Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Urteil vom 30.05.2002; Aktenzeichen 11 K 4333/00) |
Tenor
Die Revision des Antragsgegners gegen das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. Mai 2002 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Revisionsverfahrens
Tatbestand
I.
Die Antragsteller wenden sich gegen die Reglementierung der nicht gewerblichen Haltung von Hunden der Rasse Rottweiler durch Vorschriften der Verordnung über das Halten gefährlicher Tiere (Gefahrtier-Verordnung – GefTVO) vom 5. Juli 2000 (Nds.GVBl S. 149).
Die Antragstellerin zu 1 ist Inhaberin eines Rottweilerzwingers. Der Antragsteller zu 2 ist Diensthundeführer, Leistungsrichter und Ausbildungsleiter im Niedersächsischen Polizeidiensthundewesen. Beide sind Mitglieder des 1907 gegründeten Allgemeinen Deutschen Rottweiler Klub e.V. (ADRK) und halten gemeinsam drei Rottweilerhündinnen, davon eine zu Zuchtzwecken. Der Antragsteller zu 3, ebenfalls Mitglied des ADRK, befasst sich mit der Ausbildung und Zucht von Rottweilern und hält zwei Rottweilerrüden. Der Antragsteller zu 4 ist Funktionsträger im Niedersächsischen Polizeidiensthundewesen und Halter einer Rottweilerhündin.
Die Gefahrtier-Verordnung ordnet in § 2 Abs. 1 für die nicht gewerbliche Haltung der in Anlage 1 genannten Hunde, unter anderem Rottweiler (Nr. 9), grundsätzlich einen Maulkorb- und Leinenzwang an. Eine Ausnahmegenehmigung kann erteilt werden, wenn der Hund einen Wesenstest bestanden hat, durch seine Haltung im Einzelfall keine Gefahr für Dritte entsteht und der Halter über die durch Vorlage eines Führungszeugnisses nachzuweisende persönliche Eignung und die notwendige Sachkunde verfügt (§ 2 Abs. 2 i.V.m. § 1 Abs. 2 GefTVO). Wesensgetestete Hunde unterliegen einer Kennzeichnungspflicht (§ 2 Abs. 2 i.V.m. § 1 Abs. 3 GefTVO). Der Hund darf außerhalb einer Privatwohnung oder eines ausbruchsicheren Grundstücks nur vom Halter persönlich oder von einer beauftragten sachkundigen Person geführt werden (§ 2 Abs. 2 i.V.m. § 1 Abs. 6 Satz 1 GefTVO). Bis zur Erteilung der Ausnahmegenehmigung ist der Leinen- und Maulkorbzwang einzuhalten (§ 5 Abs. 2 GefTVO).
Die Antragsteller haben am 15. Dezember 2000 den Normenkontrollantrag gestellt und unter Beifügung von Hilfsanträgen hauptsächlich beantragt,
§ 2 Abs. 1 GefTVO i.V.m. Anlage 1 Nr. 9 für nichtig zu erklären.
Der Antragsgegner hat beantragt,
die Anträge zurückzuweisen.
