Verfahrensgang
OVG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 18.02.2016; Aktenzeichen 1 A 11083/14) |
VG Trier (Urteil vom 22.07.2014; Aktenzeichen 1 K 618/14.TR) |
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. Februar 2016 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
Rz. 1
Die Kläger, staatenlose Palästinenser aus Syrien, wenden sich gegen die Feststellung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), dass ihnen aufgrund der Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht.
Rz. 2
Die Kläger, eine Mutter und ihre beiden... und... geborenen Söhne, verließen Syrien im Jahr 2012 und reisten nach Bulgarien ein. Dort wurde ihnen mit Entscheidung vom 7. Mai 2013 subsidiärer Schutz gewährt. Im November 2013 reisten die Kläger über Rumänien, Ungarn und Österreich weiter in die Bundesrepublik Deutschland und stellten hier am 29. November 2013 erneut Asylanträge.
Rz. 3
Am 22. Januar 2014 richtete das Bundesamt an die bulgarische staatliche Flüchtlingsverwaltung ein Wiederaufnahmegesuch, das diese mit Schreiben vom 28. Januar 2014 ablehnte. Aufgrund des den Klägern in Bulgarien bereits gewährten subsidiären Schutzes seien die Wiederaufnahmeregelungen der Dublin III-Verordnung vorliegend nicht anwendbar. Zuständige bulgarische Behörde sei die dortige Grenzpolizei.
Rz. 4
Mit Bescheid vom 19. März 2014 stellte das Bundesamt ohne inhaltliche Prüfung der Asylanträge fest, dass den Klägern aufgrund ihrer Einreise aus Bulgarien als einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht (Ziffer 1), und ordnete ihre Abschiebung nach Bulgarien an (Ziffer 2).
Rz. 5
Die gegen den Bescheid erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 22. Juli 2014 ab. Das Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 18. Februar 2016 die Abschiebungsanordnung nach Bulgarien aufgehoben, die Berufung der Kläger im Übrigen aber zurückgewiesen. Die Feststellung, dass den Klägern in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht zusteht, sei rechtmäßig, weil die Kläger aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG nach Deutschland eingereist seien (§ 26a Abs. 1 Satz 1 und 2, § 31 Abs. 4 AsylG). Jedenfalls Österreich sei ein sicherer Drittstaat. Die Anordnung der Abschiebung nach Bulgarien sei hingegen schon wegen der nicht geklärten Übernahmebereitschaft Bulgariens rechtswidrig.
Rz. 6
Mit der vom Senat zugelassenen Revision haben die Kläger insbesondere geltend gemacht, das Dublin-Regime sei auch nach Gewährung subsidiären Schutzes weiterhin anwendbar, weil nach der Übergangsregelung in Art. 49 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO vorliegend noch auf die Dublin II-VO abzustellen sei. Die ursprünglich begründete Zuständigkeit Bulgariens sei im Verlauf des Verfahrens nach der Dublin II-VO auf Deutschland übergegangen.
Rz. 7
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass die Asylanträge nunmehr jedenfalls nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig seien.
Rz. 8
Mit Beschluss vom 23. März 2017 - 1 C 20.16 - (juris) hat der Senat das Verfahren ausgesetzt und eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu Fragen betreffend die Auslegung unter anderem von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a, Art. 52 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU und Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) eingeholt. Der EuGH hat über diese Fragen durch Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim u.a. - entschieden. Mit einem weiteren, in zwei anderen Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Beschluss hat der EuGH eine auch im vorliegenden Verfahren bedeutsame Klarstellung zur Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU getroffen (EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 [ECLI:EU:C:2019:964], Hamed u.a. -).
Rz. 9
Die Kläger tragen im fortgesetzten Revisionsverfahren vor, nach der Entscheidung des EuGH sei zwar geklärt, dass die Bestimmung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegend in zeitlicher Hinsicht Anwendung finden kann. Gleichwohl könne die Feststellung in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides im Streitfall nicht in eine Feststellung der Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umgedeutet werden, weil die Lebensumstände für Schutzberechtigte in Bulgarien so prekär seien, dass die Schwelle zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung erreicht werde. Den Klägern drohe dort insbesondere die Obdachlosigkeit. Gegebenenfalls wäre der Rechtsstreit zur weiteren Aufklärung dieser Lebensumstände an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.
