Entscheidungsstichwort (Thema)
Staatsangehörigkeit. Einbürgerung. Rücknahme. Täuschung. erschlichene Einbürgerung. Ermessen. eheliche Lebensgemeinschaft. Scheinehe. Vermeidung von Staatenlosigkeit. einheitliche Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie
Leitsatz (amtlich)
- Die Qualifizierung einer gültig geschlossenen Ehe als sog. Scheinehe steht der Eigenschaft als “Ehegatte” im Sinne des § 9 RuStAG (jetzt StAG) nicht entgegen.
- Bei einer sog. Scheinehe ist eine positive Ausübung des Einbürgerungsermessens regelmäßig ausgeschlossen.
- Die Rücknahme der – von einem Elternteil durch bewusste Täuschung erwirkten – (Mit-)Einbürgerung eines minderjährigen Kindes, die auf der Grundlage des § 8 RuStAG zu einer einheitlichen Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie führen sollte, erfordert eine eigenständige Ermessensentscheidung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG.
Normenkette
GG Art. 16 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; BGB § 1314 Abs. 2 Nr. 5, § 1353 Abs. 1; RuStAG §§ 8-9; StAG §§ 8-9; VwVfG § 48
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 29.11.2002; Aktenzeichen 13 S 2039/01) |
VG Stuttgart (Urteil vom 14.08.2000; Aktenzeichen 7 K 2559/00) |
Tenor
Die Revision des Klägers zu 1 wird zurückgewiesen.
Auf die Revision der Klägerin zu 2 wird das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 29. November 2002 geändert, soweit es sie betrifft. Insoweit wird die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14. August 2000 insgesamt zurückgewiesen.
Die in allen Instanzen entstandenen Gerichtskosten tragen der Kläger zu 1 und der Beklagte je zur Hälfte.
Der Kläger zu 1 trägt seine eigenen außergerichtlichen Kosten und die Hälfte derjenigen des Beklagten. Dieser trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 2 und die Hälfte seiner eigenen außergerichtlichen Kosten.
Tatbestand
I.
Die Kläger wenden sich gegen die Rücknahme ihrer Einbürgerung.
Der 1960 geborene Kläger zu 1 (im Folgenden: Kläger) und seine 1986 geborene Tochter, die Klägerin zu 2 (im Folgenden: Klägerin), sind von Geburt türkische Staatsangehörige. Die Klägerin entstammt der 1991 in der Türkei geschiedenen Ehe des Klägers mit einer türkischen Staatsangehörigen.
1991 reiste der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte erfolglos einen Asylantrag. Im August 1992 heiratete er die deutsche Staatsangehörige T.…, worauf ihm die Stadt Aalen eine befristete und später eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilte. Nach der Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf den Kläger reiste auch die Klägerin – spätestens im September 1993 – in das Bundesgebiet ein. Seitdem hält sie sich bei den Eltern ihrer Mutter in Bamberg auf und besucht dort die Schule.
Im Oktober 1995 beantragten die Kläger bei dem beklagten Land (Landratsamt) ihre Einbürgerung. Als Familienstand gab der Kläger in dem Antragsformular, das auch die Antwort “getrennt lebend seit” zulässt, “verheiratet” an. Die Kläger wurden am 15. April 1997 von dem Beklagten eingebürgert.
Durch seit dem 6. August 1997 rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Aalen vom 1. Juli 1997 wurde die Ehe des Klägers mit Frau T.… auf dessen Antrag geschieden. In der mündlichen Verhandlung des Amtsgerichts hatten der Kläger und seine Ehefrau übereinstimmend erklärt, dass sie seit Frühjahr 1996 getrennt lebten.
