Entscheidungsstichwort (Thema)
Inobhutnahme, Kostenerstattung nach – von unbegleitet eingereisten ausländischen Jugendlichen. Interessenwahrungsgrundsatz als Maßstab der Kostenerstattung. Kostenerstattung bei Inobhutnahme von unbegleitet eingereisten ausländischen Jugendlichen
Leitsatz (amtlich)
1. Eine wegen Gefährdung der Person und dringenden Bedarfs an jugendgerechter Unterbringung und Betreuung angeordnete Inobhutnahme von unbegleitet eingereisten ausländischen Jugendlichen in einer Erstversorgungseinrichtung endet nicht schon mit der wegen Ruhens der elterlichen Sorge erforderlichen Vormundbestellung durch das Familiengericht.
2. Bei der Kostenerstattung nach §§ 89 d, 89 f SGB VIII ist in diesen Fällen der Inobhutnahme die gerichtliche Kontrolle der Gesetzeskonformität der Hilfemaßnahmen im Hinblick auf den kostenerstattungsrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatz darauf beschränkt, ob die in der Erstversorgungseinrichtung gewährte Hilfe –wegen Ungeeignetheit oder weggefallenen Hilfebedarfs – nicht mehr geboten war oder ob die zuständige Jugendhilfebehörde Anlass hatte, die Hilfe in eine weniger kostenintensive Hilfeform zu überführen; dabei ist die Entscheidung über die individuell erforderlichen Hilfemaßnahmen von dem erstattungsberechtigten Jugendhilfeträger in eigener Verantwortung zu treffen und daher dessen Einschätzung für den erstattungspflichtigen Träger maßgeblich.
Normenkette
SGB VIII §§ 42, 89d, 89f
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 19.08.2003; Aktenzeichen 9 S 2400/02) |
VG Stuttgart (Urteil vom 06.12.2001; Aktenzeichen 12 K 3553/00) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 19. August 2003 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Klägerin begehrt gemäß § 89 d SGB VIII als örtlicher Träger der Jugendhilfe vom Beklagten die Erstattung von Jugendhilfekosten für die Inobhutnahme des am 23. Juni 1984 geborenen ausländischen Jugendlichen P. B.
Am 7. Januar 1999 wurde in Hamburg der Aufenthalt des unbegleitet eingereisten Jugendlichen festgestellt. Mit Verfügung vom 12. Januar 1999 nahm die Klägerin ihn rückwirkend ab 8. Januar 1999 in eine Erstversorgungseinrichtung in Obhut, um eine Gefährdung seiner Person auszuschließen und weil er dringend jugendgerechter Unterbringung und Betreuung bedürfe. Gleichzeitig wurde beim Familiengericht der Antrag auf Bestellung eines Vormundes gestellt. Das Amtsgericht – Familiengericht stellte mit Beschluss vom 4. März 1999 das Ruhen der elterlichen Sorge fest und bestellte das Jugendamt des Bezirksamts Hamburg-Mitte zum Vormund. Beim Bezirksamt ging der Beschluss am 12. März 1999 (einem Freitag) ein.
Am 21. April 1999 beantragte der Vormund Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII. Diese wurde in der Ausgestaltung von § 34 SGB VIII ab dem 28. Juli 1999 in einer Jugendpension erbracht und mit Verfügung vom 27. August 1999 auch förmlich bewilligt. Die Inobhutnahme wurde zum 27. Juli 1999 förmlich beendet.
Die Klägerin bat den Beklagten, der vom Bundesverwaltungsamt zum Kostenträger bestimmt worden war, um Anerkennung der Erstattungspflicht, welche für die Zeit der Inobhutnahme vom 8. Januar 1999 bis zum 14. März 1999 und vom 21. April bis 27. Juli 1999 sowie für die ab 28. Juli 1999 gewährte Hilfe zur Erziehung dem Grund nach ausgesprochen, für die zwischen dem Eingang des Beschlusses des Familiengerichts über die Vormundbestellung und dem Antrag des Vormunds auf Hilfe zur Erziehung liegende Zeit vom 15. März bis 20. April 1999 aber abgelehnt wurde.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Erstattung der der Klägerin in der Zeit vom 15. März 1999 bis 20. April 1999 entstandenen Jugendhilfekosten in Höhe von 6 081,69 DM zuzüglich Zinsen ab Rechtshängigkeit mit der Begründung abgewiesen, mit der Bestellung des Amtsvormunds sei der Grund der Hilfemaßnahme entfallen. Der Verwaltungsgerichtshof hingegen hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin die in der Zeit vom 15. März bis 8. April 1999 entstandenen Jugendhilfekosten zu erstatten und den Erstattungsbetrag mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 24. Juli 2000 zu verzinsen; im Übrigen wurde die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen ausgeführt:
Die rechtlichen Voraussetzungen eines Kostenerstattungsbegehrens nach § 89 d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII in der ab 1. Juli 1998 geltenden Fassung (BGBl I S. 3546) lägen mit Blick auf den unbegleitet eingereisten Jugendlichen vor, doch seien die aufgewendeten Kosten gemäß § 89 f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nur zu erstatten, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften des Achten Buches Sozialgesetzbuch entspreche. Dies sei nur der Fall, wenn und soweit die Jugendhilfe rechtmäßig sei. Eine rechtmäßige Inobhutnahme im Sinne des § 42 Abs. 1 SGB VIII habe ab dem Zeitpunkt der Aufnahme des Jugendlichen in die Erstversorgungseinrichtung der Klägerin vorgelegen, da die dortige Betreuung des Jugendlichen über eine bloße Obdachlosenunterbringung hinausgegangen sei. Das Jugendamt habe auch unverzüglich die Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen herbeigeführt und den Antrag auf Bestellung eines Vormunds ohne schuldhaftes Zögern binnen weniger Tage gestellt. Nicht mehr den Vorschriften des Achten Buches Sozialgesetzbuch entspreche jedoch die Inobhutnahme ab dem 9. April 1999. Bei einer Inobhutnahme wegen einer dringenden Gefahr für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen (§ 42 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII) sei es Aufgabe des Jugendamtes, diese Gefahr so rasch wie möglich abzuwenden und dafür zu sorgen, dass der Jugendliche in ein geordnetes Dasein eingegliedert werde, in welchem seine auf Dauer berechnete Entwicklung und Erziehung gewährleistet erscheine (§ 1 Abs. 1 SGB VIII). Mit der Bestellung eines Amtsvormunds durch das Familiengericht sei die Aufgabe des Jugendamtes, die Krisensituation zu beseitigen, noch nicht erfüllt, denn allein durch die Vormundbestellung erhalte der Jugendliche noch keine Unterkunft und schon gar nicht die gegebenenfalls erforderlichen erzieherischen Hilfen. Im Rahmen der Inobhutnahme sei es gemäß § 42 Abs. 1 Satz 5 SGB VIII Aufgabe der Jugendämter, für das Wohl des Jugendlichen zu sorgen, ihn in seiner gegenwärtigen Lage zu beraten und ihm Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen; auch der bestellte Amtsvormund sei zu beraten und zu unterstützen. Bei der Einreise unbegleiteter ausländischer Jugendlicher sei dabei zunächst zu klären, ob der Jugendliche nach Hause zurückkehren wolle oder ein Asylantrag zu stellen sei. Wolle er einen Asylantrag stellen oder habe dies bereits getan oder sei ein solcher Antrag angezeigt, könne nicht davon ausgegangen werden, dass er innerhalb kürzerer Zeit in sein