Leitsatz (amtlich)
1. Für eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bedarf es einer Gefahrenprognose anhand des Maßstabs der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit; hierbei müssen sich die Tatsachengerichte auch bei unklarer Erkenntnislage die nach § 108 Abs. 1 VwGO erforderliche Überzeugungsgewissheit verschaffen.
2. Ein nicht vorverfolgt ausgereister Schutzsuchender trägt die (materielle) Beweislast für eine ihm bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung.
3. Auch bei einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG bedarf es einer Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund.
Verfahrensgang
OVG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 21.03.2018; Aktenzeichen 2 L 238/13) |
VG Schwerin (Entscheidung vom 25.09.2013; Aktenzeichen 5 A 402/11 As) |
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger, nach eigenen Angaben ein 1987 geborener syrischer Staatsangehöriger, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Rz. 2
Der Kläger reiste Anfang 2010 in das Bundesgebiet ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung gab er an, er sei in Syrien Anhänger der Yekiti-Partei gewesen und von dort geflohen, nachdem eine Parteiversammlung von Sicherheitskräften überfallen worden sei. Wehrdienst habe er von Ende März 2006 bis Anfang April 2008 abgeleistet.
Rz. 3
Mit Bescheid vom 24. Februar 2011 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet ab. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen und drohte dem Kläger die Abschiebung nach Syrien an. Mit Bescheid vom 23. März 2012 stellte es ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG fest und hob die Abschiebungsandrohung auf.
Rz. 4
Die auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage hat beim Verwaltungsgericht keinen Erfolg gehabt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Beklagte hingegen mit Urteil vom 21. März 2018 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Es hat seine Entscheidung damit begründet, dass dem nicht vorverfolgt ausgereisten Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien wegen seiner Entziehung von der Reservedienstpflicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohe. In Fortführung der zu diesem Maßstab entwickelten Rechtsprechung könne eine volle richterliche Überzeugung der Prognose beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender Verfolgung auch dann vorliegen, wenn wegen der Schwierigkeiten der Erkenntnisgewinnung eine eindeutige Faktenlage nicht ermittelt werden könne, sondern in der Gesamtsicht der Erkenntnisse ausreichende Anhaltspunkte für eine Prognose sowohl in die eine wie in die andere Richtung vorlägen, also eine Situation vorliege, die einem non liquet vergleichbar sei. Ob syrischen Staatsangehörigen, die sich der Pflicht zur jederzeitigen Verfügbarkeit für die Ableistung des Reservedienstes in der syrischen Armee durch Flucht nach Europa entzogen hätten, bei Rückkehr Verfolgung drohe, werde in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt. Nach Auswertung der Erkenntnismittel lasse die Faktenlage keine eindeutigen Rückschlüsse oder Prognosen zu. Danach drohe bei Rückkehr die Einziehung zum Reservedienst und bestehe wegen der damit verbundenen Ermittlungen die Gefahr der Misshandlung. Es sei auch nicht ausgeschlossen, dass von den Sicherheitskräften der Vorwurf erhoben werde, Verbindungen zur Opposition zu haben oder dass in der Nichterfüllung des Reservedienstes eine oppositionelle Gesinnung gesehen werde. Zwar werde diese Verdächtigung nicht systematisch erhoben, sondern hänge von weiteren Faktoren ab. Vielfach bleibe es bei der zwangsweisen Durchsetzung der Reservedienstpflicht, ohne dass erkennbar sei, dass dies auch Ausdruck der Verfolgung einer unterstellten oppositionellen Gesinnung sei. Angesichts der völligen Willkürlichkeit des Vorgehens staatlicher Sicherheitskräfte könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass die Einziehung zum Reservedienst, die für sich genommen keine politische Verfolgung darstelle, nicht regelmäßig mit der Verdächtigung oppositionellen Handelns und den dadurch verwirkten Verhaftungen, Kriminalstrafen sowie Misshandlungen und Folter verbunden sei. Unter diesen Umständen sei eine sichere Prognose nicht möglich, eine drohende Verfolgung aber keineswegs ausgeschlossen, sondern der Willkür der staatlichen Stellen überlassen. Damit bestehe ein tatsächliches Risiko politischer Verfolgung, das eine Rückkehr unzumutbar mache.