Nachdem bekannt geworden war, dass der Kläger am 26. Dezember 1997 seine frühere türkische Ehefrau in der Türkei erneut geheiratet hatte und diese die Familienzusammenführung in der Bundesrepublik Deutschland betrieb, leitete die Beklagte ein Rücknahmeverfahren ein. Mit Bescheid vom 11. Juni 1999 nahm sie die Einbürgerung der Kläger gemäß § 48 LVwVfG unter Anordnung der sofortigen Vollziehung zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger habe seine nach § 9 RuStAG erfolgte Einbürgerung durch arglistige Täuschung über das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft erschlichen. Auch die nur von dem – tatsächlich nicht bestehenden – Anspruch des Klägers abgeleitete Einbürgerung der Klägerin sei zurückzunehmen.
Über den Widerspruch der Kläger wurde nicht entschieden. Mit Beschluss vom 16. August 1999 hat das Verwaltungsgericht Stuttgart die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Kläger wiederhergestellt. Ihrer Klage hat es mit Urteil vom 14. August 2000 stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg dieses Urteil mit Ausnahme der in dem angefochtenen Bescheid ausgesprochenen Aufforderung zur Rückgabe der Einbürgerungsurkunden aufgehoben. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Die Rücknahme der Einbürgerung der Kläger finde ihre Rechtsgrundlage in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG, dessen Anwendung nicht durch spezialgesetzliche Bestimmungen über den Verlust der Staatsangehörigkeit ausgeschlossen sei. Auch verstoße eine auf § 48 LVwVfG gestützte Rücknahme der Einbürgerung nicht gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. Der Rücknahmebescheid sei auch hinreichend bestimmt. Aus den Gründen des Bescheids, in denen ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers auf den Bestand der Einbürgerung wegen arglistiger Täuschung verneint werde, ergebe sich, dass die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgen solle. Die Einbürgerung des Klägers erweise sich als von Anfang an rechtswidrig, weil der Beklagte bei seiner Entscheidung nach § 9 RuStAG von einer (fortbestehenden) ehelichen Lebensgemeinschaft und insbesondere von einer nicht nur zum Schein geschlossenen Ehe des Klägers ausgegangen sei, die Einbürgerung also in der Annahme eines in wesentlicher Hinsicht unzutreffenden Sachverhalts verfügt habe. Das Vorliegen einer Scheinehe rechtfertige die Annahme eines atypischen Falles, der den grundsätzlichen Rechtsanspruch auf Einbürgerung beseitige und der Staatsangehörigkeitsbehörde die Möglichkeit eröffne, die Einbürgerung ausnahmsweise nach Ermessen zu verweigern. Aufgrund des Ergebnisses der Berufungsverhandlung sei der Senat davon überzeugt, dass es sich bei der Ehe des Klägers mit der deutschen Staatsangehörigen T.… um eine Scheinehe gehandelt habe. Dafür, dass der Kläger die Ehe ausschließlich zum Zweck der Sicherung seines weiteren Aufenthalts in Deutschland geschlossen habe, sprächen seine eigenen widerspruchsvollen Angaben und eine Reihe von Indizien. U.a. fielen der enge zeitliche Zusammenhang der Eheschließung mit der Abschiebungsandrohung der Stadt Aalen vom 10. Juni 1992 und der Umstand auf, dass der Kläger bereits Ende 1997 seine frühere türkische Ehefrau erneut geheiratet habe. Die Rücknahme der Einbürgerung erweise sich auch im Übrigen als frei von Rechtsfehlern. Soweit der Beklagte die Rechtswidrigkeit der zurückgenommenen Einbürgerung auf das Vorliegen einer Scheinehe und ein dadurch nach § 9 RuStAG eröffnetes, indessen fehlerhaft ausgeübtes Versagungsermessen stütze, sei zu beachten, dass beim Vorliegen einer Scheinehe in aller Regel und so auch in dem hier zu entscheidenden Fall keine Gesichtspunkte erkennbar seien, die eine für den Einbürgerungsbewerber positive Ausübung des Ermessens rechtfertigen könnten. Das auch bei Vorliegen einer Scheinehe durch § 9 RuStAG prinzipiell eröffnete Einbürgerungsermessen sei somit zu Lasten des Klägers “auf Null” reduziert, weshalb insoweit für Ermessenserwägungen bei der Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung kein Raum sei. Auch ansonsten sei das Rücknahmeermessen fehlerfrei ausgeübt worden. Die offenbar auf der Grundlage von § 8 RuStAG i.V.m. den Einbürgerungsrichtlinien vom 15. Dezember 1977 erfolgte Einbürgerung der Klägerin sei ebenfalls von Anfang an rechtswidrig. Es handele sich ersichtlich um eine zur Einbürgerung des Klägers akzessorische Entscheidung, so dass aus der Rechtswidrigkeit von dessen Einbürgerung auch die Rechtswidrigkeit der Einbürgerung der Klägerin folge. Ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Bestand der Einbürgerung sei auch der Klägerin nicht zuzubilligen.
Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision. Zu deren Begründung machen sie u.a. geltend, das Berufungsurteil verstoße gegen § 9 RuStAG und § 48 VwVfG. Weiter habe das Berufungsgericht nicht berücksichtigt, dass die Beweislast für die Voraussetzungen der Rücknahme der Einbürgerung bei dem Beklagten liege. Auch stellten die vom Berufungsgericht für das Vorliegen einer Scheinehe angeführten Gründe einen verfassungswidrigen Eingriff in das Recht der Eheleute dar, Art und Umfang ihrer ehelichen Beziehungen selbst zu bestimmen.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 29. November 2002 dahin abzuändern, dass die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14. August 2000 zurückgewiesen wird, soweit dies nicht bereits durch Urteil des Verwaltungsgerichtshofs geschehen ist.
Der Beklagte tritt der Revision entgegen.
Der Vertreter des öffentlichen Interesses beteiligt sich an dem Verfahren. Er verteidigt das angefochtene Urteil mit Ausnahme der zu Lasten der Klägerin ergangenen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers zu 1 (im Folgenden: Kläger) ist unbegründet. Das Berufungsurteil steht insoweit mit revisiblem Recht in Einklang. Dagegen ist die Revision der Klägerin zu 2 (im Folgenden: Klägerin) begründet. Soweit es sie betrifft, beruht das Berufungsurteil auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
1. Die Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid, der allein hinsichtlich der Rücknahme der Einbürgerung der Kläger Gegenstand der Revision ist, bildet § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Baden-Württemberg (Landesverwaltungsverfahrensgesetz – LVwVfG).
Wie der Senat durch Urteil vom 3. Juni 2003 – BVerwG 1 C 19.02 – (zur Aufnahme in die Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) entschieden hat, sind mangels einer abschließenden spezialgesetzlichen Regelung im Staatsangehörigkeitsrecht zum Wegfall der Staatsangehörigkeit die allgemeinen Rücknahmevorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze – hier: § 48 LVwVfG – im Falle einer von vornherein rechtswidrigen Einbürgerung jedenfalls dann anzuwenden, wenn die Einbürgerung durch bewusste Täuschung erwirkt worden ist. Das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Verfassungsprinzip der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns erfordert jedenfalls bei einer derart “erschlichenen” Einbürgerungsentscheidung eine Korrekturmöglichkeit. Der Rücknahme einer derart erwirkten Einbürgerung steht nicht das in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG verankerte Verbot der Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit entgegen. Auch schließt das in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltene Verbot des Verlusts der Staatsangehörigkeit gegen den Willen des Betroffenen bei Eintritt von Staatenlosigkeit grundsätzlich nicht die Rücknahme einer durch Täuschung erlangten Einbürgerung aus (vgl. zu den Einzelheiten Urteil vom 3. Juni 2003 – BVerwG 1 C 19.02 –).
2. Nach diesen Grundsätzen ist der angegriffene Bescheid hinsichtlich der Rücknahme der – durch bewusste Täuschung erwirkten – Einbürgerung des Klägers rechtmäßig. Er entspricht insoweit den Anforderungen von § 48 LVwVfG.
a) Die zurückgenommene Einbürgerung des Klägers war von Anfang an rechtswidrig im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG. Dies beurteilt sich nach § 9 RuStAG (Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz – in der bis zum 31. Dezember 1999 geltenden Fassung; jetzt: StAG), auf den die Einbürgerung gestützt war. Nach dieser Vorschrift sollen Ehegatten Deutscher unter den Voraussetzungen des § 8 RuStAG eingebürgert werden, wenn bestimmte weitere Voraussetzungen vorliegen.