Heimatland zu verbringen sein werde; es müsse dann geprüft werden, ob Hilfe zur Erziehung notwendig und geeignet sei. Diese sei daran ausgerichtet, ob der Jugendliche überhaupt (noch) einer Erziehung bedürfe oder ob er erziehungsfähig sei. Falls dies zu bejahen sei, müsse die Art der Hilfe zur Erziehung geprüft werden. Die Klärung dieser Fragen könne vom Jugendamt bereits vor der Bestellung des Amtsvormunds eingeleitet werden. Die hierzu erforderliche Zeit, die zugleich den Rahmen für die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme bilde, lasse sich nicht generell und verallgemeinernd festlegen, vielmehr komme es auf die konkrete Ausgestaltung des Einzelfalles an. Gleichwohl lasse sich vor dem Hintergrund der gesetzlichen Ausgestaltung der Inobhutnahme als vorübergehender Unterbringung zur Krisenintervention in tatsächlicher Hinsicht feststellen, dass im Allgemeinen ein Zeitraum von drei Monaten für die Inobhutnahme ausreiche, um den mit ihr beabsichtigten Zweck zu erreichen, so dass ein darüber hinausgehender Zeitraum – von besonderen Fallgestaltungen abgesehen – nicht mehr als gesetzmäßige Aufgabenerfüllung im Sinne des § 89 f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII angesehen werden könne. Innerhalb von drei Monaten könne der Jugendliche mit Hilfe eines Dolmetschers angehört, sein Betreuer in der Erstversorgungseinrichtung gehört oder, wie üblicherweise geschehen, ein Erziehungsbericht angefordert und könne mit dem bestellten Amtsvormund die weitere Vorgehensweise abgeklärt und auch begonnen werden. Der Einwand der Klägerin, Hilfe zur Erziehung könne nur der Amtsvormund beantragen, so dass die Inobhutnahme bis zu diesem Antrag und in der Folge auch bis zur Gewährung der Hilfe zur Erziehung rechtmäßig sei, treffe nicht zu. Das Jugendamt sei vielmehr verpflichtet, darüber zu wachen, dass der Amtsvormund nicht untätig bleibe, und könne innerdienstlich auf den betreffenden Mitarbeiter einwirken, der zwar weisungsunabhängig sei, aber der Rechtsaufsicht des Jugendamtes unterliege, das notfalls einen anderen Mitarbeiter mit der Führung der Vormundschaft beauftragen könne und müsse.
Der vorliegende Fall weise keine Besonderheiten auf, die es rechtfertigten, die Inobhutnahme über den Zeitraum von drei Monaten hinaus aufrechtzuerhalten. Die Anhörung des Jugendlichen mit Hilfe des Dolmetschers sei –wie auch in vergleichbaren Fällen –zügig erfolgt und der Amtsvormund durch das Familiengericht zügig bestellt worden; zögerlich sei jedoch die Abklärung des eventuell bestehenden Bedarfs an Hilfe zur Erziehung im Zusammenwirken mit der Erstversorgungseinrichtung gewesen. Die Klägerin gehe in einem Formularschreiben, das nach ca. drei Monaten an die Unterbringungseinrichtung versandt werde, „von einer durchschnittlichen Verweildauer in Erstversorgungseinrichtungen von acht Monaten” aus. Dies stehe nicht mit der Zielrichtung der Inobhutnahme in Einklang und werde durch die Wahrnehmung des Wohls des Jugendlichen nicht gerechtfertigt. Notwendige Erziehungsberichte könnten bereits früher angefordert und auch erstellt werden; die Fortdauer der Aufnahme in der Erstversorgungseinrichtung nach Ablauf von drei Monaten sei deshalb nicht mehr rechtmäßig.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin. Sie rügt die Verletzung der §§ 42, 89 f Abs. 1 SGB VIII und macht geltend, eine schematische Regelfrist für die rechtmäßige Dauer der Inobhutnahme sei unangemessen, vielmehr müsse dem Vormund die jeweils im Einzelfall notwendige Zeit eingeräumt werden, um mit allen Beteiligten eine gemeinsame Perspektive erarbeiten zu können.
Der Beklagte verfolgt mit seiner Anschlussrevision weiter den Rechtsstandpunkt, die Inobhutnahme sei nach der am 12. März 1999 erfolgten Bestellung des Amtsvormunds und dem darauf folgenden Wochenende zumindest nach dem 14. März 1999 unrechtmäßig gewesen.
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht ist in Übereinstimmung mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Auffassung, die Inobhutnahme sei jedenfalls nicht schon mit der Bestellung eines Amtsvormunds beendet. Generelle, pauschalierende Zeitvorgaben für die Überleitung in eine dauerhafte Hilfe seien nicht möglich, vielmehr müsse jeweils für die Entscheidung eine konkrete Einzelfallprüfung erfolgen.
Entscheidungsgründe
II.
Revision und Anschlussrevision sind im Sinne der Zurückverweisung begründet. Das Berufungsurteil ist mit Bundesrecht unvereinbar (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), weil es den Beklagten mit Blick auf den streitgegenständlichen Zeitraum zwischen der Bestellung des Vormunds und dessen Antrag auf Hilfe zur Erziehung (15. März bis 20. April 1999) zur Erstattung der für P. B. bis zum 8. April 1999 aufgewendeten Jugendhilfekosten verurteilt, den weitergehenden Antrag aber abgewiesen hat, ohne jeweils konkret festgestellt zu haben, ob und gegebenenfalls ab wann die in der Erstversorgungseinrichtung gewährte Hilfe –wegen Ungeeignetheit oder weggefallenen Hilfebedarfs –nicht mehr geboten war oder die Klägerin Anlass hatte, die Hilfe in eine weniger kostenintensive Hilfeform zu überführen. Insoweit besteht Aufklärungsbedarf. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und mangels Entscheidungsreife zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Klägerin den Beklagten aufgrund der Bestimmung des Bundesverwaltungsamts zu Recht als erstattungspflichtiges Land nach § 89 d SGB VIII in der hier maßgeblichen, ab 1. Juli 1998 geltenden Fassung vom 29. Mai 1998 (BGBl I S. 1188) bzw. 8. Dezember 1998 (BGBl I S. 3546) in Anspruch nimmt. Die Klägerin hat mit Verfügung vom 12. Januar 1999 den unbegleitet eingereisten, im Ausland geborenen P. B. rückwirkend zum 8. Januar 1999 in Obhut genommen und ihm damit Jugendhilfe gewährt (§ 89 d Abs. 1 Satz 1, § 2 Abs. 1 und 3 Nr. 1 SGB VIII). Gemäß § 89 d Abs. 1 Satz 3 SGB VIII bleibt die Erstattungspflicht nach Satz 1 unberührt, wenn die Person –wie hier der Jugendliche P. B. –um Asyl nachsucht oder einen Asylantrag stellt (vgl. in diesem Zusammenhang BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1999 –BVerwG 5 C 24.98 –BVerwGE 109, 155 ff.). Dies wird auch von den Beteiligten nicht in Frage gestellt.
2. Ebenfalls zutreffend hat die Vorinstanz dargelegt, dass die Inobhutnahme in den Fällen einer wegen des Ruhens der elterlichen Sorge erforderlichen Vormundbestellung (§ 42 Abs. 3 Satz 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB VIII, §§ 1674, 1693 BGB) nicht bereits mit der Vormundbestellung ihre Rechtsgrundlage verliert.
Die Aufgabe des Jugendamtes, gefährdeten Jugendlichen in einer Krisensituation Unterbringung und Betreuung zu gewährleisten, und der mit der Inobhutnahme verbundene Schutzauftrag sind mit der Bestellung eines Amtsvormunds durch das Familiengericht noch nicht erfüllt, denn die bloße Existenz eines Personensorgeberechtigten, der anderweitige Hilfen beantragen könnte, löst nicht das Problem des akuten Unterkunfts- und Betreuungsbedarfs. Das Jugendamt, das sich mit der Inobhutnahme in einer besonderen Pflichtenstellung gegenüber den betroffenen Jugendlichen befindet und dabei in der vorliegenden Sachverhaltsgestaltung zusätzlich die Rolle des Vormunds übernimmt, die es gemäß § 55 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII einzelnen seiner Beamten oder Angestellten überträgt, bleibt jugendhilferechtlich verpflichtet, im Zusammenwirken mit dem die Vormundschaft ausübenden Beamten die Art des jugendhilferechtlichen Bedarfs zu klären und eine Entscheidung über die gebotene Hilfe herbeizuführen. Es hat dafür Sorge zu tragen, dass die Verfahren in der gebotenen zügigen Weise mit dem Ziel einer Krisenklärung (entweder – bei andauerndem erzieherischen Bedarf – Überleitung der Inobhutnahme in eine Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 30, 34 SGB VIII oder – bei Wegfall eines jugendhilferechtlichen Bedarfs – Beendigung der Inobhutnahme) abgewickelt werden. Als „vorläufige Unterbringung” (§ 42 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) eines Kindes oder Jugendlichen und vorläufige Schutzmaßnahme im Sinne einer Krisenintervention bleibt die Inobhutnahme darauf gerichtet, die Krisensituation zu beseitigen bzw. ihr mit geeigneten Hilfeangeboten zu begegnen, ist aber nicht bereits selbst die vom Gesetz intendierte dauerhafte Lösung erzieherischer Probleme.
3. Unzutreffend ist jedoch die Auffassung der Vorinstanz, eine Verpflichtung zur Kostenerstattung aus der Inobhutnahme gefährdeter und sowohl unterbringungs– wie betreuungsbedürftiger Jugendlicher aus der besonderen Gruppe unbegleitet eingereister ausländischer Jugendlicher bestehe grundsätzlich für einen Zeitraum von drei Monaten ab Beginn der Inobhutnahme, der im Allgemeinen zur Abklärung eines eventuell bestehenden Bedarfs an Hilfe zur Erziehung ausreichend sei, aber nicht mehr für die Zeit danach, weil die Inobhutnahme mit Ablauf dieser Frist von einer rechtmäßigen erstattungsfähigen in eine rechtswidrige, nicht erstattungsfähige Maßnahme umschlage.
Nach § 89 f Abs. 1 SGB VIII sind die aufgewendeten Kosten zu erstatten, „soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften dieses Buches entspricht. Dabei gelten die Grundsätze, die im Bereich des tätig gewordenen Trägers zur Zeit des Tätigwerdens angewandt werden.” Die gerichtliche Kontrolle der Gesetzeskonformität aufgewendeter Jugendhilfekosten im Rahmen der Prüfung des Umfangs der Kostenerstattung gemäß § 89 f SGB VIII ist in der hier vorliegenden besonderen Fallgestaltung in Obhut genommener unbegleitet eingereister ausländischer Jugendlicher (§ 89 d SGB VIII) in einer Einrichtung, welche bei materieller Betrachtung bereits eine grundsätzlich bedarfsgeeignete Hilfe erbringt, im Hinblick auf den kostenerstattungsrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatz darauf beschränkt, ob die in der Erstversorgungseinrichtung gewährte Hilfe – wegen Ungeeignetheit oder weggefallenen Hilfebedarfs – nicht mehr geboten war oder ob die Klägerin Anlass hatte, diese Hilfe bereits früher in eine weniger kostenintensive Hilfeform zu überführen. Eine solche Betrachtung ist deswegen geboten, weil die Kosten der Unterbringung und Betreuung in einer Erstversorgungseinrichtung dem Beklagten nach § 89 f SGB VIII dann nicht mehr in Rechnung gestellt werden können, wenn ein jugendhilferechtlicher Bedarf nicht mehr bestand oder zwar noch bestand, aber nicht mehr in/von der Erstversorgungseinrichtung gedeckt werden konnte. In den Fällen der dem Senat insgesamt vorliegenden vierzehn Erstattungsverfahren, in denen die Klägerin die in der Erstversorgungseinrichtung gewährte Hilfe ohne anschließende Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 30, 34 SGB VIII beendet hat, ist deshalb zu prüfen, ob ein jugendhilferechtlicher Bedarf für die Unterbringung und Betreuung in der Erstversorgungseinrichtung bis zum Ende der tatsächlichen Leistungserbringung bestanden hat. In denjenigen Fällen, in denen die Hilfe in der Erstversorgungseinrichtung auf der Grundlage der Entwicklungsberichte und Erziehungskonferenzen durch eine Hilfe zur Erziehung nach § 30 SGB VIII (Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer) abgelöst werden konnte, deren Kosten nach Angaben der Klägerin erheblich unter denen der Betreuung in Erstversorgungseinrichtungen liegen, da sie die Kosten für Unterbringung und Verpflegung nicht mit umfassen, hängt die Kostenerstattung für die bis zur Anschlusshilfe fortgeführte Hilfe in der Erstversorgungseinrichtung jeweils davon ab, ob die Klägerin Anlass gehabt hätte, die Inobhutnahme bereits früher in die weniger kostenintensive Hilfeform nach § 30 SGB VIII zu überführen. In den Fällen, auch denen der Gewährung von Anschlusshilfe in Form von Hilfe zur Erziehung nach § 34 SGB VIII, kann mit Rücksicht auf den Interessenwahrungsgrundsatz Kostenerstattung nur nach Maßgabe der von mehreren gleich effektiven Hilfemaßnahmen weniger kostenintensiven verlangt werden.
Diesen kostenrechtlich differenzierten Kriterien wird der Prüfungsmaßstab der Vorinstanz, welcher für die Kostenerstattung die Zäsur zwischen erstattungsfähiger und nichterstattungsfähiger Inobhutnahme unter dem Gesichtspunkt des Gebots einer zügigen Krisenklärung einheitlich nach dem reinen Zeitkriterium einer Dreimonatsfrist setzt, nicht gerecht. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass im Einzelfall bereits vor Erreichen des vom Verwaltungsgerichtshof gewählten Stichtages der zunächst bestehende Betreuungs- und Erziehungsbedarf nicht mehr bestand und die jugendhilferechtlichen Aufwendungen bereits zu einem früheren Zeitpunkt gänzlich erspart werden konnten oder dass – in den Fällen der Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach § 30 SGB VIII als Anschlusshilfe – erkennbar geworden war, dass diese weniger kostenintensive Hilfe ausreichend war; umgekehrt ist – insbesondere in Fällen einer kostenintensiveren Anschlusshilfe nach § 34 SGB VIII – nicht auszuschließen, dass auch mit einer über die Dreimonatsfrist hinausreichenden Hilfe in einer Erstversorgungseinrichtung ein weiterer jugendhilferechtlicher Bedarf bis zu einem späteren Hilfewechsel bedarfsgerecht erfüllt wird. Dabei ist die Entscheidung über die individuell erforderlichen Hilfemaßnahmen von dem erstattungsberechtigten Jugendhilfeträger in eigener Verantwortung zu treffen und daher dessen Einschätzung für den erstattungspflichtigen Träger maßgeblich (vgl. auch § 89 f Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).
Auf der Grundlage dieser Maßstäbe gelangt der Senat im vorliegenden Erstattungsverfahren, bei dem der streitgegenständliche Zeitraum zwischen der Vormundbestellung und dessen Antrag auf Hilfe zur Erziehung 37 Tage beträgt und ausweislich der Jugendhilfeakten die Erziehungskonferenzen eine den Maßstäben des § 34 SGB VIII genügende Jugendwohnung als – mit Bewilligungsverfügung vom 27. August 1999 auch gewährte – Anschlusshilfe befürwortet haben, zur Aufhebung und Zurückverweisung. Zwar liegt bei dieser zeitlichen Konstellation die Annahme nahe, dass tatsächlich während der gesamten Dauer der Hilfe in der Einrichtung ein jugendhilferechtlicher Bedarf bestand. Es fehlen aber tatsächliche Feststellungen dazu, ob die Hilfe in der Erstversorgungseinrichtung kostenintensiver war als die anschließende Hilfe in der betreuten Wohnform nach § 34 SGB VIII und gegebenenfalls von welchem Zeitpunkt ab die Klägerin einen Wechsel hätte herbeiführen können.
Unterschriften
Dr. Säcker, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke, Prof. Dr. Berlit
Fundstellen
FEVS 2006, 1 |
ZAR 2005, 71 |
ZfF 2005, 165 |
ZfJ 2005, 23 |
Jugendhilfe 2005, 102 |
JAmt 2004, 438 |