Rz. 5
Die Beklagte rügt mit der Revision eine Verletzung des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bei der Auslegung des Begriffs der begründeten Furcht vor Verfolgung und bei der Beweislastverteilung. Das Berufungsgericht bejahe eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit schon dann, wenn keine eindeutige Prognose möglich sei und eine Verfolgung nicht ausgeschlossen werden könne. Weder der Aspekt der Willkürlichkeit von Verfolgungshandlungen noch der Umstand, dass ein Verfolgungsgrund nicht auszuschließen sei, rechtfertige die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Da es sich beim Verfolgungsgrund um eine anspruchsbegründende Tatsache handele, liege die Beweislast beim Kläger.
Rz. 6
Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung.
Rz. 7
Der Vertreter des Bundesinteresses bei dem Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Rz. 8
Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägervertreters in der mündlichen Verhandlung über die Revision verhandeln und entscheiden, weil er in der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Rz. 9
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Das Berufungsgericht hat eine begründete Furcht des Klägers vor Verfolgung und damit einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit einer Begründung bejaht, die Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Zwar hat es erkannt, dass es für die gebotene Verfolgungsprognose auf den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ankommt. Es hat hieraus in der Situation einer unklaren Erkenntnislage aber eine Schlussfolgerung gezogen, die weder mit den Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO noch mit § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG vereinbar ist. Mangels einer hinreichenden tatrichterlichen Gesamtbewertung der Erkenntnisse zur Rückkehrgefährdung syrischer Staatsangehöriger kann der Senat nicht abschließend entscheiden. Das Verfahren ist daher zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Rz. 10
1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des klägerischen Begehrens ist das Asylgesetz in seiner aktuellen Fassung (derzeit: in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 ≪BGBl. I S. 1798≫, zuletzt geändert durch das am 12. Dezember 2018 in Kraft getretene Dritte Gesetz zur Änderung des Asylgesetzes vom 4. Dezember 2018 ≪BGBl. I S. 2250≫ - AsylG -). Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz eintreten, sind im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Fassung zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 12). Die hier maßgeblichen Bestimmungen haben sich seit der Berufungsverhandlung aber nicht geändert.
Rz. 11
2. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist - im Einklang mit dem unionsrechtlichen und dem internationalen Flüchtlingsrecht - ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Rz. 12
a) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die (1.) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist, oder (2.) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Diese Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung, ABl. L 337 S. 9) - Anerkennungsrichtlinie - umsetzende Legaldefinition der Verfolgungshandlung erfährt in § 3a Abs. 2 AsylG - im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 Richtlinie 2011/95/EU - eine Ausgestaltung durch einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen. Danach kann die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (Nr. 1) ebenso wie eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 2) ausreichen. Gleiches gilt bei Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (Nr. 5). Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein flüchtlingsrechtlich geschütztes Rechtsgut voraus (BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 Rn. 22).
Rz. 13
b) Die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe (Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) werden in § 3b Abs. 1 AsylG konkretisiert. Unter dem - vom Berufungsgericht herangezogenen - Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass eine Person in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Gemäß § 3b Abs. 2 AsylG ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob dieser tatsächlich die flüchtlingsschutzrelevanten Merkmale aufweist, sofern ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
Rz. 14
c) Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten und in § 3b AsylG konkretisierten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG beschriebenen Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG, Art. 9 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU). Die Maßnahme muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgung in diesem Sinne "wegen" eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478/86, 2 BvR 962/86 - BVerfGE 76, 143 ≪157, 166 f.≫). Diese Zielgerichtetheit muss nicht nur hinsichtlich der durch die Verfolgungshandlung bewirkten Rechtsgutverletzung, sondern auch in Bezug auf die Verfolgungsgründe im Sinne des § 3b AsylG, an die die Handlung anknüpft, anzunehmen sein (BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 Rn. 22 und Beschluss vom 21. November 2017 - 1 B 148.17 - juris Rn. 17). Für eine derartige "Verknüpfung" reicht ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus. Ein bestimmter Verfolgungsgrund muss nicht die zentrale Motivation oder alleinige Ursache einer Verfolgungsmaßnahme sein; indes genügt eine lediglich entfernte, hypothetische Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht den Anforderungen des § 3a Abs. 3 AsylG (BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 Rn. 13).