Das Oberverwaltungsgericht hat dem Hauptantrag stattgegeben und zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
Die Gefahrtier-Verordnung finde in § 55 NGefAG, der allgemeinen ordnungsbehördlichen Ermächtigungsgrundlage für Verordnungen zur Gefahrenabwehr, ihre rechtliche Grundlage. Als Teil des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts unterfalle die Gefahrtier-Verordnung der Rechtssetzungskompetenz der Länder. Die angegriffenen Regelungen gehörten auch nicht zu denjenigen wesentlichen Entscheidungen, die einem Parlamentsgesetz vorbehalten seien. Mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sei die Beschränkung der Verordnung auf den nicht gewerblichen Bereich der Hundehaltung noch hinnehmbar, weil der gewerbliche Bereich faktisch in Zukunft kaum noch Bedeutung haben werde und durch einen Erlass des Antragsgegners einem Regelungsregime unterworfen worden sei, das demjenigen der Gefahrtier-Verordnung vergleichbar sei. Dem Hauptantrag sei aber zu entsprechen, weil auch in Ansehung der dem Verordnungsgeber zustehenden grundsätzlich weiten Beurteilungs- und Einschätzungsprärogative die Einbeziehung von Hunden der Rasse Rottweiler in die Anlage 1 zu § 2 Abs. 1 GefTVO mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar sei. Zwar stützten die vorliegenden Untersuchungen zur Schadensauffälligkeit von Hunderassen trotz mangelnder statistischer Absicherung die Einschätzung des Verordnungsgebers, dass den Rassen Rottweiler und Dobermann und ihren Kreuzungen ein eine abstrakte Gefahr im polizeilichen Sinne begründendes beachtliches potenzielles Gefahrenpotenzial innewohne. Es bestehe jedoch kein hinreichender sachlicher Grund, die Haltung von Hunden dieser Rassen Einschränkungen zu unterwerfen, nicht aber die Haltung anderer Schutzhunderassen – insbesondere des Deutschen Schäferhundes –, die ein gleiches Gefahrenpotenzial aufwiesen. Rottweiler und Dobermann gehörten ebenso wie der Deutsche Schäferhund, aber auch der Boxer und die Deutsche Dogge zu den anerkannten Gebrauchshunderassen und würden seit Jahrzehnten nach festgelegten und vergleichbaren Standards gezüchtet. Der Gesichtspunkt der Verwaltungspraktikabilität entbinde den Verordnungsgeber nicht von der Verpflichtung, ein in sich stimmiges Regelungskonzept zu Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung vor gefährlichen Hunden zu verfolgen. Bei gleichem Erkenntnisstand und gleicher Gefahrenlage verstoße ein Regelungskonzept, das einen Gesamtproblembereich nur sektoral regele, gegen den Gleichheitssatz.
Der Antragsgegner begründet die Revision im Wesentlichen wie folgt: Die Einbeziehung von Rottweilern in die Anlage 1 zu § 2 Abs. 1 GefTVO verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Vorrangiges Differenzierungskriterium zu anderen großen Gebrauchshunderassen, wie Schäferhund, Boxer und Dogge, sei die gegenwärtige Nicht-Umsetzbarkeit einer umfassenderen Regelung. Eine vollständige Liste aller gefährlichen Hunderassen wäre grenzenlos und würde das Potenzial jeder Verwaltung übersteigen. Es sei vom Auswahl- und Entschließungsermessen des Verordnungsgebers gedeckt, im Wege eines “ersten Schrittes in die richtige Richtung” ein Mehr an Schutz für die Bevölkerung zu bewirken. Aus fachlicher Sicht seien Differenzierungen bei den großen Gebrauchshunderassen in Bezug auf das Gefährdungspotenzial zulässig.
Der Antragsgegner beantragt,
das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. Mai 2001 aufzuheben und den Antrag der Antragsteller abzulehnen.
Die Antragsteller beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie wiederholen ihr Vorbringen aus der Vorinstanz und tragen ergänzend vor: Nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts stehe fest, dass weder die soziale Akzeptanz noch die potenzielle Gefährlichkeit im Hinblick auf Größe, Beißkraft, Aggressivität und Schadensauffälligkeit als sachgerechte Differenzierungskriterien für die Haltung von Rottweilern und anderen großen Gebrauchshunderassen in Betracht kämen. Das Argument der Verwaltungskapazität dürfe nicht zu einer willkürlichen Anwendung des Gleichheitssatzes führen. Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts verstoße die Aussparung der gewerblichen Haltung aus dem Anwendungsbereich der Verordnung gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich zur Rechtmäßigkeit von Rassebenennungen in Rechtsvorschriften zur Bekämpfung gefährlicher Hunde geäußert.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts verletzt zwar Bundesrecht, erweist sich aber aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO).