Rz. 10
Die Beklagte trägt vor, Schwachstellen fielen nach den Entscheidungen des EuGH nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichten, wobei es auch auf das persönliche Verhalten eines Antragstellers ankomme. Das Berufungsgericht habe zur allgemeinen Lage in Bulgarien keine Feststellungen getroffen und sich bisher auch keinen persönlichen Eindruck von den Klägern verschafft. Der Rechtsstreit sei daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Entscheidungsgründe
Rz. 11
Die Revision der Kläger, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hat Erfolg. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, der auf die nationale Drittstaatenregelung gestützte Bescheid des Bundesamts sei rechtmäßig, weil die Republik Österreich, über die die Kläger eingereist sind, ein sicherer Drittstaat im Sinne von Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG sei, verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Als Mitgliedstaat der Europäischen Union ist Österreich schon kein Drittstaat im Sinne der genannten Regelungen. Ob der angefochtene Bescheid in eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umgedeutet werden kann, kann der Senat mangels tatsächlicher Feststellungen zu den Lebensbedingungen anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien nicht abschließend entscheiden. Das Verfahren ist daher zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Rz. 12
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist das Asylgesetz in seiner aktuellen Fassung (derzeit in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 ≪BGBl. I S. 1798≫, zuletzt geändert durch das am 26. November 2019 in Kraft getretene Zweite Gesetz zur Anpassung des Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 vom 20. November 2019 ≪BGBl. I S. 1626≫ - AsylG -). Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz eintreten, sind im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Fassung zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts oder vorrangigen Unionsrechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 12).
Rz. 13
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur die unter Ziffer 1 des Bescheides des Bundesamts vom 19. März 2014 getroffene Feststellung, dass den Klägern aufgrund ihrer Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht. Die Abschiebungsanordnung ist im Revisionsverfahren nicht mehr streitgegenständlich, da das Oberverwaltungsgericht sie aufgehoben hat und das Urteil insoweit rechtskräftig geworden ist.
Rz. 14
Zutreffend hat das Berufungsgericht die von den Klägern erhobene Anfechtungsklage als statthaft angesehen. Die Feststellung des Bundesamts, dass den Klägern aufgrund ihrer Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht, entspricht nach aktuellem Recht einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG (vgl. näher unter 1.1) und ist deshalb mit der Anfechtungsklage anzugreifen (vgl. BVerwG, Urteile vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 - BVerwGE 157, 18 Rn. 16 ff. und vom 1. Juni 2017 - 1 C 9.17 - Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 3 Rn. 15).
Rz. 15
1. Die Auffassung des Berufungsgerichts, der angefochtene Bescheid (Ziffer 1) sei in Anwendung von § 26a Abs. 1 Satz 1 und 2, § 31 Abs. 4 AsylG rechtmäßig, weil die Kläger über Österreich und damit aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG nach Deutschland eingereist seien (§ 26a Abs. 1 Satz 1 und 2, § 31 Abs. 4 AsylG), verletzt Bundesrecht. Die auf die nationale Drittstaatenregelung gestützte Feststellung, dass den Klägern gemäß §§ 26a, 31 Abs. 4 Satz 1 AsylG aufgrund ihrer Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht, ist rechtswidrig.
