerwGE 109, 272≫ sowie Beschlüsse vom 15. Mai 2008 - 2 B 77.07 - NVwZ 2008, 1025 ≪1026≫, vom 2. März 2010 - 6 B 72.09 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 80 Rn. 7 ff., vom 29. Juni 2020 - 2 B 37.19 - juris Rn. 21 und vom 22. März 2021 - 1 B 4.21 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 93 S. 17). Eine wesentliche Änderung der Prozesssituation kann auch eintreten, wenn sich - wie hier - das vom Berufungsgericht heranzuziehende entscheidungserhebliche materielle Recht nach der erstinstanzlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts geändert hat. Bei der Auslegung des § 130a VwGO ist die Wertung des Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gefunden hat, vorrangig zu berücksichtigen. Danach ist entscheidend, ob eine veränderte Prozesssituation - ausgehend von der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Berufungsgerichts - erstmals Rechtsfragen oder Tatsachen entscheidungserheblich werden lässt, auf die es zuvor nicht ankam und die deshalb im erstinstanzlichen Verfahren noch nicht in mündlicher Verhandlung zu erörtern waren. Art. 6 Abs. 1 EMRK gebietet in diesen Fällen grundsätzlich, dass die Beteiligten die Gelegenheit erhalten, sich zu den neuen entscheidungserheblichen Fragen in einer mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht zu äußern. Sieht das Oberverwaltungsgericht gleichwohl Gründe dafür, an der beabsichtigten Entscheidung im Beschlussverfahren nach § 130a Satz 1 VwGO festzuhalten, sind die Beteiligten auf jeden Fall erneut gemäß § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO anzuhören. Das gilt für wesentlich neue Rechtsfragen ebenso wie für neue Tatsachenfragen, weil zu beidem rechtliches Gehör in prozessordnungsgemäßer Form zu gewähren ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18. Dezember 2014 - 8 B 47.14 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 85 Rn. 7 und vom 8. März 2017 - 9 B 22.16 - juris Rn. 14). So liegt es hier.

Rz. 19

Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. Juni 2021 (BGBl. I S. 1444) zum 10. Juni 2021 hat sich die maßgebliche Rechtslage und damit die Prozesssituation wesentlich geändert. Denn durch dieses Gesetz wurde § 45a in das Achte Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB VIII) eingefügt, der eine Legaldefinition des Begriffs der "Einrichtung" enthält, und es wurde ein entsprechender Verweis auf diese Legaldefinition in § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII aufgenommen. Die Rechtsänderung betraf damit nach der insofern maßgeblichen Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts unmittelbar die zwischen den Beteiligten streitige Frage des Umfangs der Betriebserlaubnispflicht nach § 45 Abs. 1 SGB VIII. So hat sich das Oberverwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung zur Begründung der aus seiner Sicht bestehenden Erlaubnispflicht ausdrücklich auf die Neuregelung des § 45a SGB VIII gestützt, die es unter Vornahme einer umfänglichen Interpretation als Beleg dafür herangezogen hat, dass Einrichtungen, die - wie diejenige des Klägers - der Berufsausbildung von Jugendlichen dienen, dem Einrichtungsbegriff und damit dem Erlaubnisvorbehalt unterfielen, weil der Einrichtungszweck der "Ausbildung" bewusst in die Legaldefinition aufgenommen worden sei. Darüber hinaus hat das Oberverwaltungsgericht den vom Kläger für sich in Anspruch genommenen Ausnahmetatbestand der "Jugendbildungseinrichtung" (§ 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Alt. 2 SGB VIII) auch unter Verweis auf die Neuregelung des § 45a Satz 1 SGB VIII verneint, da die Regelung entsprechend dem allgemeinen Begriffsverständnis explizit zwischen "Bildung" und "Ausbildung" unterscheide, was nahelege, dass der Gesetzgeber lediglich solche Einrichtungen vom Erlaubnisvorbehalt habe ausnehmen wollen, die der (nicht berufsbezogenen) Jugendbildung dienten.