Die angegriffenen Vorschriften der Gefahrtier-Verordnung (§ 2 Abs. 1 i.V.m. Anlage 1 Nr. 9 GefTVO) können kraft Bundesrechts nicht auf § 55 Abs. 1 Nr. 4 des Niedersächsischen Ge-fahrenabwehrgesetzes (NGefAG) i.d.F. vom 20. Februar 1998 (Nds.GVBl S. 101) gestützt werden. Diese Bestimmung ermächtigt das Innenministerium und im Einvernehmen mit ihm die Fachministerien, für das Land oder für Teile des Landes, an denen mehr als ein Regierungsbezirk beteiligt ist, Verordnungen zur Abwehr abstrakter Gefahren zu erlassen. Die Regelungen des § 2 Abs. 1 GefTVO beruhen ebenso wie diejenigen des § 1 GefTVO (s. dazu das Urteil des erkennenden Senats vom 3. Juli 2002 – BVerwG 6 CN 8.01 –) auf der Annahme, dass von bestimmten Hunden allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu den in der Anlage 1 genannten Rassen eine abstrakte Gefahr ausgeht. Nach den vorliegenden Feststellungen besteht jedoch lediglich ein entsprechender Verdacht. Ein bloßer Gefahrenverdacht rechtfertigt kein Einschreiten der Sicherheitsbehörden in Form einer Rechtsverordnung auf der Grundlage der polizeilichen Generalermächtigung. Vielmehr müssen Eingriffe der staatlichen Verwaltung in die Freiheitssphäre der Hundehalter zum Zwecke der Gefahrenvorsorge nach rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätzen in einem besonderen Gesetz vorgesehen sein. Das Oberverwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung diesen bundesrechtlichen Gesichtspunkt verkannt und damit gegen revisibles Recht verstoßen. Dies wirkt sich im Ergebnis allerdings nicht aus, weil es dem Normenkontrollantrag wegen einer Verletzung des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG entsprochen hat, auf die hier nicht mehr einzugehen ist.
Aus dem rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungssystem (Art. 20 Abs. 1 und 3, Art. 28 Abs. 1 GG) folgt, dass in einem Gesetz, durch das die Exekutive zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt wird, Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt werden. Das Parlament soll sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft nicht dadurch entäußern können, dass es einen Teil der Gesetzgebungsmacht der Exekutive überträgt, ohne die Grenzen dieser Kompetenzen bedacht und diese nach Tendenz und Programm so genau umrissen zu haben, dass schon aus der Ermächtigung erkennbar und vorhersehbar ist, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll. Das Erfordernis hinreichender Bestimmtheit stellt die notwendige Ergänzung und Konkretisierung des aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes dar. Welche Bestimmtheitsanforderungen im Einzelnen erfüllt sein müssen, hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Regelungsgegenstandes sowie der Intensität der Maßnahme, namentlich der Grundrechtsrelevanz der Regelung ab (vgl. BVerfGE 58, 257, 277 f.; BVerwGE 110, 253, 255 f.).
Das Oberverwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass die Verwendung der polizeilichen Generalklausel als Grundlage sicherheitsbehördlicher Verordnungen unter den genannten verfassungsrechtlichen Aspekten unbedenklich ist, weil sie in jahrzehntelanger Entwicklung durch Rechtsprechung und Lehre nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend präzisiert, in ihrer Bedeutung geklärt und im juristischen Sprachgebrauch verfestigt ist (vgl. BVerfGE 54, 143, 144). § 55 NGefAG ermächtigt die genannten Stellen zum Erlass von Verordnungen zur Abwehr abstrakter Gefahren. Die abstrakte Gefahr ist nach § 2 Nr. 2 NGefAG eine nach allgemeiner Lebenserfahrung oder den Erkenntnissen fachkundiger Stellen mögliche Sachlage, die im Fall ihres Eintritts eine Gefahr i.S. des § 2 Nr. 1 NGefAG darstellt, das heißt eine Sachlage, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit eintreten wird. Gegen diese Umschreibungen ist aus bundesrechtlicher Sicht nichts zu erinnern; sie geben zutreffend wieder, was herkömmlich unter einer Gefahr im Sinne des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts verstanden wird.
Das Oberverwaltungsgericht hat jedoch übersehen, dass aus der landesgesetzlichen Übernahme des überkommenen Gefahrenbegriffs nicht nur die Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigung in § 55 NGefAG, sondern darüber hinaus auch eine Begrenzung ihrer Reichweite folgt. Die Vorschrift ist nur insoweit als Grundlage für den Erlass einer sicherheitsbehördlichen Verordnung geeignet, als mit ihr Gefahren bekämpft werden sollen, die dem genannten Gefahrenbegriff entsprechen. Werden die durch diesen Begriff gezogenen Grenzen überschritten, so liegt darin zugleich ein Verstoß gegen Bundesrecht, weil die Einhaltung dieser Grenzen unter dem Gesichtspunkt des Gebots einer hinreichend bestimmten Ermächtigungsgrundlage für Verordnungen bundesverfassungsrechtlich geboten ist. Diese bundesrechtliche Begrenzung der Verordnungsgebung nach § 55 NGefAG hat das Oberverwaltungsgericht verkannt.