Rz. 16
1.1 Die angefochtene Entscheidung ist an der während des Revisionsverfahrens am 6. August 2016 in Kraft getretenen Regelung des § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939) zu messen. Denn jedenfalls seit der Einfügung dieser Vorschrift kann ein Asylantrag im Hinblick auf einen sicheren Drittstaat nicht mehr "nur nach § 26a AsylG" abgelehnt werden, sondern nur noch im Wege einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 (i.V.m. § 26a) AsylG unter Beachtung der dort genannten Voraussetzungen. Die im Asylgesetz zuvor vorgesehene Möglichkeit, einen Asylantrag "nur nach § 26a" Asyl(Vf)G abzulehnen, indem (lediglich) festgestellt wurde, dass dem Antragsteller aufgrund seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht (im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG) zusteht, und sodann ohne inhaltliche Prüfung des internationalen Schutzes eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Asyl(Vf)G zu erlassen, ist durch die nunmehr in § 29 Abs. 1 Nr. 3 (i.V.m. § 26a) AsylG vorgesehene, den gesamten Asylantrag im Sinne von § 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG erfassende Unzulässigkeitsentscheidung ersetzt worden. Dies legt schon die systematische Auslegung nahe. § 29 Abs. 1 AsylG dient erkennbar der (konzentrierten) Umsetzung der in der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 S. 60) (fakultativ) vorgesehenen Unzulässigkeitsgründe. Angesichts dieser speziellen und ausdrücklichen Regelungen, die in § 29 Abs. 1 Nr. 3 und 4 AsylG erkennbar auch die drittstaatenbezogenen Unzulässigkeitsgründe der Richtlinie umsetzen, ist die Frage, ob auch das bisherige, hinsichtlich des internationalen Schutzes rudimentäre nationale Regelungskonzept den unionsrechtlichen Rechtsgrundlagen (ggf. im Wege unionsrechtskonformer Auslegung) genügte, obsolet geworden. Dass es in diesen Fällen nunmehr stets einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG bedarf, entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers. Das bisher in § 31 Abs. 4 Satz 1 AsylG geregelte Erfordernis, bei einer Ablehnung des Asylantrags nur auf Grundlage der Regelung zu sicheren Drittstaaten (§ 26a AsylG) festzustellen, dass dem Ausländer kein Asylrecht zusteht, ist mit dem Integrationsgesetz gestrichen worden. Dies wird im Gesetzentwurf damit begründet, diese Feststellung sei nicht mehr erforderlich; vielmehr sei der Antrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG als unzulässig abzulehnen (BT-Drs. 18/8615 S. 52). Die - nur unzureichend angepassten - Regelungen in § 31 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 4 AsylG sind nach alledem so zu lesen, dass an die Stelle der Wendung "nur nach § 26a" nunmehr - genauer - die Formulierung "nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG" tritt.
Rz. 17
Der Anwendbarkeit des § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG auf den vorliegenden Rechtsstreit steht nicht die Übergangsbestimmung in Art. 52 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU entgegen. Nach dieser Vorschrift wenden die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften nach Art. 51 Abs. 1 der Richtlinie auf förmlich gestellte Anträge auf internationalen Schutz nach dem 20. Juli 2015 oder früher an. Für vor diesem Datum förmlich gestellte Anträge und vor diesem Datum eingeleitete Verfahren zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft gelten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften nach Maßgabe der Richtlinie 2005/85/EG. Vorliegend wurde der Asylantrag zwar vor dem 20. Juli 2015 gestellt. Der EuGH hat diese Übergangsbestimmung auf die im Vorlagebeschluss des Senats zu Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU (umgesetzt durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) gestellte Frage jedoch dahin ausgelegt, dass sie es (aufgrund der Wendung in Satz 1 "oder früher") einem Mitgliedstaat gestattet, eine unmittelbare Anwendung der nationalen Bestimmung zur Umsetzung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie auf noch nicht bestandskräftig beschiedene Asylanträge vorzusehen, die vor dem 20. Juli 2015 und vor dem Inkrafttreten der nationalen Bestimmung gestellt worden sind (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 64 f., 69, 74). Die Erfordernisse der Rechtssicherheit und der Gleichheit vor dem Gesetz werden in Deutschland durch § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG gewahrt, der gewährleistet, dass Anträge auf internationalen Schutz, die im selben Zeitraum im deutschen Hoheitsgebiet gestellt und beim Inkrafttreten von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG noch nicht bestandskräftig beschieden worden sind, vorhersehbar und einheitlich geprüft werden (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 66 - 68). Aus diesen Ausführungen folgt entsprechend, dass auch gegen die Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG in intertemporaler Hinsicht im Streitfall keine unionsrechtlichen Bedenken bestehen.
Rz. 18
1.2 Nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein Staat, der bereit ist, den Ausländer wieder aufzunehmen, als für den Ausländer sicherer Drittstaat gemäß § 26a AsylG betrachtet wird. Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Wie der Senat bereits in seinem Vorlagebeschluss vom 23. März 2017 - 1 C 17.16 - (BVerwGE 158, 271 Rn. 12 ff.) ausgeführt hat, kann sicherer Drittstaat in diesem Sinne bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung nur ein Staat sein, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union ist.
Rz. 19
Zwar ist die Drittstaatenregelung des § 26a AsylG, an die § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG anknüpft, weiter gefasst. Sichere Drittstaaten sind gemäß § 26a Abs. 2 AsylG, der Art. 16a Abs. 2 GG entspricht, nämlich alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie die in Anlage I des Asylgesetzes bezeichneten Staaten, zu denen derzeit nur Norwegen und die Schweiz zählen. Dieser weite Anwendungsbereich der deutschen Drittstaatenregelung steht jedoch nicht im Einklang mit der Richtlinie 2013/32/EU. Er ist wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts dahin einzuschränken, dass der Verweis auf einen sicheren Drittstaat jedenfalls bei der Versagung internationalen Schutzes nur hinsichtlich der Staaten der Anlage I möglich ist. In Bezug auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Union darf hingegen von dem im nationalen Recht geregelten Konzept sicherer Drittstaaten kein Gebrauch gemacht werden. Diese Vorgabe des Unionsrechts ergibt sich aus Art. 33 Abs. 2 Richtlinie 2013/32/EU, der die Gründe, aus denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten dürfen, abschließend aufzählt (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 76 und vom 19. März 2020 - C-564/18 [ECLI:EU:C:2020:218] - Rn. 29 f.). Danach kommen als unionsrechtliche Grundlage für eine nationale Drittstaatenregelung Art. 33 Abs. 2 Buchst. b und c Richtlinie 2013/32/EU in Betracht. Diese Vorschriften verweisen auf die in Art. 35 und 38 der Richtlinie geregelten Konzepte des ersten Asylstaats bzw. des sicheren Drittstaats, erklären diese jedoch jeweils nur in Bezug auf Staaten für anwendbar, die keine Mitgliedstaaten sind. Ob das Konzept des sicheren europäischen Drittstaats nach Art. 39 der Richtlinie ebenfalls zu einer Unzulässigkeitsentscheidung berechtigt, obwohl es in Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie nicht genannt ist, kann der Senat offenlassen. Denn auch dieses Konzept zielt nicht auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sondern auf europäische Staaten, die (noch) nicht deren Mitglied sind (vgl. Vedsted-Hansen, in: Hailbronner/Thym ≪Hrsg.≫, EU Immigration and Asylum Law, Second Edition 2016, Part D IV Art. 39 Rn. 3).
Rz. 20
Von dieser Begrenzung auf Drittstaaten im Sinne des Unionsrechts ist wohl auch der deutsche Gesetzgeber bei Erlass des § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ausgegangen, wenngleich er dies nicht durch eine Änderung von § 26a Abs. 2 AsylG zum Ausdruck gebracht hat. Denn aus den Materialien zu § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG geht hervor, dass mit Drittstaaten im Sinne des § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG nur solche Staaten gemeint sind, die durch Aufnahme in Anlage I des Asylgesetzes als sicherer Drittstaat eingestuft worden sind (vgl. Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 18/8883 S. 7). Dies schließt die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aus, da diese keiner Eintragung bedürfen (ebenso bereits BVerwG, Beschluss vom 23. März 2017 - 1 C 17.16 - BVerwGE 158, 271 Rn. 13 f.).
Rz. 21
2. Das Berufungsurteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Bei einer rechtswidrigen Unzulässigkeitsentscheidung ist vor einer Aufhebung zu prüfen, ob diese in eine andere Unzulässigkeitsentscheidung umgedeutet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 40). Diese Frage kann der Senat auf der Grundlage der vorhandenen tatrichterlichen Feststellungen nicht abschließend beantworten.
Rz. 22
2.1 Die angefochtene Drittstaatenentscheidung kann jedenfalls nicht auf der Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG aufrechterhalten bzw. in eine Entscheidung nach dieser Vorschrift ("Dublin-Bescheid" wegen internationaler Unzuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland) umgedeutet werden. Bei dem hier gegebenen Sachverhalt kommt vielmehr ausschließlich eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in Betracht. Dies ergibt sich aus der Antwort des EuGH auf die Vorlagefrage 2 des Senats. Da die Asylanträge vorliegend zwar vor dem 1. Januar 2014, die Wiederaufnahmegesuche aber erst nach diesem Zeitpunkt gestellt worden sind, gilt für die Wiederaufnahmegesuche nach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO bereits die Dublin III-VO. In einem solchen Fall kann ein Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat nicht im Rahmen der durch diese Verordnung festgelegten Verfahren wirksam darum ersuchen, einen Angehörigen eines Drittstaats (wieder) aufzunehmen, der im ersten Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem ihm im zweiten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist. Die Ablehnung eines solchen Antrags auf internationalen Schutz kann nur durch eine - insoweit speziellere - Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU erfolgen und nicht durch eine Überstellungsentscheidung ohne Prüfung gemäß Art. 26 der Dublin III-VO (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 78 f.; s.a. Beschluss vom 5. April 2017 - C-36/17 [ECLI:EU:C:2017:273], Ahmed - Rn. 39 und 41).
Rz. 23
2.2 Ob Ziffer 1 des Bescheides als Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG aufrecht erhalten bleiben kann, kann der Senat nicht abschließend entscheiden. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.
Rz. 24
2.2.1 Die rechtswidrige Drittstaatenentscheidung unterliegt im laufenden Gerichtsverfahren nur dann nicht der gerichtlichen Aufhebung, wenn sie im Wege der Umdeutung nach § 47 VwVfG durch eine andere - rechtmäßige - Regelung ersetzt werden kann. Sie kann nicht schon als solche auf anderer Rechtsgrundlage aufrecht erhalten bleiben, weil es sich bei einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG im Vergleich zu einer Drittstaatenentscheidung, die aktuell einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG entspricht, wegen der unterschiedlichen Rechtsfolgen prozessual um einen anderen Streitgegenstand handelt (vgl. BVerwG, Urteile vom 16. November 2015 - 1 C 4.15 - BVerwGE 153, 234 Rn. 27 - 29 und vom 1. Juni 2017 - 1 C 9.17 - Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 3 Rn. 20). Zwar ist der Asylantrag bei beiden Unzulässigkeitsgründen nach § 29 Abs. 1 AsylG unzulässig mit der Folge, dass in Deutschland keine Sachprüfung stattfindet und nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG nur über das Vorliegen nationaler Abschiebungsverbote zu entscheiden ist. Die weiteren Rechtsfolgen unterscheiden sich aber. Im Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ist nach § 34a AsylG vorrangig eine Abschiebungsanordnung zu erlassen, im Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hingegen gemäß § 35 AsylG eine Abschiebungsandrohung, die einer Fristsetzung bedarf. Abschiebungsanordnung und Abschiebungsandrohung stellen unterschiedliche Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung dar, die auch nicht teilidentisch sind (vgl. näher BVerwG, Beschluss vom 23. Oktober 2015 - 1 B 41.15 - NVwZ 2015, 1779 Rn. 15). Beide Unzulässigkeitsgründe unterscheiden sich zudem dadurch, dass in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Entscheidung des Bundesamts nach § 37 Abs. 1 AsylG bei Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch das Verwaltungsgericht unwirksam wird und das Bundesamt in diesen Fällen das Verfahren fortzuführen hat.
Rz. 25
2.2.2 Ob die Voraussetzungen für eine Umdeutung der angefochtenen Regelung in eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegen, kann der Senat auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen tatrichterlichen Feststellungen nicht abschließend entscheiden.
Rz. 26
Bei der Umdeutung (Konversion) wird die im Verwaltungsakt getroffene Regelung nicht lediglich auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt, sondern durch eine andere (rechtmäßige) Regelung ersetzt. Hierzu sind - bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 47 VwVfG - nicht nur die Behörden, sondern auch die Verwaltungsgerichte ermächtigt. Eine Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes ist damit nicht verbunden. Eine Umdeutung ist auch noch im Revisionsverfahren möglich, sofern die das Revisionsgericht bindenden tatrichterlichen Feststellungen ausreichen, den Beteiligten rechtliches Gehör gewährt worden ist und sie in ihrer Rechtsverteidigung nicht beeinträchtigt sind (BVerwG, Urteil vom 16. November 2015 - 1 C 4.15 - BVerwGE 153, 234 Rn. 30 m.w.N.).
Rz. 27
Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann ein fehlerhafter und damit rechtswidriger Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Dies gilt nach § 47 Abs. 2 VwVfG nicht, wenn der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes (Satz 1). Eine Umdeutung ist ferner unzulässig, wenn der fehlerhafte Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden dürfte (Satz 2). Eine Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen kann, kann nach § 47 Abs. 3 VwVfG nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden. Nach § 47 Abs. 4 VwVfG ist § 28 VwVfG entsprechend anzuwenden.
Rz. 28
Grundsätzliche Bedenken gegen die Umdeutung einer Drittstaatenentscheidung in eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bestehen danach nicht (a). Die Umdeutung scheitert auch nicht daran, dass § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG aus Gründen vorrangigen Unionsrechts auf den vorliegenden Rechtsstreit intertemporal noch nicht anwendbar wäre (b). Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hätte von der erlassenden Behörde in der geschehenen Form und Verfahrensweise rechtmäßig erlassen werden können (c). Die formellen Voraussetzungen für den Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung sind erfüllt (d). Hingegen fehlt es an hinreichenden Feststellungen zur Beurteilung der Frage, ob die - in Anwendung der Rechtsprechung des EuGH unionsrechtskonform zu ergänzenden - materiellen Voraussetzungen für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegen (e).
Rz. 29
a) Grundsätzliche Bedenken gegen die Umdeutung einer Drittstaatenentscheidung in eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bestehen nicht. Beide sind grundsätzlich auf das gleiche Ziel gerichtet, nämlich auf die Ablehnung einer sachlichen Prüfung der Asylanträge und auf die Abschiebung der Kläger nach Bulgarien (§ 34a Abs. 1 Satz 1 bzw. § 35 AsylG). Die Rechtsfolgen einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wären für die Kläger jedenfalls nicht ungünstiger. Die Umdeutung widerspräche auch nicht der erkennbaren Absicht des Bundesamts, ohne sachliche Prüfung der Asylanträge den Aufenthalt der Kläger (falls möglich) zu beenden. Beide Unzulässigkeitsentscheidungen sind gesetzlich gebundene Entscheidungen. Den Beteiligten ist die Möglichkeit einer Umdeutung jedenfalls seit der mündlichen Verhandlung vom 23. März 2017 und dem daraufhin ergangenen Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH (Beschluss des Senats vom 23. März 2017 - 1 C 20.16 - juris) bekannt, so dass sie sich in ihrer Rechtsverteidigung darauf einstellen konnten.
Rz. 30
b) § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG findet als Rechtsgrundlage in intertemporaler Hinsicht auf den vorliegenden Rechtsstreit Anwendung. Ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass des anderen Verwaltungsaktes im Sinne von § 47 Abs. 1 VwVfG erfüllt sind, beurteilt sich entgegen anderslautender Äußerungen in der Literatur nicht notwendig nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Umdeutung (vgl. etwa Peuker, in: Knack/Henneke, VwVfG, 11. Aufl. 2020, § 47 Rn. 13; Schulz, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 47 Rn. 45), sondern anhand des allgemein für einen solchen Verwaltungsakt maßgeblichen Zeitpunkts. Abzustellen ist demnach hier grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts. Der erst während des Revisionsverfahrens in Kraft getretene § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist indes zu berücksichtigen, weil ihn das Tatsachengericht, wenn es jetzt entschiede, gemäß § 77 AsylG ebenfalls zu berücksichtigen hätte (s.o.).
Rz. 31
Der Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auf die hier vor dem 20. Juli 2015 gestellten Asylanträge steht auch nicht die Übergangsbestimmung in Art. 52 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU entgegen. Dies hat der EuGH auf das Vorabentscheidungsersuchen des Senats geklärt (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 64 f., 69, 74); auf die obigen Ausführungen unter 1.1 wird zur näheren Begründung Bezug genommen. Soweit der Senat im Beschluss vom 23. Oktober 2015 - 1 B 41.15 - NVwZ 2015, 1779 Rn. 11 der Sache nach eine gegenteilige Auffassung vertreten hat, hält er daran nicht mehr fest.
Rz. 32
c) Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hätte von der erlassenden Behörde - dem Bundesamt - in der geschehenen Form und Verfahrensweise rechtmäßig erlassen werden können. § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG verpflichtet das Bundesamt in verfahrensrechtlicher Hinsicht dazu, den Ausländer zu den Gründen nach Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b bis Nr. 4 persönlich anzuhören, bevor es über die Zulässigkeit eines Asylantrags entscheidet. Diese Vorschrift setzt Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU um, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, den Antragstellern Gelegenheit zu geben, sich zu der Anwendung der Gründe nach Art. 33 der Richtlinie in ihrem besonderen Fall zu äußern, bevor die Asylbehörde über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz entscheidet. Hierzu führen die Mitgliedstaaten im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung eine persönliche Anhörung durch. In einem solchen Verfahren mit persönlicher Anhörung wurde auch der hier angefochtene Drittstaatenbescheid erlassen (vgl. die auch vom Berufungsgericht erwähnten Niederschriften über die persönlichen Gespräche am 21. und 29. November 2013).
Rz. 33
d) Die formellen Voraussetzungen für den Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung sind erfüllt (§ 47 Abs. 1 VwVfG a.E.). Den Anforderungen des § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG wurde hier im Ergebnis entsprochen, ungeachtet dessen, dass der fragliche Unzulässigkeitsgrund zum Zeitpunkt der Anhörungen noch nicht galt. Zwar hat das Berufungsgericht hierzu keine Feststellungen getroffen und lediglich (in anderem Zusammenhang) auf die Niederschriften über die persönlichen Gespräche am 21. und 29. November 2013 hingewiesen. Der Senat kann die im Verwaltungsvorgang befindliche Niederschrift über das persönliche Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates vom 21. November 2013 sowie die Niederschrift über die Befragung zur Vorbereitung der Anhörung gemäß § 25 AsylVfG vom 29. November 2013, deren protokollierter Verlauf von keinem Beteiligten bestritten wird, aber eigenständig auswerten. Eine gegenteilige, für das Revisionsgericht nach § 137 Abs. 2 VwGO grundsätzlich bindende Tatsachenfeststellung hat das Berufungsgericht nicht getroffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. November 2017 - 1 C 39.16 - BVerwGE 161, 1 Rn. 35). Ausweislich dieser Niederschriften sind die Kläger der Sache nach noch in dem erforderlichen Umfang zu einer Unzulässigkeitsentscheidung angehört worden.
Rz. 34
e) Ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegen, ist auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen, für den Senat bindenden Tatsachenfeststellungen nicht abschließend zu beurteilen.
Rz. 35
aa) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat; davon erfasst ist auch der subsidiäre Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU. Diese Voraussetzungen liegen hier vor, weil den Klägern nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher für den Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz vor ihrer Weiterreise nach Deutschland in Bulgarien subsidiärer Schutz gewährt worden ist.
Rz. 36
bb) Liegen demnach die geschriebenen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung nach dieser Regelung nach der Rechtsprechung des EuGH aus Gründen vorrangigen Unionsrechts gleichwohl ausnahmsweise ausgeschlossen sein. Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Antragsteller bzw. Kläger als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist (vgl. nunmehr ausdrücklich EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. - Rn. 35; s.a. Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 88). Es ist damit geklärt, dass Verstöße gegen Art. 4 GRC im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sind, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen.