Rz. 15
An eine Militärdienstentziehung anknüpfende Sanktionen stellen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie den Betroffenen über die Ahndung der Nichterfüllung einer staatsbürgerlichen Pflicht hinaus (auch) wegen seiner politischen Überzeugung - oder eines anderen flüchtlingsrelevanten Merkmals - treffen sollen. Indizien hierfür können ein unverhältnismäßiges Ausmaß der Sanktionen oder deren diskriminierender Charakter sein (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 Rn. 22 m.w.N.). Auch für andere Fallgestaltungen hat das Bundesverwaltungsgericht eine Verfolgung verneint, wenn eine Sanktion (nur) der Durchsetzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dient (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 1995 - 9 C 3.95 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 180 S. 63 f. zur Ausbürgerung eines Staatsangehörigen, der der Aufforderung zur Ableistung des Wehrdienstes nicht nachgekommen war; Urteil vom 26. Februar 2009 - 10 C 50.07 - BVerwGE 133, 203 Rn. 24 zur Ausbürgerung aufgrund fehlender Registrierung). Die politische Überzeugung wird in derartigen Konstellationen in erheblicher Weise unterdrückt, wenn ein Staat mit Mitteln des Strafrechts oder in anderer Weise auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen zugreift, weil dieser seine mit der Staatsraison nicht übereinstimmende politische Meinung nach außen bekundet und damit notwendigerweise eine geistige Wirkung auf die Umwelt ausübt und meinungsbildend auf andere einwirkt. Hiervon kann insbesondere auszugehen sein, wenn er eine Behandlung erleidet, die härter ist als sie sonst zur Verfolgung ähnlicher - nichtpolitischer - Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat üblich ist (sog. "Politmalus", vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 ≪338≫ und Kammerbeschluss vom 4. Dezember 2012 - 2 BvR 2954/09 - NVwZ 2013, 500; BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 Rn. 22).
Rz. 16
d) Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22 m.w.N. und vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32; Beschluss vom 15. August 2017 - 1 B 120.17 - juris Rn. 8). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer "qualifizierenden" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32 m.w.N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 19 Rn. 37).
Rz. 17
Dieser im Tatbestandsmerkmal "aus begründeter Furcht vor Verfolgung" enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte - zu denen der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht gehört - werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22 zur inhaltsgleichen Regelung in Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG).
Rz. 18
3. Hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der begründeten Furcht vor Verfolgung folgt das Berufungsgericht zwar im Ansatz der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Es erkennt insbesondere, dass für die gebotene Verfolgungsprognose auf den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit abzustellen ist, es sich hierbei nicht um einen mit der Genauigkeit naturwissenschaftlicher Methoden bestimmbaren Grad an Wahrscheinlichkeit, sondern um einen Akt wertender Erkenntnis handelt, es für die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit aufgrund einer zugeschriebenen politischen Überzeugung einer qualifizierenden Gesamtbetrachtung und Würdigung der Erkenntnisse bedarf und hierbei der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit einer Rückkehr als vorrangiges qualitatives Kriterium heranzuziehen ist. Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung, dass die Auswertung der zur Verfügung stehenden und auf die aktuelle Situation in Syrien bezogene Faktenlage keine eindeutige Prognose zulässt. Gegen Bundesrecht verstoßen indes die Überlegungen, welche rechtlichen Schlussfolgerungen aus einer nicht eindeutig zu ermittelnden Faktenlage zu ziehen sind. Nach Auffassung des Berufungsgerichts soll in diesem Fall für die richterliche Überzeugung einer bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung genügen, wenn in der Gesamtschau der Erkenntnisse ausreichende Anhaltspunkte für eine Prognose sowohl in die eine wie in die andere Richtung vorliegen, also eine Situation vorliegt, die einem non liquet vergleichbar ist.