Der klassische Gefahrenbegriff, der auch dem niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz zugrunde liegt, ist dadurch gekennzeichnet, dass “aus gewissen gegenwärtigen Zuständen nach dem Gesetz der Kausalität gewisse andere Schaden bringende Zustände und Ereignisse erwachsen werden” (vgl. Urteil des PrOVG vom 15. Oktober 1894, PrVBl 16, 125, 126). Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können, begründen keine Gefahr, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht oder ein “Besorgnispotenzial” (vgl. Urteil vom 19. Dezember 1985 – BVerwG 7 C 65.82 – BVerwGE 72, 300, 315). Das allgemeine Gefahrenabwehrrecht bietet keine Handhabe, derartigen Schadensmöglichkeiten im Wege der Vorsorge zu begegnen. Die Befugnisse und Ermächtigungen der Verwaltungsbehörden und der Polizei nach dem niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz umfassen Vorsorgemaßnahmen nicht ausdrücklich. Die entsprechenden Vorschriften lassen sich aber auch nicht in diesem Sinne erweiternd auslegen, indem der Exekutive, wie es das Oberverwaltungsgericht für geboten hält, eine “Einschätzungsprärogative” in Bezug darauf zugebilligt wird, ob die vorliegenden Erkenntnisse die Annahme einer abstrakten Gefahr rechtfertigen. Denn eine solche Einschätzungsprärogative ist dem in Generalklauseln nach Art des § 55 NGefAG gefassten allgemeinen Recht der Gefahrenabwehr fremd.
Maßgebliches Kriterium zur Feststellung einer Gefahr ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (vgl. Urteil vom 26. Februar 1974 – BVerwG 1 C 31.72 – BVerwGE 45, 51, 57). Das trifft nicht nur für die “konkrete” Gefahr zu, die zu Abwehrmaßnahmen im Einzelfall berechtigt, sondern auch für die den sicherheitsrechtlichen Verordnungen zugrunde liegende “abstrakte” Gefahr. Die abstrakte Gefahr unterscheidet sich von der konkreten Gefahr nicht durch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, sondern durch den Bezugspunkt der Gefahrenprognose oder, wie der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 26. Juni 1970 – BVerwG 4 C 99.67 – (DÖV 1970, 713, 715) gesagt hat, durch die Betrachtungsweise: Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann; eine abstrakte Gefahr ist gegeben, wenn eine generell-abstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall einzutreten pflegt und daher Anlass besteht, diese Gefahr mit generell-abstrakten Mitteln, also einem Rechtssatz zu bekämpfen; das hat zur Folge, dass auf den Nachweis der Gefahr eines Schadenseintritts im Einzelfall verzichtet werden kann (vgl. auch Beschluss vom 24. Oktober 1997 – BVerwG 3 BN 1.97 – Buchholz 418.9 TierSchG Nr. 10). Auch die Feststellung einer abstrakten Gefahr verlangt mithin eine in tatsächlicher Hinsicht genügend abgesicherte Prognose: Es müssen – bei abstrakt-genereller Betrachtung – hinreichende Anhaltspunkte vorhanden sein, die den Schluss auf den drohenden Eintritt von Schäden rechtfertigen. Dabei liegt es im Wesen von Prognosen, dass die vorhergesagten Ereignisse wegen anderer als der erwarteten Geschehensabläufe ausbleiben können. Von dieser mit jeder Prognose verbundenen Unsicherheit ist die Ungewissheit zu unterscheiden, die bereits die tatsächlichen Grundlagen der Gefahrenprognose betrifft. Ist die Behörde mangels genügender Erkenntnisse über die Einzelheiten der zu regelnden Sachverhalte und/oder über die maßgeblichen Kausalverläufe zu der erforderlichen Gefahrenprognose nicht im Stande, so liegt keine Gefahr, sondern – allenfalls – eine mögliche Gefahr oder ein Gefahrenverdacht vor. Zwar kann auch in derartigen Situationen ein Bedürfnis bestehen, zum Schutz der etwa gefährdeten