Rz. 20

bb) Der Kläger ist nach dieser Änderung der entscheidungserheblichen Rechtslage nicht ordnungsgemäß gemäß § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO angehört worden. Das insoweit allein als Anhörung in Betracht kommende Telefongespräch, das die Senatsvorsitzende nach dem Vortrag des Klägers am 17. Juni 2021 mit seinem Prozessbevollmächtigten geführt haben soll, genügt jedenfalls nicht den vorstehend dargelegten gesetzlichen Anforderungen. Dabei kann dahinstehen, ob die der Senatsvorsitzenden zugeschriebene Erklärung überhaupt als Anhörung gemeint war und verstanden werden musste. Auch wenn dies nach dem objektiven Empfängerhorizont der Fall und das Telefonat als (ergänzende) Anhörung zu verstehen sein sollte, genügte es jedenfalls nicht den Erfordernissen, die sich aus § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO an mündliche Erklärungen ergeben. Danach entspricht eine mündliche Anhörung nur dann den sich aus den vorgenannten Regelungen folgenden gesetzlichen Anforderungen, wenn sie vom Gericht aktenkundig gemacht, also schriftlich in den Akten dokumentiert, und den Beteiligten zur Kenntnis gebracht worden ist.

Rz. 21

(1) § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO schließen es - obgleich die schriftliche Anhörungsmitteilung in der Praxis üblich und aus Gründen der Rechtssicherheit sinnvoll ist (vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 125 Rn. 46 und § 130a Rn. 20; Rudisile, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand August 2022, § 125 VwGO Rn. 11 m. w. N.) - zwar nicht aus, dass eine Anhörung auch mündlich erfolgen kann (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 130a Rn. 8). Denn seinem Wortlaut nach verlangt § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO lediglich, dass die "Beteiligten [...] vorher zu hören" sind und schreibt die Schriftform nicht ausdrücklich vor.

Rz. 22

(2) Die insbesondere am Sinn und Zweck des § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO sowie an deren systematischen Bezügen orientierte Auslegung ergibt jedoch, dass eine mündliche Anhörung nur dann den gesetzlichen Anforderungen genügt, wenn sie vom Gericht hinreichend aktenkundig gemacht und den Beteiligten zur Kenntnis gebracht worden ist.

Rz. 23

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind an die Ordnungsmäßigkeit einer Anhörung in formeller und inhaltlicher Hinsicht strenge Anforderungen zu stellen, weil das damit eingeleitete Verfahren es dem Berufungsgericht ermöglicht, ohne die auch im Berufungsverfahren grundsätzlich vorgesehene mündliche Verhandlung (§ 125 Abs. 1 i. V. m. § 101 Abs. 1 VwGO) zu entscheiden (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22. April 1999 - 9 B 1037.98 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 38 S. 14 und 16, vom 5. September 2007 - 3 B 33.07 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 75 Rn. 4, vom 24. April 2017 - 6 B 17.17 - juris Rn. 11 sowie vom 22. März 2021 - 1 B 4.21 - juris Rn. 10, jeweils m. w. N.). Die Beteiligten müssen deshalb in der Anhörung unter anderem den Hinweis erhalten, dass sie sich zu dem beabsichtigten Verfahren äußern können (BVerwG, Beschlüsse vom 13. August 2015 - 4 B 15.15 - juris Rn. 5 und vom 24. April 2017 - 6 B 17.17 - juris Rn. 11). Dies macht es zunächst zwingend erforderlich, dass eine Anhörung allen Verfahrensbeteiligten übermittelt bzw. zur Kenntnis gebracht wird (vgl. bereits BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 1979 - 7 C 76.78 - Buchholz 312 EntlG Nr. 12, wonach eine Anhörungsmitteilung nur dann ordnungsgemäß ist, wenn sie den Beteiligten zugegangen und der Zugang durch das Gericht nachgewiesen ist).