Rz. 19
a) Damit geht das Berufungsgericht offenbar davon aus, dass sich eine unklare Faktenlage bei der Überzeugungsbildung im Zweifel zu Gunsten des Schutzsuchenden auswirkt ("benefit of doubt"). Mit diesem Rechtssatz verfehlt es nicht nur das durch § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgegebene Maß an Überzeugungsgewissheit. Eine hierauf gestützte Verfolgungsprognose begründet zugleich einen materiellen Rechtsverstoß. Denn die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt tatbestandlich eine begründete Furcht vor Verfolgung voraus. Hierfür bedarf es einer Gefahrenprognose anhand des Maßstabs der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit und muss sich das Tatsachengericht - auch in Ansehung der "asyltypischen" Tatsachenermittlungs- und -bewertungsprobleme - die nach § 108 Abs. 1 VwGO erforderliche Überzeugungsgewissheit verschaffen. Verfehlt es bei der Verfolgungsprognose das gebotene Maß an Überzeugung, steht seine Entscheidung nicht im Einklang mit der Zielsetzung des Flüchtlingsrechts (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. November 1977 - 1 C 33.71 - BVerwGE 55, 82 ≪83≫ und vom 11. November 1986 - 9 C 316.85 - juris Rn. 11 zu den Anforderungen an den Nachweis asylbegründender Tatsachen).
Rz. 20
aa) In dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess ist es Aufgabe des Tatsachengerichts, den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln, dazu von Amts wegen die erforderliche Sachverhaltsaufklärung zu betreiben und sich eine eigene Überzeugung zu bilden (§ 86 Abs. 1 Satz 1, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auch die in Asylverfahren gesteigerten Mitwirkungspflichten (§§ 15 und 25 AsylG) entbinden das Gericht nicht von seiner Aufklärungspflicht, um sich so die für seine Entscheidung gebotene Überzeugungsgewissheit zu verschaffen. Hierzu muss es die Prognosetatsachen ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau bewerten und sich auf dieser Grundlage eine Überzeugung bilden.
Rz. 21
(1) Die Überzeugungsgewissheit gilt nicht nur in Bezug auf das Vorbringen des Schutzsuchenden zu seiner persönlichen Sphäre zuzurechnende Vorgänge, sondern auch hinsichtlich der in die Gefahrenprognose einzustellenden allgemeinen Erkenntnisse. Diese ergeben sich vor allem aus den zum Herkunftsland vorliegenden Erkenntnisquellen. Auch für diese Anknüpfungstatsachen gilt das Regelbeweismaß des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dabei darf das Tatsachengericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern darf sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Februar 2011 - 10 B 1.11 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 43 Rn. 7 f. zur Gefahrenprognose bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AsylG).
Rz. 22
(2) Auf der Basis der so gewonnenen Prognosegrundlagen hat das Tatsachengericht bei der Erstellung der Gefahrenprognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden zu befinden. Diese in die Zukunft gerichtete Projektion ist als Vorwegnahme zukünftiger Geschehnisse - im Unterschied zu Aussagen über Vergangenheit und Gegenwart - typischerweise mit Unsicherheiten belastet. Zu einem zukünftigen Geschehen ist nach der Natur der Sache immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage möglich, hier am Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Auch wenn die Prognose damit keines "vollen Beweises" bedarf, ändert dies nichts daran, dass sich der Tatrichter gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO bei verständiger Würdigung der (gesamten) Umstände des Einzelfalls auch von der Richtigkeit seiner - verfahrensfehlerfrei - gewonnenen Prognose einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung die volle Überzeugungsgewissheit zu verschaffen hat (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71, 180 ≪182≫; s.a. BVerwG, Beschluss vom 8. Februar 2011 - 10 B 1.11 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 43 Rn. 7 zur Gefahrenprognose bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AsylG). Dabei bedarf es für die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung weder einer eindeutigen Faktenlage noch einer mindestens 50%-igen Wahrscheinlichkeit. Vielmehr genügt - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt -, wenn bei zusammenfassender Würdigung die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Das Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung gilt auch bei - wie hier - unsicherer Tatsachengrundlage (BVerwG, Beschluss vom 28. April 2017 - 1 B 73.17 - juris Rn. 10). In diesen Fällen bedarf es in besonderem Maße einer umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Herkunftsland; hierauf aufbauend muss das Gericht bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet aus einer Vielzahl von Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung vornehmen (BVerwG, Urteil vom 21. April 2009 - 10 C 11.08 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 39 Rn. 19). Dabei sind gewisse Prognoseunsicherheiten als unvermeidlich hinzunehmen und stehen einer Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit darf aber nicht unter Verzicht auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden.
