Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiserleichterung. Beweislastumkehr. Flüchtlingsanerkennung. Flüchtlingseigenschaft. interner Schutz. inländische Fluchtalternative. Vorverfolgung
Normenkette
AsylVfG § 3 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1 Sätze 1, 5, Abs. 2-3, 5, 7; VwGO § 108 Abs. 1, § 137 Abs. 2; Richtlinie 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, Art. 8
Verfahrensgang
Hessischer VGH (Beschluss vom 09.04.2008; Aktenzeichen 3 UE 457/06.A) |
VG Kassel (Entscheidung vom 02.06.2004; Aktenzeichen 2 E 782/03.A) |
Tenor
Die Revisionen der Kläger gegen den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. April 2008 werden zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Revisionsverfahrens je zur Hälfte.
Tatbestand
I
Rz. 1
Die Kläger, aus Tschetschenien stammende Eheleute russischer Staatsangehörigkeit, erstreben ihre Anerkennung als Flüchtlinge.
Rz. 2
Der nach eigenen Angaben 1950 geborene Kläger, ein armenischer Volkszugehöriger christlicher Glaubenszugehörigkeit, und seine 1955 geborene Ehefrau, eine tschetschenische Volkszugehörige, reisten im Oktober 2002 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten Asylanträge. Sie begründeten ihr Begehren im Wesentlichen damit, dass sie bis September 2001 in Tschetschenien gelebt hätten und der Kläger dort bis vor drei Jahren eine Autowerkstatt betrieben habe, in der die Klägerin als Buchhalterin mitgearbeitet habe. Im Jahr 2000 hätten russische Soldaten sie, die Kläger, festgesetzt, befragt und geschlagen, weil man sie für tschetschenische Rebellen gehalten habe. Am 1. September 2001 habe man sie freigelassen und ihnen eine Bescheinigung ausgestellt. Nach Rückkehr in ihr Heimatdorf hätten sie erfahren, dass ihre Söhne im August 2000 das Land verlassen hätten; diese seien Asylbewerber in Deutschland. Sie seien dann von Georgien aus in die Bundesrepublik geflogen.
Rz. 3
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) – Bundesamt – lehnte mit Bescheid vom 24. März 2003 die Anerkennung als Asylberechtigte ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen, und drohte den Klägern die Abschiebung in die Russische Föderation an.
Rz. 4
Auf die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht die Beklagte mit Urteil vom 2. Juni 2004 verpflichtet, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen und flüchtlingsrechtlichen Abschiebungsschutz zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf eine in Tschetschenien herrschende Gruppenverfolgung der Tschetschenen gestützt; eine inländische Fluchtalternative in den übrigen Regionen der Russischen Föderation bestehe nicht.
Rz. 5
Dagegen haben die Beklagte und der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten – Bundesbeauftragter – Berufung eingelegt. Im Berufungsverfahren haben die Kläger ihre Klage zurückgenommen, soweit sie auf die Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a GG gerichtet war.