Rechtsgüter, namentlich höchstrangiger Rechtsgüter wie Leben und körperlicher Unversehrtheit von Menschen, Freiheitseinschränkungen anzuordnen. Doch beruht ein solches Einschreiten nicht auf der Feststellung einer Gefahr; vielmehr werden dann Risiken bekämpft, die jenseits des Bereichs feststellbarer Gefahren verbleiben. Das setzt eine Risikobewertung voraus, die – im Gegensatz zur Feststellung einer Gefahr – über einen Rechtsanwendungsvorgang weit hinausgeht und mehr oder weniger zwangsläufig neben der Beurteilung der Intensität der bestehenden Verdachtsmomente eine Abschätzung der Hinnehmbarkeit der Risiken sowie der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz der in Betracht kommenden Freiheitseinschränkungen in der Öffentlichkeit einschließt, mithin – in diesem Sinne – “politisch” geprägt oder mitgeprägt ist (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats – 3. Kammer – vom 28. Februar2002 – 1 BvR 1676/01 – DVBl 2002, 614). Eine derart weit reichende Bewertungs- und Entscheidungskompetenz steht den Polizei- und Ordnungsbehörden aufgrund der Verordnungsermächtigungen nach Art des § 55 NGefAG nicht zu. Denn es wäre mit den dargelegten Grundsätzen der Bestimmtheit gesetzlicher Ermächtigungen zu Rechtsverordnungen der Exekutive und des Vorbehalts des Gesetzes nicht vereinbar, wenn die Exekutive ohne strikte Bindung an den überlieferten Gefahrenbegriff kraft eigener Bewertung über die Notwendigkeit oder Vertretbarkeit eines Verordnungserlasses entscheiden könnte. Die rechtsstaatliche und demokratische Garantiefunktion der sicherheitsrechtlichen Verordnungsermächtigungen wäre in Frage gestellt, könnte die Exekutive nach diesen Vorschriften bereits einen mehr oder minder begründeten Verdacht zum Anlass für generelle Freiheitseinschränkungen nehmen. Vielmehr ist es Sache des zuständigen Gesetzgebers, sachgebietsbezogen darüber zu entscheiden, ob, mit welchem Schutzniveau (vgl. hierzu Urteil vom 19. Dezember 1985, a.a.O., S. 316) und auf welche Weise Schadensmöglichkeiten vorsorgend entgegen gewirkt werden soll, die nicht durch ausreichende Kenntnisse belegt, aber auch nicht auszuschließen sind (vgl. Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 2002, S. 65 m.w.N.). Allein der Gesetzgeber ist befugt, unter Abwägung der widerstreitenden Interessen die Rechtsgrundlagen für Grundrechtseingriffe zu schaffen, mit denen Risiken vermindert werden sollen, für die – sei es aufgrund neuer Verdachtsmomente, sei es aufgrund eines gesellschaftlichen Wandels oder einer veränderten Wahrnehmung in der Bevölkerung – Regelungen gefordert werden. Das geschieht üblicherweise durch eine Absenkung der Gefahrenschwelle in dem ermächtigenden Gesetz von der “Gefahrenabwehr” zur “Vorsorge” gegen drohende Schäden (vgl. etwa § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG, § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG, § 6 Abs. 2 GenTG, § 7 BBodSchG). Demgegenüber ist in § 55 NGefAG ausschließlich von “Gefahrenabwehr”, nicht hingegen von “Vorsorge” oder “Vorbeugung” die Rede. Auch darin zeigt sich positivrechtlich, dass dem Gefahrenbegriff nicht aus sich heraus eine Erstreckung auf die Aufgabe der Risiko- oder Gefahrenvorsorge innewohnt.
Das Oberverwaltungsgericht hat eine abstrakte Gefahr im Sinne der Verordnungsermächtigung des § 55 Abs. 1 Nr. 4 NGefAG für gegeben erachtet, ohne auf die bundesrechtlich gebotene Abgrenzung zur Gefahrenvorsorge einzugehen. Der erkennende Senat kann nach den vorliegenden Feststellungen und der Erörterung in der mündlichen Verhandlung in dieser Frage selbst entscheiden, weil es weiterer Sachaufklärung nicht bedarf.