Rz. 37
Auf die Vorlage des Senats hat der EuGH außerdem im Urteil "Ibrahim" - in Anlehnung an das Urteil "Jawo" vom gleichen Tag - den Maßstab für eine Verletzung von Art. 4 GRC durch die Lebensbedingungen im Staat der Schutzgewährung näher konkretisiert. Danach fallen systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt und die dann erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 89 - 91 sowie - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - Rn. 91 - 93; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. - Rn. 39).
Rz. 38
Der bloße Umstand, dass die Lebensverhältnisse in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat, nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie gerecht werden, vermag angesichts der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens die Ausübung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU vorgesehenen Befugnis nicht einzuschränken, solange die zuvor beschriebene Erheblichkeitsschwelle des Art. 4 GRC nicht überschritten ist (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 92). Auch der Umstand, dass subsidiär Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Antragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, steht nicht schon für sich genommen der Ablehnung eines (neuerlichen) Antrags auf internationalen Schutz als unzulässig entgegen (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 93 f.). Systemische Mängel des Asylverfahrens selbst mögen zwar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den Mitgliedstaat rechtfertigen, der subsidiären Schutz gewährt hat, schränken aber ebenfalls die Befugnis der übrigen Mitgliedstaaten nicht ein, einen neuen Antrag als unzulässig abzulehnen (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 95 - 100).
Rz. 39
Nach diesen Maßstäben kann der Senat über die Frage, ob eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hier ausnahmsweise deshalb rechtswidrig ist, weil die Lebensverhältnisse für subsidiär Schutzberechtigte in Bulgarien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC gleichkommen, nicht abschließend entscheiden. Denn das Berufungsgericht hat - auf der Grundlage seines abweichenden rechtlichen Ansatzes konsequent - keinerlei tatsächliche Feststellungen zu den Lebensumständen für subsidiär Schutzberechtigte in Bulgarien getroffen. Die Aufhebung der Abschiebungsanordnung beruhte nicht auf der Annahme, dass dieser Personenkreis in Bulgarien mit einem Leben in extremer materieller Not zu rechnen hat, das einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichkäme, sondern darauf, dass die Übernahmebereitschaft Bulgariens nicht geklärt sei.
Rz. 40
Andererseits lässt sich nicht von vornherein ausschließen, dass die Lebensbedingungen für anerkannte subsidiär Schutzberechtigte in Bulgarien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC gleichkommen. Hierbei ist auch die besondere Situation des jeweils Betroffenen zu berücksichtigen. Die Kläger haben geltend gemacht, in Bulgarien weder medizinische noch finanzielle Unterstützung zu erhalten. Bulgarien gehört zu den Mitgliedstaaten, in denen die Frage einer gegen Art. 4 GRC verstoßenden Situation extremer materieller Not in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung regelmäßig zumindest näher problematisiert wird, wenngleich das Erreichen der erforderlichen hohen Erheblichkeitsschwelle seit dem Bekanntwerden der Urteile "Ibrahim" und "Jawo" des EuGH im Ergebnis regelmäßig verneint worden ist (vgl. zuletzt etwa OVG Schleswig, Urteil vom 25. Juli 2019 - 4 LB 12/17 - juris; OVG Bautzen, Urteil vom 13. November 2019 - 4 A 947/17.A - juris; OVG Münster, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A - juris; s.a. OVG Hamburg, Urteil vom 18. Dezember 2019 - 1 Bf 132/17.A - juris). Die danach ausgelöste gerichtliche Pflicht, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob in Bulgarien entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, die die Kläger der Art. 4 GRC verletzenden Gefahr extremer materieller Not aussetzen würden (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 88 f.), ist tatrichterliche Aufgabe. Der Rechtsstreit ist daher zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Rz. 41
3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Fundstellen
Dokument-Index HI13910004 |