Rz. 23
(3) Kann das Gericht auf der Grundlage der zu seiner Überzeugung feststehenden Prognosebasis hinsichtlich der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer dem Kläger individuell drohenden Verfolgung weder in die eine noch in die andere Richtung eine Überzeugung gewinnen und sieht es keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung, hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und eine Beweislastentscheidung zu treffen. Zuvor bedarf es aber stets einer eingehenden Analyse der Erkenntnisquellen und der sich hieraus ergebenden Erkenntnisse. Dabei hat das Gericht aufgrund des wertenden Charakters des Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch zu berücksichtigen, worauf etwaige Ungewissheiten und Unklarheiten zurückzuführen sind und ob sich nicht zumindest in der Gesamtschau der ihm vorliegenden Einzelinformationen hinreichende Indizien ergeben, die bei zusammenfassender Bewertung eine eigene Prognoseentscheidung zur Rückkehrgefährdung ermöglichen. Nur wenn dem Tatsachengericht auf der Grundlage der zu seiner Überzeugung feststehenden Prognosebasis eine eigene Prognoseentscheidung nicht möglich ist, darf es eine an der materiellen Beweislast auszurichtende Nichterweislichkeitsentscheidung treffen.
Rz. 24
bb) Dem genügt das Berufungsurteil nicht. Das Berufungsgericht verkennt die Anforderungen an die volle richterliche Überzeugung der Prognose beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wenn es bei offener Erkenntnislage allein wegen der Schwierigkeiten der Erkenntnisgewinnung eine Rückkehrgefährdung bejaht. Stattdessen lässt es für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft genügen, dass eine sichere Prognose zur Rückkehrgefährdung von Personen, die ihrer Wehr- oder - wie der Kläger - Reservedienstpflicht nicht nachgekommen sind, nicht möglich sei. Eine ihnen drohende Verfolgung sei keineswegs ausgeschlossen, sondern ihr Schicksal der Willkür der staatlichen Stellen überlassen, die freie Hand hätten, wie sie mit diesen Rückkehrern umgingen. Mit dieser Begründung unterschreitet das Berufungsgericht das für seine Prognose geltende Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung. Dies begründet zugleich einen materiellen Rechtsverstoß, da das Berufungsgericht aufgrund seines fehlerhaften Ansatzes keine ordnungsgemäße Prognose getroffen hat.
Rz. 25
b) Sollten die Überlegungen des Berufungsgerichts, welche Folgerungen aus einer nicht eindeutigen Erkenntnislage zu ziehen sind, entgegen der vorstehenden Auslegung als eine Nichterweislichkeitsentscheidung zu verstehen sein, verletzt auch dies Bundesrecht. Insoweit rügt die Revision zu Recht, dass die materielle Beweislast für eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung beim Kläger und nicht bei der Beklagten liegt.