Die angegriffene Regelung der Gefahrtier-Verordnung findet in § 55 Abs. 1 Nr. 4 NGefAG keine Rechtsgrundlage. Sie knüpft daran an, dass ein Hund einer bestimmten Rasse der Anlage 1 zu § 2 Abs. 1 GefTVO zugehört. Daran ändert es nichts, dass der Verordnungsgeber bei der Bildung des Rassenkatalogs weitere, hier nicht zu würdigende Kriterien herangezogen hat, um die Auswahl der in die Liste aufgenommenen Hunde aus der großen Zahl von Hunden vergleichbarer Größe und Beißkraft zu rechtfertigen (vgl. S. 14 des angefochtenen Urteils). Aus der Zugehörigkeit zu einer Rasse allein lässt sich aber nach dem Erkenntnisstand der Fachwissenschaft nicht ableiten, dass von den Hundeindividuen Gefahren ausgehen. Zwar mag der Verdacht bestehen, dass Hunde der hier in Rede stehenden Rasse Rottweiler genetisch bedingt ein höheres Aggressionsverhalten als andere Hunde aufweisen. Es ist jedoch in der Wissenschaft umstritten, welche Bedeutung diesem Faktor neben zahlreichen anderen Ursachen – Erziehung und Ausbildung des Hundes, Sachkunde und Eignung des Halters sowie situative Einflüsse – für die Auslösung aggressiven Verhaltens zukommt. Insbesondere liegen weder aussagekräftige Statistiken oder sonstiges belastbares Erfahrungswissen noch genetische Untersuchungen vor. Das Oberverwaltungsgericht spricht selbst von einem “potenziellen Gefahrenpotenzial”. Insoweit schätzen die Beteiligten, wie die mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Senat bestätigt hat, die Erkenntnislage im Wesentlichen übereinstimmend ein, so dass sich weitere Darlegungen erübrigen.
Dem die erhöhte Besteuerung von so genannten Kampfhunden betreffenden Urteil des 11. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Januar 2000 – BVerwG 11 C 8.99 – (BVerwGE 110, 265) liegt keine andere Beurteilung der Gefährdungslage zugrunde. Im Gegenteil hat der 11. Senat in diesem Urteil ausgeführt, die beklagte Gemeinde verfolge mit der Aufzählung bestimmter, unwiderleglich als Kampfhunde angesehener Hunderassen im Steuertatbestand nicht in erster Linie oder gar ausschließlich einen im engeren Sinn “polizeilichen” Zweck der Gefahrenabwehr. Vielmehr bestehe das Lenkungsziel auch darin, ganz generell und langfristig im Gemeindegebiet solche Hunde zurückzudrängen, die aufgrund bestimmter Züchtungsmerkmale eine “potenzielle Gefährlichkeit” aufwiesen. Da aus der nur potenziellen Gefährlichkeit bei Hinzutreten anderer Faktoren jederzeit eine akute Gefährlichkeit erwachsen könne, sei es sachgerecht, “bereits an dem abstrakten Gefahrenpotenzial anzuknüpfen” (a.a.O. S. 275; vgl. auch den erläuternden Beschluss vom 10. Oktober 2001 – BVerwG 9 BN 2.01 – Buchholz 401.65 Hundesteuer Nr. 7 S. 12 f.). In dem genannten Urteil vom 19. Januar 2000 ist mit Blick auf andere, möglicherweise nicht weniger gefährliche Hunderassen als die in der Steuersatzung genannten Rassen weiterhin ausgeführt, dass den erstgenannten Rassen die größere soziale Akzeptanz zugute komme, die die so genannten Wach- und Gebrauchshunde in der Bevölkerung genössen (a.a.O. S. 276 f.). Dieser Hinweis verdeutlicht, dass auch der Urheber der damals umstrittenen Hundesteuersatzung, der als kommunaler Satzungsgeber über einen anderen und größeren normativen Gestaltungsspielraum verfügte als der Urheber der Niedersächsischen Gefahrtierverordnung, bei der näheren Bestimmung der Hunderassen, die er der erhöhten Besteuerung unterwarf, nicht auf ein gesichertes Erfahrungswissen über besonders gefährliche Hunderassen zurückgreifen konnte, sondern dass insoweit u.a. – gewissermaßen ersatzweise – Gesichtspunkte der sozialen Akzeptanz von Bedeutung waren, die für die Feststellung einer Gefahr im Sinne des allgemeinen Rechts der Gefahrenabwehr ohne Belang sind.