Rz. 24

Dabei genügt eine mündliche Anhörung nur dann den formellen Anforderungen des § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO, wenn sie vom Gericht schriftlich dokumentiert und aktenkundig gemacht worden ist. Verleiht der Gesetzgeber, wie in § 130a VwGO geschehen, dem Berufungsgericht unter bestimmten Voraussetzungen die Befugnis, gegen den Willen der Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu verzichten, entspricht es den Grundsätzen eines fairen Verfahrens, eine hinreichende und für die Beteiligten transparente Dokumentation der Anhörungsmitteilung zu verlangen, weil diese nur so ihrer Funktion, den Beteiligten eine verfahrensangemessene Äußerungsmöglichkeit zu eröffnen, gerecht werden und damit zugleich den Wegfall der mündlichen Berufungsverhandlung teilweise kompensieren kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. März 2000 - 9 C 39.99 - BVerwGE 111, 69 ≪74≫). Eine schriftliche Dokumentation ist nach dem dargelegten Sinn und Zweck des § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO auch aus Gründen der Rechtssicherheit geboten, um einen hinreichenden Schutz vor Unsicherheiten über den Erklärungsinhalt von mündlichen Erklärungen zu gewährleisten. Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht für den (umgekehrten) Fall des Verzichts auf mündliche Verhandlung gemäß § 101 Abs. 2 VwGO bereits entschieden, dass eine dem Gericht nur fernmündlich mitgeteilte Verzichtserklärung jedenfalls dann unwirksam ist, wenn sie vom Gericht nicht so aktenkundig gemacht worden ist, dass jeder erhebliche Zweifel über den Erklärungsinhalt ausgeschlossen wird (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. November 1980 - 1 C 101.76 - Buchholz 401.8 Verwaltungsgebühren Nr. 12 S. 28 und vom 22. Juni 1982 - 2 C 78.81 - Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 13 S. 7). Für das Erfordernis einer schriftlichen Dokumentation einer mündlichen Anhörung nach § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO spricht darüber hinaus, dass die Aktenführung durch das Gericht der Schaffung einer rechtsstaatlich gebotenen Verfahrenstransparenz dient (vgl. Rudisile, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand August 2022, § 100 VwGO Rn. 6 m. w. N.). Dies erfordert die vollständige und richtige Dokumentation des wesentlichen Verfahrensgangs (vgl. für das behördliche Verfahren auch BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2022 - 6 A 7.19 - Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 77 Rn. 39 m. w. N.). Normativ kommt dies prozessordnungsrechtlich etwa in der Regelung des § 160 Abs. 2 ZPO zum Ausdruck, wonach die wesentlichen Vorgänge von gerichtlichen Verhandlungen im Sinne des § 159 ZPO in das danach zu erstellende Verhandlungsprotokoll aufzunehmen sind. Der darin enthaltene Rechtsgedanke, dass wesentliche Verfahrenshandlungen schriftlich zu dokumentieren sind, greift auch für die Anhörung gemäß § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO, die wesentlich ist, weil mit ihr abweichend von § 125 Abs. 1, § 101 Abs. 1 VwGO die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ohne Zustimmung der Beteiligten vorbereitet wird.

Rz. 25

Gemessen daran ist der Kläger nicht gemäß § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO ordnungsgemäß angehört worden. Denn das Telefonat vom 17. Juni 2021 ist weder (durch einen entsprechenden schriftlichen Vermerk der Senatsvorsitzenden) in der Gerichtsakte dokumentiert noch sind die Beteiligten, also weder der Kläger noch der Beklagte, über den Inhalt des Telefongesprächs schriftlich in Kenntnis gesetzt worden.

Rz. 26

cc) Die Rüge dieses Anhörungsmangels im Revisionsverfahren ist nicht gemäß § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 295 und 556 ZPO ausgeschlossen. In dem Umstand, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers auf das von ihm geschilderte Telefongespräch mit der Senatsvorsitzenden in seinem Schriftsatz vom 5. Juli 2021 mitgeteilt hat, das Gericht möge entscheiden, liegt weder ein (konkludenter) Verzicht auf das Rügerecht noch kann dem Kläger vorgeworfen werden, dass der Anhörungsmangel in diesem Schriftsatz nicht ausdrücklich gerügt worden ist. Denn der Prozessbevollmächtigte des Klägers kannte den formellen Mangel der nicht aktenkundig gemachten mündlichen Anhörung nicht und musste ihn zu diesem Zeitpunkt auch als Rechtskundiger nicht kennen, weil die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine mündliche Anhörung gemäß § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO zulässig ist, in der Rechtsprechung bislang nicht abschließend geklärt war.

Rz. 27

2. Das Oberverwaltungsgericht hat darüber hinaus unter Verstoß gegen § 101 Abs. 1 i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO ermessensfehlerhaft von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Dies begründet im vorliegenden Fall nicht nur eine Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO), sondern hier auch seines Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).

Rz. 28

a) Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Entscheidung darüber, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden wird, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts. Sie kann nur daraufhin überprüft werden, ob das Oberverwaltungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat, und ist seitens des Revisionsgerichts nur zu beanstanden, wenn sie auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung beruht (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004 - 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 ≪213≫ und Beschluss vom 8. Juli 2022 - 9 B 33.21 - juris Rn. 5, jeweils m. w. N.). Bei der Ausübung dieses Ermessens hat das Berufungsgericht Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gefunden hat, vorrangig zu beachten (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 2014 - 8 B 47.14 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 85 Rn. 5 m. w. N.). Hat wie hier in erster Instanz eine öffentliche mündliche Verhandlung stattgefunden, muss im Berufungsverfahren allerdings nicht stets erneut mündlich verhandelt werden. Maßgebend sind vielmehr die Besonderheiten des jeweiligen Rechtsmittelverfahrens. Danach kann eine mündliche Verhandlung entbehrlich sein, wenn die Tatsachen- und Rechtsfragen aufgrund der Aktenlage sachgerecht entschieden werden können. Umgekehrt entfaltet das Gebot, die Rechtssache auch im Interesse der Ergebnisrichtigkeit im Rahmen einer mündlichen Verhandlung mit den Beteiligten zu erörtern, eine umso stärkere Bedeutung, je vielschichtiger der Streitstoff ist und je schwieriger und komplexer die Rechtsfragen sind, die sich dem Berufungsgericht stellen. Das gilt insbesondere dann, wenn nach der erstinstanzlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine entscheidungserhebliche Änderung der Rechtslage eingetreten ist, die dazu führt, dass sich das Berufungsgericht im Instanzenzug erstmals mit den betreffenden Rechtsfragen zu befassen hat (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10. September 1998 - 8 B 102.98 - Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 40 S. 11 f. und vom 8. März 2017 - 9 B 22.16 - juris Rn. 14, jeweils m. w. N.).

Rz. 29

Nach diesen Maßstäben durfte das Oberverwaltungsgericht hier nicht durch Beschluss nach § 130a VwGO entscheiden. Es durfte zwar, ohne dass insoweit eine grobe Fehleinschätzung erkennbar wäre, davon ausgehen, dass für sich genommen weder die Komplexität des Streitstoffs noch die Schwierigkeit der aufgeworfenen Rechtsfragen als solche eine mündliche Verhandlung erforderlich gemacht haben. Es hätte aber berücksichtigen müssen, dass mit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes vom 3. Juni 2021 während des Berufungsverfahrens eine entscheidungserhebliche und wesentliche Änderung der Rechtslage eingetreten ist, zu der die Beteiligten sich im bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht in mündlicher Verhandlung äußern konnten und deren Inhalt ausweislich der ausführlichen Auslegung durch das Oberverwaltungsgericht in dem angegriffenen Beschluss auch nicht ohne Weiteres "auf der Hand" lag. Darüber hinaus hätte es in diesem Zusammenhang auch in Erwägung ziehen müssen, dass das Verwaltungsgericht die Klage als unzulässig abgewiesen und deshalb gerade noch keine verbindliche Entscheidung zur materiellen Rechtslage getroffen hatte (stRspr, vgl. z. B. BVerwG, Beschlüsse vom 29. Juli 2015 - 5 B 36.14 - juris Rn. 6 und vom 14. Dezember 2018 - 6 B 133.18 - NVwZ 2019, 649 Rn. 21, jeweils m. w. N.).

Rz. 30

b) Dieser Verstoß gegen § 101 Abs. 1 i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt wiederum den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) sowie in der vorliegenden Konstellation zusätzlich sein Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), ohne dass insoweit ein Rügeverlust eingetreten wäre.

Rz. 31

aa) Ergeht eine Entscheidung wie hier unter Verstoß gegen § 101 Abs. 1 i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO, begründet sie zugleich eine Verletzung des Anspruchs der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs und stellt damit einen absoluten Revisionsgrund im Sinne von § 138 Nr. 3 VwGO dar (BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 Rn. 26 m. w. N.).

Rz. 32

bb) Die ermessensfehlerhafte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, nach § 130a Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren durch Beschluss zu entscheiden, verletzt hier außerdem das Recht der Beteiligten auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und begründet damit einen absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 138 Nr. 1 VwGO. Nach der zuletzt genannten Vorschrift ist ein Urteil stets auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Ein die Voraussetzungen des § 138 Nr. 1 VwGO erfüllender Verstoß gegen die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann vorliegen, wenn eine durch eine fehlerhafte Entscheidung nach der Verfahrensvorschrift des § 130a Satz 1 VwGO bedingte Verletzung des Anspruchs auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts führt (vgl. BSG, Beschluss vom 12. Februar 2015 - B 10 ÜG 8/14 B - SozR 4-1720 § 198 Nr. 8 Rn. 18 m. w. N.; Neumann/Korbmacher, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 138 Rn. 38; offengelassen in BVerwG, Beschluss vom 17. November 1994 - 1 B 42.94 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 11 S. 1 und 2 m. w. N.). Das gilt jedenfalls dann, wenn sich der Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift - wie hier - als objektiv willkürliche, das heißt nicht mehr durch sachliche Erwägungen getragene Entscheidung darstellt (vgl. zum Willkürerfordernis etwa BVerwG, Beschluss vom 19. September 2018 - 8 B 2.18 - juris Rn. 14 m. w. N.). Letzteres ist mit Blick auf den engen revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstab zu § 130a Satz 1 VwGO der Fall, wonach nur dann ein beachtlicher Verfahrensverstoß gegen diese Ermessensvorschrift anzunehmen ist, wenn - wie hier und oben dargelegt - die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nach § 130a Satz 1 VwGO auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung beruht. Diese Entscheidung hat hier auch zu einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung geführt, weil nach Landesrecht für das schriftliche Verfahren nach § 130a VwGO eine andere Besetzung des Gerichts als im Urteilsverfahren vorgesehen ist. Denn nach § 9 Abs. 3 VwGO, § 109 Abs. 1 Satz 2 JustG NRW wirken die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung abweichend von § 109 Abs. 1 Satz 1 JustG NRW nicht mit, sodass die Senate des Oberverwaltungsgerichts in solchen Fällen nur in der Besetzung von drei Berufsrichterinnen oder -richtern entscheiden. Die Rüge der Verletzung der Verfahrensnorm des § 130a Satz 1 VwGO umfasst - ebenso wie bei der Verletzung des rechtlichen Gehörs - gegebenenfalls auch die Rüge der damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden fehlerhaften Besetzung des Gerichts.

Rz. 33

cc) Insoweit kann dahinstehen, ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit seinem Schriftsatz vom 5. Juli 2021 auf sein diesbezügliches Rügerecht gemäß § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 295 Abs. 1 und 556 ZPO (konkludent) verzichtet hat, indem er im Anschluss an die ihm gewährte Akteneinsicht erklärt, das Gericht möge entscheiden. Denn jedenfalls soweit hier mit der fehlerhaften Ermessensentscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO auch ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verbunden ist, ist dieses Recht gemäß § 295 Abs. 2 ZPO unverzichtbar, weil es einer geordneten und funktionsfähigen Rechtspflege dient, an der ein vorrangiges öffentliches Interesse besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1980 - 6 C 110.79 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 20 S. 6 und 9 f. und Beschluss vom 5. November 2004 - 10 B 6.04 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 41 S. 7 m. w. N.).

Rz. 34

3. Liegen wie hier mit der Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 138 Nr. 3 VwGO) und dem Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (§ 138 Nr. 1 VwGO) absolute Revisionsgründe vor, wird unwiderleglich vermutet, dass die angegriffene Entscheidung auf diesem Mangel beruht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Jedenfalls das Vorliegen des absoluten Revisionsgrundes einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 138 Nr. 1 VwGO) zwingt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an die Vorinstanz (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Rz. 35

Eine Zurückweisung der Revision gemäß § 144 Abs. 4 VwGO wegen Ergebnisrichtigkeit der angegriffenen Entscheidung kommt hier nicht in Betracht. Grundsätzlich scheidet eine Zurückweisung der Revision nach dieser Vorschrift schon deshalb aus, weil beim Vorliegen absoluter Revisionsgründe nach § 138 VwGO davon auszugehen ist, dass die gesamte Entscheidung von den Auswirkungen des wesentlichen Verfahrensmangels erfasst ist (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 15. September 2008 - 1 C 12.08 - NVwZ 2009, 59 Rn. 11). Ob § 144 Abs. 4 VwGO in dem Fall, dass allein ein absoluter Revisionsgrund im Sinne von § 138 Nr. 3 VwGO vorliegt, ausnahmsweise dann anwendbar ist, wenn sich die Versagung des rechtlichen Gehörs nicht auf das Gesamtergebnis des Verfahrens, sondern nur auf einzelne Feststellungen bezieht, auf die es für die Entscheidung nicht ankommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004 - 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 ≪221≫ und Beschluss vom 8. Juni 2021 - 9 B 26.20 - Buchholz 11 Art. 1 GG Nr. 22 Rn. 20), bedarf hier keiner Entscheidung. Denn eine solche Ausnahme greift jedenfalls für den hier ebenfalls vorliegenden Verstoß gegen den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 138 Nr. 1 VwGO nicht ein (BVerwG, Urteil vom 23. August 1996 - 8 C 19.95 - BVerwGE 102, 7 ≪11≫ m. w. N.).

Rz. 36

4. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

BVerwGE 2023, 386

NVwZ 2023, 1417

DÖV 2023, 732

DVBl. 2023, 1150

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