Indem § 9 RuStAG auf “Ehegatten Deutscher” abstellt, setzt die Vorschrift eine gültig geschlossene und im Zeitpunkt der Einbürgerung bestehende Ehe voraus. Diese Voraussetzungen erfüllte die Ehe zwischen dem Kläger und Frau T.… zum Zeitpunkt der Einbürgerung. Die Qualifizierung dieser Ehe als so genannte Scheinehe (vgl. dazu unten) betrifft die zivilrechtliche Gültigkeit der Eheschließung nicht und steht somit der Eigenschaft des Klägers als “Ehegatte” einer Deutschen im Sinne von § 9 RuStAG nicht entgegen (vgl. auch den hier noch nicht anwendbaren § 1314 Abs. 2 Nr. 5 BGB, der lediglich die Aufhebbarkeit der Ehe vorsieht, wenn die Eheleute keine Verpflichtung gemäß § 1353 Abs. 1 BGB begründen wollten). Hinsichtlich der weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen des § 9 RuStAG hat das Berufungsgericht keine Feststellungen getroffen. Auch wenn man ihr Vorliegen zugunsten des Klägers unterstellt, hat die Revision keinen Erfolg.
Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen des § 9 RuStAG “soll” der Bewerber zwar eingebürgert werden. Die Ermächtigung räumt danach einen grundsätzlichen Einbürgerungsanspruch ein. In atypischen Fällen darf die Einbürgerung aber ausnahmsweise nach Ermessen verweigert werden. Atypisch sind vornehmlich solche Sachverhalte, auf die ihrer gesetzlichen Zweckbestimmung nach die Privilegierung des § 9 RuStAG nicht unmittelbar zielt, die aber von ihrem abstrakten Rahmen erfasst werden. Es müssen demnach besondere Umstände vorliegen, die eine Einbürgerung nach Sinn und Zweck des Gesetzes unangemessen erscheinen lassen (vgl. Urteil vom 16. Mai 1983 – BVerwG 1 C 28.81 – Buchholz 130 § 9 RuStAG Nr. 4 = NVwZ 1984, 111 und vom 31. März 1987 – BVerwG 1 C 29.84 – BVerwGE 77, 164 ≪180≫; vgl. auch Beschluss vom 15. August 1985 – BVerwG 1 CB 141.84 – InfAuslR 1986, 7). Das gilt vor allem für Missbrauchsfälle, z.B. für Scheinehen. Entsprechendes kann in Betracht kommen, wenn die Ehe des Einbürgerungsbewerbers gescheitert ist (vgl. Urteil vom 16. Mai 1983, a.a.O.). Eine Scheinehe liegt vor, wenn die Eheschließung nicht dem Ziel diente, eine – in welcher Form auch immer zu führende – eheliche Lebensgemeinschaft zu begründen, sondern einen anderen Zweck verfolgte, insbesondere den, dem ausländischen Partner ein sonst nicht zu erlangendes Aufenthaltsrecht zu verschaffen (Urteil vom 23. Mai 1995 – BVerwG 1 C 3.94 – BVerwGE 98, 298 ≪302≫ m.w.N.; vgl. auch Nr. 9.0a StAR-VwV).
Die Einbürgerung des Klägers erweist sich als rechtswidrig, weil der Beklagte einen in wesentlicher Hinsicht unzutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt und deshalb eine Versagung der Einbürgerung nach § 9 RuStAG nach den oben dargestellten Grundsätzen nicht in Betracht gezogen hat. Er ging nämlich von einer (fortbestehenden) ehelichen Lebensgemeinschaft und einer nicht nur zum Schein geschlossenen Ehe des Klägers aus. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts handelte es sich aber um eine Scheinehe; der Kläger hat eine eheliche Lebensgemeinschaft mit Frau T.… aufgrund vorgefasster Absicht nie aufgenommen. An diese Feststellungen ist das Revisionsgericht nach § 137 Abs. 2 VwGO gebunden, da von der Revision, die sich ausdrücklich nicht gegen die Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts richtet, keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe vorgebracht sind. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang eine Verletzung von Beweislastregeln rügt, geht dies fehl. Eine Frage der (materiellen) Beweislast würde sich nur in dem – hier offensichtlich nicht gegebenen – Fall der Nichterweislichkeit entscheidungserheblicher Tatsachen stellen. Eine formelle Beweislast kennt der vom Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte Verwaltungsprozess nicht (vgl. zuletzt etwa Beschluss vom 24. Juli 2001 – BVerwG 1 B 123.01 – Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 35 und Urteil vom 29. Juni 1999 – BVerwG 9 C 36.98 – BVerwGE 109, 174 ≪177 ff., 180≫).
Ebenfalls fehl geht der Einwand der Revision, die Annahme einer Scheinehe durch das Berufungsgericht stelle einen verfassungswidrigen Eingriff in das Recht der Eheleute dar, Art und Umfang ihrer ehelichen Beziehungen selbst zu bestimmen. Damit greift die Revision der Sache nach die insoweit vorgenommene Beweiserhebung und -würdigung des Berufungsgerichts an, ohne insoweit einen revisionsrechtlich beachtlichen Fehler aufzuzeigen. Soweit der Wille der Ehepartner, die Ehe im Bundesgebiet zu führen, für den aufenthaltsrechtlichen Schutz oder – wie hier – für die Einbürgerung wesentlich ist, sind Behörden und Gerichte bei berechtigtem Anlass zu der Prüfung befugt, ob dieser Wille nur vorgeschützt ist (Urteil vom 23. Mai 1995 – BVerwG 1 C 3.94 – BVerwGE 98, 298 ≪306≫). Dies darf freilich nur unter Wahrung der Verfassungsgebote geschehen, die Menschenwürde und die Intimsphäre des Betroffenen zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG). Dass das Berufungsgericht hiergegen verstoßen hat, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Soweit die Revision mit ihrem Vortrag wohl zusätzlich geltend machen will, jede zivilrechtlich gültige Ehe eines ausländischen mit einem deutschen Staatsangehörigen müsse einen Einbürgerungsanspruch nach § 9 RuStAG vermitteln, verkennt sie, dass der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht verpflichtet war und ist, jeden ausländischen Ehepartner eines oder einer Deutschen einzubürgern.
b) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist davon auszugehen, dass der Kläger seine Einbürgerung durch bewusste Täuschung erlangt hat. Das folgt schon daraus, dass die Eheschließung ausschließlich die Sicherung des weiteren Aufenthalts des Klägers in Deutschland bezweckte und eine eheliche Lebensgemeinschaft nicht beabsichtigt war und auch nicht aufgenommen wurde. Er hat den Beklagten bei der Einbürgerung dadurch bewusst getäuscht, dass er im Antragsformular bei der Frage nach seinem Familienstand lediglich “verheiratet” und nicht zumindest zugleich “getrennt lebend” angekreuzt hat. Zutreffend ist deshalb das Berufungsgericht von einer “erschlichenen” Einbürgerung ausgegangen (UA S. 12). Auch der Beklagte hat danach den angefochtenen Bescheid zu Recht darauf gestützt, dass der Kläger seine Einbürgerung mittels arglistiger Täuschung erschlichen hat. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts liegen die Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 1 und 2 LVwVfG vor.
c) Der Beklagte hat sein nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnetes Ermessen bezogen auf den Kläger in dem angefochtenen Rücknahmebescheid rechtsfehlerfrei betätigt.
Die Rücknahme des ermessensfehlerhaft ergangenen Einbürgerungsbescheids setzt, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, voraus, dass die Behörde ihr Ermessen hinsichtlich des zurückzunehmenden Verwaltungsakts nunmehr inzident fehlerfrei ausübt. Bei Vorliegen einer Scheinehe fehlen in aller Regel – und so auch hier – Gesichtspunkte, die eine für den Einbürgerungsbewerber positive Ausübung des Ermessens rechtfertigen könnten. Ein Ermessensspielraum zugunsten einer Einbürgerung des Klägers bestand daher nicht; Ermessenserwägungen bei der Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung waren insoweit entbehrlich.
Dies bedeutet indessen nicht, dass auch das Rücknahmeermessen “auf Null” reduziert war. Der Beklagte hat sein Rücknahmeermessen noch hinreichend ausgeübt. Er ist in dem angefochtenen Bescheid ausdrücklich von einer Ermessensentscheidung nach § 48 LVwVfG ausgegangen und hat – angesichts des Vorliegens der Voraus-setzungen von § 48 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 1 und 2 LVwVfG zutreffend – dargelegt, dass sich der Kläger nicht auf Vertrauensschutz berufen kann. Private Belange des Klägers sind – bezogen auf die Frage einer Rückkehr in die Türkei – ausreichend mit der Erwägung erörtert worden, sie werde ohne Probleme möglich sein, da vollkommen intakte familiäre Beziehungen zur Türkei bestünden. Zudem hat der Beklagte – den Anforderungen des erwähnten Senatsurteils vom 3. Juni 2003 entsprechend (BVerwG 1 C 19.02) – das verfassungsrechtliche Gebot aus Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG, Staatenlosigkeit möglichst zu vermeiden, in seine Erwägungen einbezogen. Es sei der Auskunft des Generalkonsulats Istanbul vom 19. April 1999 zufolge höchst wahrscheinlich, dass er die türkische Staatsangehörigkeit bereits wieder angenommen habe; jedenfalls könne er diese wieder erhalten, so dass er durch die Rücknahme der Einbürgerung nicht dauerhaft staatenlos werde. Dem ist der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten. Sonstige schutzwürdige Belange, die trotz des ausgeschlossenen Vertrauensschutzes berücksichtigt werden könnten, hat der Kläger im Verwaltungsverfahren nicht geltend gemacht. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat dargelegt hat, der Beklagte habe seinen siebenjährigen Aufenthalt und seine Integration in Deutschland nicht berücksichtigt, kann er sich hierauf schon wegen seines nur erschlichenen Aufenthaltsrechts durch die ab 1992 bestehende Scheinehe nicht mit Erfolg berufen.
d) Der angefochtene Bescheid ist ferner im Sinne von § 37 Abs. 1 LVwVfG hinreichend bestimmt, auch soweit seine Entscheidungsformel nicht eindeutig erkennen lässt, ob die Rücknahme der Einbürgerung mit Wirkung für die Vergangenheit oder nur für die Zukunft gelten soll. Das Berufungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass sich aus den Gründen des Bescheids, die ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers auf den Bestand der Einbürgerung verneinen, ableiten lässt, dass die Rücknahme – wie es der gesetzlichen Regel entspricht – mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgen soll (vgl. § 48 Abs. 2 Satz 4 LVwVfG).
e) Ein der Rechtmäßigkeit der Rücknahmeentscheidung möglicherweise entgegenstehender Einbürgerungsanspruch aus einem anderen Rechtsgrund besteht nicht.
3. Soweit der angegriffene Bescheid die Rücknahme der Einbürgerung der Klägerin – der Tochter des Klägers – betrifft, ist er rechtswidrig und verletzt diese in ihren Rechten.
a) Die offenbar auf der Grundlage von § 8 RuStAG i.V.m. den Einbürgerungsrichtlinien vom 1. Juli 1977 (veröffentlicht mit Rundschreiben des BMI vom 15. Dezember 1977, GMBl. 1978, S. 16) erfolgte Einbürgerung der Klägerin war zwar ebenfalls von Anfang an rechtswidrig im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG. Ein Erstreckungserwerb nach § 16 Abs. 2 RuStAG fand nicht statt, wie sich aus der Einbürgerungsurkunde des Klägers ergibt. Zur Herstellung einer einheitlichen Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie sahen die genannten hier herangezogenen Richtlinien die erleichterte Miteinbürgerung minderjähriger Kinder vor (Nr. 4.1 i.V.m. Nr. 3.2.2.5). Zwischen der Einbürgerung des Klägers und derjenigen der damals elfjährigen Klägerin bestand mithin ein enger Zusammenhang. Auch ihrer Einbürgerung legte der Beklagte – insoweit bezogen auf die Ermessensentscheidung nach § 8 RuStAG – einen unzutreffenden Sachverhalt, nämlich eine nicht nur zum Schein geschlossene Ehe des Klägers zugrunde, weshalb sich auch diese Einbürgerung als rechtswidrig erweist.
b) Die Einbürgerung der Klägerin war auch durch bewusste Täuschung erwirkt worden. Insoweit muss sich die Klägerin das Verhalten des Klägers als ihres gesetzlichen Vertreters zurechnen lassen.
c) Der Beklagte hat aber das ihm nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnete Rücknahmeermessen hinsichtlich der Klägerin fehlerhaft betätigt.
Im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist eine eigenständige Ermessensentscheidung zu treffen hinsichtlich der Rücknahme der – von einem Elternteil durch bewusste Täuschung erwirkten – (Mit-)Einbürgerung eines minderjährigen Kindes, die auf der Grundlage des § 8 RuStAG zu einer einheitlichen Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie hatte führen sollen. Dabei ist namentlich zu berücksichtigen, ob das Kind an der Täuschung beteiligt war oder ihm eine eigenständige Täuschungshandlung vorzuwerfen ist. Darüber hinaus sind etwaige eigene schutzwürdige Belange des Kindes in die Ermessenserwägungen einzustellen. Dies gilt umso mehr, je älter das Kind ist und je besser es sich in die deutschen Lebensverhältnisse integriert hat. Diesen Belangen ist das öffentliche Interesse an der Herstellung gesetzmäßiger Zustände auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts mit dem ihm zukommenden besonderen Gewicht gegenüberzustellen (vgl. Urteil vom 3. Juni 2003 – BVerwG 1 C 19.02).
Diesen Anforderungen genügt die in Rede stehende Ermessensentscheidung nicht. Es begegnet bereits erheblichen Zweifeln, ob der Beklagte erkannt hat, dass ihm ein Rücknahmeermessen hinsichtlich der Einbürgerung der Klägerin eröffnet war. In dem angefochtenen Bescheid wird nämlich ausgeführt, dass dem Wunsch der seit 1993 bei ihren Großeltern in Deutschland lebenden Klägerin nach Berücksichtigung ihrer fünfjährigen Integration in die deutsche Schule und Gesellschaft nicht entsprochen werden kann und dass ihre Einbürgerung “zurückzunehmen war”. Jedenfalls hat der Beklagte nicht in seine Erwägungen einbezogen, dass der Klägerin mangels jeglicher entsprechender Anhaltspunkte weder eine Beteiligung an der Täuschungshandlung des Klägers noch eine eigene Täuschungshandlung vorgeworfen werden kann, wobei offen bleiben kann, ob die Klägerin sich deshalb auf Vertrauensschutz berufen kann (vgl. § 48 Abs. 2 Satz 3 LVwVfG). Unabhängig davon fehlt es an der gebotenen Berücksichtigung der persönlichen schutzwürdigen Belange der Klägerin. Der Beklagte hat die von der Klägerin geltend gemachte Integration in Deutschland nur insofern – zu Lasten der Klägerin – berücksichtigt, als daraus keine weitgehende Entfremdung von der Türkei folge. Dies reicht nicht aus.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 155 Abs. 1 Satz 1 und 3 VwGO.
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Dr. Mallmann, Hund, Richter, Prof. Dr. Dörig
Fundstellen
BVerwGE 2004, 17 |
FamRZ 2004, 193 |
DÖV 2004, 252 |
InfAuslR 2004, 77 |
ZAR 2004, 34 |
AuAS 2004, 15 |
BayVBl. 2004, 310 |
DVBl. 2004, 322 |
FamRB 2003, 343 |
JAmt 2004, 322 |