Fehlt es demnach an ausreichenden Belegen für einen kausalen Zusammenhang zwischen Rassezugehörigkeit und Schadenseintritt und somit an einer abstrakten Gefahr aufgrund der Rassezugehörigkeit, erlaubt das allgemeine Gefahrenabwehrrecht keine Maßnahmen des Verordnungsgebers, die allein an die Rassezugehörigkeit anknüpfen. Derartige Regelungen gehören zur Gefahrenvorsorge und bedürfen, wie dargelegt, einer speziellen gesetzlichen Grundlage. Namentlich hat der Gesetzgeber die etwaige Einführung so genannter Rasselisten selbst zu verantworten.
Demgegenüber kann nicht eingewandt werden, es sei offenkundig, dass von Hunden im Allgemeinen und von solchen bestimmter Größe und Beißkraft in erhöhtem Maße eine abstrakte Gefahr im Sinne des allgemeinen Sicherheitsrechts ausgeht, zu deren Bekämpfung die zuständigen Behörden nach Maßgabe des jeweiligen Landesrechts die zulässigen Maßnahmen ergreifen könnten. Denn die niedersächsische Gefahrtier-Verordnung knüpft nicht an diejenigen Gefahren an, die wegen der Unberechenbarkeit des tierischen Verhaltens mit der Haltung von Hunden allgemein oder von solchen bestimmter Größe oder Beißkraft verbunden sind. Vielmehr sieht der Verordnungsgeber Hunde bestimmter Rassen und eines bestimmten Typs als besonders gefährlich an, wobei der Beitrag dieser Merkmale zur Gefährlichkeit des einzelnen Hundes ungeklärt ist. Das Regelungskonzept der Verordnung lässt es nicht zu, die Aufzählung in Anlage 1 zu § 2 Abs. 1 GefTVO als Benennung besonders gefährlicher Hunde aufzufassen, die nicht wegen ihrer genetischen Herkunft, sondern wegen anderer bei ihnen typischerweise gegebenen Merkmale wie etwa ihrer Größe oder Beißkraft erfasst werden. Das erkennende Gericht ist bei der Beurteilung der Rechtsgültigkeit der Verordnung an das ihr zugrunde liegende Regelungskonzept gebunden und darf dieses nicht durch ein anderes Konzept ersetzen. Infolgedessen kommt es nicht darauf an, dass der Verordnungsgeber möglicherweise bereits nach der geltenden Gesetzeslage zur Abwehr der von Hunden unzweifelhaft ausgehenden Gefahren eine rechtsgültige Verordnung mit anderem Inhalt hätte erlassen können. Auch wenn diese Frage – wofür vieles spricht – zu bejahen wäre, würde das an dem dargestellten Rechtsmangel des hier umstrittenen Regelungswerks nichts ändern.
Auch der vom Oberverwaltungsgericht erwähnte Grundsatz, dass im Hinblick auf die Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter – Leben und körperliche Unversehrtheit von Menschen – bereits die entferntere Möglichkeit eines Schadenseintritts zur Begründung einer (abstrakten) Gefahr ausreichen kann, eröffnet dem Verordnungsgeber nach § 55 NGefAG nicht die Möglichkeit, zur Gefahrenabwehr an die Zugehörigkeit eines Hundes zu einer Rasse oder einem Typ anzuknüpfen. Richtig ist, dass der Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, der für die Annahme einer Gefahr erforderlich ist, von der Größe und dem Gewicht des drohenden Schadens abhängt: Die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts muss umso größer sein, je geringer der möglicherweise eintretende Schaden ist, und sie darf umso kleiner sein, je schwerer der etwa eintretende Schaden wiegt (vgl. Urteil vom 2. Juli 1991 – BVerwG 1 C 4.90 – BVerwGE 88, 348, 351). Gleichwohl muss auch dann, wenn ein schwerwiegender Schaden befürchtet wird, aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung oder den Erkenntnissen fachkundiger Stellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit für den Eintritt dieses Schadens sprechen. Von solchen (echten) Gefahrenlagen sind diejenigen Fälle zu unterscheiden, in denen – wie hier – wegen erheblicher Erkenntnislücken lediglich ein Gefahrenverdacht besteht. In diesen Fällen kommen nach dem allgemeinen Recht der Gefahrenabwehr in erster Linie Maßnahmen zur weiteren Erforschung des Sachverhaltes in Betracht. Dagegen sind Maßnahmen, die über die Abklärung des Verdachts hinaus auf die Abwehr der vermuteten Gefahr gerichtet sind, ohne spezialgesetzliche Ermächtigung zur Gefahrenvorsorge grundsätzlich nicht zulässig, und zwar auch dann nicht, wenn höchstrangige Rechtsgüter auf dem Spiel stehen. Zwar setzt die Feststellung einer Gefahr nicht notwendig die genaue Kenntnis der zum Schadenseintritt führenden Kausalverläufe voraus; vielmehr lässt sich ein bestehender Ursachenzusammenhang und damit die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts – namentlich wenn es um die Feststellung abstrakter Gefahren geht – auch indirekt mit Hilfe statistischer Methoden nachweisen. Doch liegen, wie bereits erwähnt, hinsichtlich der erhöhten Gefährlichkeit bestimmter Hunderassen derzeit weder aussagekräftige Statistiken noch sonstige gesicherte Erkenntnisse vor, auf die der Antragsgegner sich beim Erlass der Gefahrtier-Verordnung hätte stützen können.