Rz. 26
aa) Wer die (materielle) Beweislast trägt, bestimmt sich nach materiellem Recht und ist in Auslegung der im Einzelfall einschlägigen Normen zu ermitteln; enthalten diese keine besonderen Regelungen, so greift der allgemeine Rechtsgrundsatz ein, dass die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen eine Partei ihr günstige Rechtsfolgen herleitet, zu ihren Lasten geht (BVerwG, Urteil vom 13. Oktober 1988 - 5 C 35.85 - BVerwGE 80, 290 ≪296 f.≫). Nach diesem Günstigkeitsgrundsatz muss derjenige, der das Bestehen eines Rechts behauptet, die Nichterweislichkeit rechtsbegründender Tatsachen gegen sich gelten lassen, während umgekehrt die Nichterweislichkeit von rechtshindernden, -vernichtenden oder -hemmenden Umständen zu Lasten desjenigen geht, der sich hierauf beruft (Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 108 Rn. 13; Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 86 Rn. 5).
Rz. 27
bb) In Anwendung dieser Grundsätze trägt grundsätzlich der Schutzsuchende die (materielle) Beweislast für das Vorliegen der (positiven) Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und geht insoweit ein non liquet zu seinen Lasten. Dies gilt jedenfalls bei einem - wie hier - nicht vorverfolgt ausgereisten Antragsteller hinsichtlich der Frage, ob ihm bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (BVerwG, Urteil vom 21. November 1989 - 9 C 44.89 - Buchholz 402.25 § 2 AsylVfG Nr. 14 S. 41; Beschluss vom 15. August 2017 - 1 B 120.17 - juris Rn. 8).
Rz. 28
Das materielle Recht enthält nur für besondere Situationen - etwa bei Vorverfolgten (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU; vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. [ECLI:EU:C:2010:105], Abdullah u.a. - Rn. 94; BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 Rn. 15) und in Widerrufsfällen (Art. 14 Abs. 2 Richtlinie 2011/95/EU) - hinsichtlich der Rückkehrprognose einen vom Günstigkeitsprinzip abweichenden beweisrechtlichen Ansatz. Dem ist im Umkehrschluss zu entnehmen, dass es ansonsten - soweit sich nicht aus der Natur der Sache etwas anderes ergibt - dabei verbleibt, dass die Nichterweislichkeit zu Lasten des Schutzsuchenden geht. Dies gilt - entgegen der Auffassung des Klägers - nicht nur für in seine Sphäre fallende Tatsachen, sondern grundsätzlich für alle bei der Gefahrenprognose erheblichen Umstände. Damit gehen auch Ungewissheiten und Unklarheiten, die sich aus den Erkenntnisquellen hinsichtlich der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland ergeben, im Zweifel zu Lasten des Schutzsuchenden. Gleiches gilt für das Anknüpfen bei Rückkehr drohender Maßnahmen an einen Verfolgungsgrund. Allein der Umstand, dass das syrische Strafgesetz eine Bestrafung von Militärdienstflüchtlingen vorsieht, rechtfertigt - entgegen der Auffassung des Klägers - keine Umkehr der Beweislast bei der Beurteilung, ob bei Rückkehr drohende Maßnahmen eine Verknüpfung mit einem flüchtlingsschutzrelevanten Merkmal aufweisen.
Rz. 29
4. Damit durfte dem Kläger nicht allein wegen unklarer Erkenntnislage die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden. Eine Entscheidung in der Sache selbst (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) ist dem Senat als Revisionsgericht nicht möglich, da er mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen und einer darauf aufbauenden tatrichterlichen Bewertung weder zu Lasten noch zu Gunsten des Klägers abschließend entscheiden kann.
Rz. 30
Die Feststellungen des Berufungsgerichts tragen mangels ordnungsgemäßer Prognose weder dessen Annahme, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an seine (vermeintliche) politische Überzeugung anknüpfende Verfolgung droht, noch erlauben sie dem Senat eine eigene Entscheidung zur Rückkehrgefährdung des Klägers. Im gerichtlichen Verfahren ist es grundsätzlich Aufgabe der Tatsachengerichte, die Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer Gesamtschau zu würdigen und mit Blick auf die individuelle Situation des Schutzsuchenden eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Gefahrenprognose zu erstellen (BVerwG, Urteil vom 1. März 2012 - 10 C 7.11 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 43 Rn. 16). Dabei gehört auch die Beurteilung, ob eine (möglicherweise) drohende Verfolgungshandlung an einen Verfolgungsgrund anknüpft, zu der den Tatsachengerichten vorbehaltenen Sachverhalts- und Beweiswürdigung (BVerwG, Beschluss vom 2. Juli 2018 - 1 B 37.18 - juris Rn. 7 ff.). Den tatrichterlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ist auch nicht - ausnahmsweise - zu entnehmen, dass die Verhältnisse in Syrien hinsichtlich der Verfolgung von Reservedienstpflichtigen eindeutig ein bestimmtes Ergebnis vorgeben.
Rz. 31
Allein die vom Berufungsgericht inhaltlich wiedergegebenen Erkenntnisse reichen ohne die gebotene tatrichterliche Gesamtbetrachtung für eine abschließende Prüfung der Rückkehrgefährdung am Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob die syrischen Staatsangehörigen wegen Entziehung vom Reservedienst drohenden Maßnahmen an einen Verfolgungsgrund anknüpfen. Diesbezüglich stellt das Berufungsgericht lediglich fest, dass nicht ausgeschlossen sei, dass ihnen von den syrischen Sicherheitskräften vorgeworfen werde, Verbindungen zur Opposition zu haben, oder dass in der Nichterfüllung des Reservedienstes eine oppositionelle Gesinnung gesehen werde. Diese Verdächtigung werde nicht systematisch erhoben, sondern hänge von weiteren Faktoren ab wie dem Herkunftsort/Wohnort, der Familien- oder Stammeszugehörigkeit und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgruppe. Vielfach bleibe es bei der zwangsweisen Durchsetzung der Reservedienstpflicht, ohne dass erkennbar sei, dass dies auch Ausdruck der Verfolgung einer unterstellten oppositionellen Gesinnung sei. Angesichts der völligen Willkürlichkeit des Vorgehens staatlicher Sicherheitskräfte könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Einziehung zum Reservedienst, die für sich genommen keine politische Verfolgung darstelle, nicht regelmäßig mit der Verdächtigung oppositionellen Handelns und den dadurch verwirkten Verhaftungen, Kriminalstrafen sowie Misshandlungen und Folter verbunden sei.
Rz. 32
Dies rechtfertigt nicht die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit. Der Hinweis auf die völlige Willkürlichkeit des Vorgehens und die nicht systematisch erhobene, aber auch nicht auszuschließende Verdächtigung einer oppositionellen Gesinnung oder oppositioneller Kontakte sprechen eher gegen denn für eine an die politische Überzeugung anknüpfende Verfolgung. Denn willkürlich angewandte Verfolgungsmaßnahmen müssen nicht auf einem Verfolgungsgrund (hier: in Form einer zugeschriebenen oppositionellen Haltung) beruhen. Allein die Wertung, dass eine Verfolgung "nicht auszuschließen" sei, rechtfertigt nicht die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit (BVerwG, Beschluss vom 4. Dezember 1995 - 9 B 70.95 - juris Rn. 3). Umgekehrt kann eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen aber auch nicht verneint werden, zumal das Berufungsgericht davon ausgeht, dass der Verdacht einer oppositionellen Gesinnung von weiteren Faktoren abhängt, ohne der Frage nachzugehen, ob und mit welchem Grad der Kläger hiernach möglicherweise einer erhöhten Gefährdung unterliegt.
Rz. 33
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist - entgegen der Auffassung des Klägers - auch nicht allein wegen des Vorliegens einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG gerechtfertigt. Danach kann auch die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt eine Verfolgungshandlung darstellen, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Ob sich hieraus ergibt, dass die Verweigerung der Teilnahme an Kriegsverbrechen und die damit einhergehende Bestrafung stets als flüchtlingsrechtlich relevant einzustufen ist (vgl. dazu VG Hannover, Vorlagebeschluss vom 7. März 2019 - 4 A 3526/17 - juris Rn. 82 ff.), ist vorliegend schon nicht entscheidungserheblich, da dem Berufungsurteil keine tatrichterlichen Feststellungen dafür zu entnehmen sind, dass der dem Kläger in Syrien drohende Reservedienst unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallende Verbrechen oder Handlungen umfassen würde.
Rz. 34
Dessen ungeachtet ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zwar von einer Verfolgungshandlung auszugehen; dies begründet aber noch keine Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund. Aus der gesetzlichen Bestimmung des § 3a Abs. 3 AsylG, der insoweit Art. 9 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU umsetzt, ergibt sich, dass die Qualifizierung einer Handlung als Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 1 bis 6 AsylG nicht ausreicht, um eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahme zu begründen. Hinzukommen muss vielmehr eine "Verknüpfung" zwischen Handlung und Verfolgungsgrund, d.h. die Verfolgung muss "wegen" bestimmter Verfolgungsgründe drohen (BVerwG, Beschluss vom 5. Dezember 2017 - 1 B 131.17 - Buchholz 402.251 § 3a AsylG Nr. 1 Rn. 10). In diesem Sinne geht auch der EuGH davon aus, dass Art. 9 Abs. 2 Buchst. e Richtlinie 2011/95/EU die Einstufung einer Strafverfolgung oder Bestrafung als "Verfolgungshandlung" betrifft, und trennt davon die in Art. 10 Richtlinie 2011/95/EU angeführten Verfolgungsgründe (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2015 - C-472/13 [ECLI:EU:C:2015:117], Shepherd - Rn. 31 zur Vorgängerrichtlinie 2004/83/EG; s.a. die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 11. November 2014 im Verfahren C-472/13 Rn. 48). Der Senat teilt daher auch nicht die vom Verwaltungsgericht Hannover in seinem Vorlagebeschluss vom 7. März 2019 vertretene Auffassung, dass es insoweit einer (weiteren) Klärung durch den EuGH bedarf.
Rz. 35
5. Das Berufungsgericht wird nunmehr abschließend zu würdigen haben, ob dem Kläger bei Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich beachtliche Behandlung gerade in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle Gesinnung oder einen anderen Verfolgungsgrund droht. Dabei wird es insbesondere der Frage nachzugehen haben, ob syrische Sicherheitskräfte bei der Einreise Personen, die sich - wie der Kläger - durch Flucht nach Europa faktisch einer Einziehung zum Reservedienst in der syrischen Armee entzogen haben, wahllos oder allein wegen der Nichterfüllung einer alle militärdienstfähigen Männer gleichermaßen treffenden staatsbürgerlichen Pflicht Maßnahmen unterziehen oder ob sie ihnen durchweg oder zumindest beim Hinzutreten gefahrerhöhender Umstände eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellen. Da die syrischen Staatsangehörigen bei Militärdienstentziehung drohende Verfolgungsgefahr in der Rechtsprechung derzeit in tatsächlicher Hinsicht unterschiedlich gewürdigt wird (vgl. hierzu aus jüngster Zeit u.a. OVG Münster, Urteil vom 13. Juni 2019 - 14 A 2089/18 - juris Rn. 42 ff. m.w.N. aus der obergerichtlichen Rechtsprechung), wird es sich in angemessenem Umfang auch mit der Bewertung anderer Obergerichte auseinanderzusetzen haben. Weiter wird es zu prüfen haben, ob dem Kläger möglicherweise aus anderen Gründen, etwa wegen (illegaler) Ausreise, der Stellung eines Asylantrags und seines längeren Aufenthalts im europäischen Ausland (vgl. auch hierzu aus jüngster Zeit u.a. OVG Münster, Urteil vom 13. Juni 2019 - 14 A 2089/18 - juris Rn. 42 ff. m.w.N. aus der obergerichtlichen Rechtsprechung), der von ihm geltend gemachten politischen Betätigung als Anhänger der Yekiti-Partei oder wegen des möglichen Vorliegens (sonstiger) gefahrerhöhender Umstände bei Rückkehr Verfolgung droht.
Rz. 36
6. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
Fundstellen
InfAuslR 2019, 459 |
JZ 2020, 7 |
VR 2020, 35 |
ZAR 2020, 255 |