Rz. 6
Mit Beschluss vom 9. April 2008 hat der Verwaltungsgerichtshof das Verfahren eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist, und im Übrigen das Urteil des Verwaltungsgerichts abgeändert und die Klagen abgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, die Kläger hätten Tschetschenien vorverfolgt verlassen, da dort ihr Leben und ihre Freiheit im Zeitpunkt ihrer Ausreise allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der aus Tschetschenien stammenden Kaukasier unmittelbar bedroht gewesen sei. Ihnen könne jedoch nicht geglaubt werden, dass sie darüber hinaus auch individuell in das “Fadenkreuz” der russischen Sicherheitskräfte geraten seien. Bei Rückkehr nach Tschetschenien hätten die Kläger wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit mit vermehrten Überprüfungen und ggf. Drangsalierungen seitens der mittlerweile tschetschenischen Sicherheitskräfte zu rechnen, so dass keine stichhaltigen Gründe gem. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG dagegen sprächen, dass sie nicht erneut von einer solchen Verfolgung bedroht sein würden. Ihnen stehe jedoch nach den Maßstäben des Art. 8 der Richtlinie interner Schutz offen, denn sie müssten sich auf Orte der armenischen Diaspora in der Russischen Föderation verweisen lassen (Stawropol, Krasnodar sowie Rostow am Don). Dort könnten sie sich gegen administrative und bürokratische Hürden bei der Registrierung unter Zuhilfenahme bereits angesiedelter armenischer Volkszugehöriger erfolgreich zur Wehr setzen und gerieten zudem in ein Netz sozialer und wirtschaftlicher Strukturen, die ihnen ein Existenzminimum gewährleisteten; das gelte auch unter Berücksichtigung ihrer individuellen Fähigkeiten. Den Klägern drohten an dem Ort des internen Schutzes auch keine sonstigen Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG.
Rz. 7
Ihre vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revisionen begründen die Kläger im Wesentlichen damit, dass ihnen eine Rückkehr nach Tschetschenien zur Ausstellung des für die Registrierung notwendigen Inlandspasses nicht zumutbar sei. Ihnen könne auch nicht zugemutet werden, Amtsträger zu bestechen oder auf eine vermutete Hilfestellung anderer Personen verwiesen zu werden.
Rz. 8
Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich am Verfahren beteiligt. Er ist der Auffassung, dass das Prüfprogramm in der angefochtenen Entscheidung nicht zu beanstanden sei. Das Berufungsgericht habe die Voraussetzungen des Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG zutreffend geprüft.
Entscheidungsgründe
II
Rz. 9
Die Revisionen der Kläger bleiben ohne Erfolg. Das Berufungsgericht hat ohne Verstoß gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) einen Anspruch der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt. Seine Annahme, den Klägern stehe interner Schutz in anderen Regionen der Russischen Föderation offen, ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 10
1. Maßgeblich für die Beurteilung des Begehrens auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162). Die in diesen Bekanntmachungen berücksichtigten Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970), die am 28. August 2007 in Kraft getreten sind, hat der Verwaltungsgerichtshof gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylVfG zu Recht seiner am 9. April 2008 ergangenen Berufungsentscheidung zugrunde gelegt.
Rz. 11
Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling i.S.d. Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 – Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) –, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EG Nr. L 304 S. 12) – sog. Qualifikationsrichtlinie – ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
Rz. 12
Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der den Mitgliedstaaten in Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Absatz 2 verlangt von den Mitgliedstaaten bei Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Absatz 3 kann Absatz 1 auch angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen.
Rz. 13
Der Verwaltungsgerichtshof hat den Klägern das von ihnen vorgetragene individuelle Verfolgungsschicksal nicht geglaubt. An diese Tatsachenfeststellung, die die Kläger nicht mit Verfahrensrügen angegriffen haben, ist der Senat gebunden (§ 137 Abs. 2 VwGO). Das Berufungsgericht hat die Kläger jedoch wegen einer Gruppenverfolgung der aus Tschetschenien stammenden Kaukasier als vorverfolgt angesehen. Ob die Begründung dafür den in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäben für eine Gruppenverfolgung, an denen auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG festzuhalten ist, insbesondere mit Blick auf die gebotenen Feststellungen zur Verfolgungsdichte genügt (vgl. dazu Urteil vom 21. April 2009 – BVerwG 10 C 11.08 – juris Rn. 13 ff. und Urteil vom 1. Februar 2007 – BVerwG 1 C 24.06 – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30 Rn. 7 ff.), kann dahinstehen. Selbst wenn man zugunsten der Kläger unterstellt, dass sie ihr Herkunftsland vorverfolgt verlassen haben und die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG greift, steht ihnen ein Anspruch auf Flüchtlingsankerkennung nicht zu. Denn das Berufungsgericht hat sie auf die Möglichkeit internen Schutzes innerhalb der Russischen Föderation verwiesen. Das hält der revisionsgerichtlichen Prüfung stand.
Rz. 14
Der Verwaltungsgerichtshof ist davon ausgegangen, dass für die Kläger jedenfalls in den Gebieten Krasnodar, Stawropol und Rostow am Don keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht (BA S. 35). Dagegen wendet sich die Revision nicht. Sie rügt vielmehr der Sache nach, dass von den Klägern vernünftigerweise nicht erwartet werden könne, sich am Ort des internen Schutzes aufzuhalten (Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG). Dazu führen die Kläger aus, dass sie den auch vom Verwaltungsgerichtshof für die Registrierung grundsätzlich als notwendig erachteten Inlandspass nur erhalten könnten, wenn sie sich – was ihnen nicht zuzumuten sei – nach Tschetschenien begäben. Auf Korruption oder die vermutete Hilfestellung Dritter bei der Registrierung könnten die Kläger nicht verwiesen werden. Diese Rügen greifen nicht durch.
Rz. 15
Das Vorbringen der Kläger wird durch die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht gestützt. Dieses ist davon ausgegangen, dass die Kläger nicht gezwungen sind, zur Ausstellung bzw. Verlängerung ihrer Inlandspässe nach Tschetschenien zurückzukehren, sondern sich ggf. unter Rückgriff auf Hilfestellungen anderer armenischer Volkszugehöriger auch mit anderen, ihre Identität nachweisenden Dokumenten registrieren lassen können. Dazu zählten auch die von den russischen Auslandsvertretungen nach vorheriger Identitätsprüfung durch die Innenbehörden ausgestellten Rückreisedokumente (BA S. 35 und 37 f.). Da die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht mit Verfahrensrügen angegriffen worden sind, hat das Revisionsgericht den festgestellten Sachverhalt seiner Prüfung zugrunde zu legen (§ 137 Abs. 2 VwGO). Warum den Klägern ggf. die Inanspruchnahme von Hilfe seitens ihrer in der armenischen Diaspora bereits etablierten Landsleute beim Umgang mit den Behörden unzumutbar sein sollte, wird von der Revision nicht dargelegt und ist auch nicht ersichtlich. Im Übrigen ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass angesichts des beträchtlichen Anteils von nicht registrierten Binnenmigranten in der Praxis eine Registrierung für einen Aufenthalt zumal in ländlichen Kommunen nicht notwendig ist. Die Gewährung eines förmlichen Aufenthaltsrechts ist nach der bisherigen Rechtsprechung zur inländischen Fluchtalternative unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten nicht zwingend erforderlich (vgl. Urteil vom 1. Februar 2007 – BVerwG 1 C 24.06 – a.a.O. Rn. 12).
Rz. 16
Am Ort des internen Schutzes muss unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Betroffenen jedenfalls das Existenzminimum gewährleistet sein (Urteil vom 29. Mai 2008 – BVerwG 10 C 11.07 – BVerwGE 131, 186 ≪197 Rn. 35≫). In der angefochtenen Entscheidung wird die individuelle Situation der Kläger insoweit ausführlich gewürdigt (BA S. 35 f.). Das Berufungsgericht ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass es den Klägern möglich ist, am Ort des internen Schutzes “beruflich wieder Fuß zu fassen”. Diese Würdigung, zu der die Revision sich nicht einlässt, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 17
2. Nicht zu beanstanden ist schließlich auch die Annahme des Berufungsgerichts, dass den Klägern im Hinblick auf den Ort des internen Schutzes weder subsidiärer Schutz nach der Qualifikationsrichtlinie (§ 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG) noch nationaler Abschiebungsschutz (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG) zusteht.
Rz. 18
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
Unterschriften
Dr. Mallmann, Richter, Beck, Prof. Dr. Kraft, Fricke
Fundstellen