Der erkennende Senat hat erwogen, ob der Gesichtspunkt des Gefahrerforschungseingriffs dazu führen kann, dass die angegriffenen Bestimmungen nach allgemeinem Gefahrenabwehrrecht sich als zulässig erweisen. Dieser Gesichtspunkt könnte es aber allenfalls rechtfertigen, dass Hunde bestimmter Rassen einem Wesenstest zugeführt werden müssen und dass nach Bestehen dieses Tests keine weiteren Anforderungen an die Hundehaltung gestellt werden, weil dann der Gefahrenverdacht ausgeräumt ist. Die Gefahrtier-Verordnung beruht jedoch auch in Bezug auf die in Anlage 1 erwähnten Hunderassen und Kreuzungen nicht auf einem solchen Konzept. Denn der Verordnungsgeber geht davon aus, dass trotz des Bestehens des Wesenstests eine erhöhte Gefährlichkeit weiter gegeben ist. Die Anforderungen nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 und 3 GefTVO an die sichere Haltung und die Eignung und Sachkunde des Halters sowie die Pflichten zur Kennzeichnung und die besonderen Gebote hinsichtlich der Führung des Hundes nach § 1 Abs. 3 und 6 GefTVO beanspruchen Geltung auch nach bestandenem Wesenstest (§ 2 Abs. 2 GefTVO). Ob und ggf. welche Bedeutung der Kostenregelung gemäß § 1 Abs. 7 GefTVO in diesem Zusammenhang zukommt, kann dahingestellt bleiben.
Das Fehlen einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage führt zur Nichtigkeit der angegriffenen Bestimmung des § 2 Abs. 1 i.V.m. Anlage 1 Nr. 9 GefTVO. Die Vorschriften des § 2 Abs. 2 GefTVO sowie des § 5 Abs. 2 GefTVO, soweit sich diese Bestimmung auf § 2 GefTVO bezieht, sind damit ebenfalls hinfällig, auch wenn dies in Ermangelung eines entsprechenden Antrags der Revisionsbeklagten nicht in die Urteilsformel aufgenommen ist.
Es besteht kein Anlass, die angegriffene Regelung trotz ihrer Rechtswidrigkeit ganz oder teilweise für weiter anwendbar zu erklären. Daher kann unentschieden bleiben, ob ein derartiger Ausspruch gemäß § 47 Abs. 5 VwGO überhaupt in Betracht kommt. Namentlich ist der notwendige Schutz der Bevölkerung vor den von Hunden ausgehenden Gefahren in Anbetracht der vorhandenen Mittel vor allem des Strafrechts und des allgemeinen Sicherheitsrechts gewahrt. Die weitergehenden Schutzvorkehrungen in den angegriffenen Bestimmungen der Gefahrtier-Verordnung sind zur Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, die nur bei völliger Unzulänglichkeit der getroffenen Schutzmaßnahmen verletzt ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 2002, a.a.O., m.w.N.), nicht unverzichtbar.
- Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Bardenhewer, Hahn, Gerhardt, Büge, Graulich
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 03.07.2002 durch Thiele, Justizobersekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen