Entscheidungsstichwort (Thema)
Gebietsaustausch. Anwendungsbereich des Vermögensgesetzes. Normprogramm. analoge Anwendung des Vermögensgesetzes. Regelungslücke. Rechtsnachfolge. jüdischer Berechtigter. rassische Verfolgung. Wiedergutmachung für nationalsozialistisches Unrecht. kollektive Wiedergutmachung
Leitsatz (amtlich)
Die Vorschrift des § 1 Abs. 6 VermG ist entsprechend auf verfolgungsbedingt verlorene Grundstücke anwendbar, die im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Vermögensgesetzes wegen eines Gebietsaustausches nicht mehr im Beitrittsgebiet lagen (sog. Lenné-Dreieck).
Normenkette
VermG § 1 Abs. 6, § 2 Abs. 1 Sätze 1, 3, § 3 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 3
Verfahrensgang
VG Berlin (Urteil vom 06.11.2003; Aktenzeichen 22 A 345.98) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. November 2003 wird aufgehoben.
Ferner werden der Bescheid des Amtes zur Regelung offener Vermögensfragen Mitte-Prenzlauer Berg (AROV I) vom 19. Juni 1997 sowie der Widerspruchsbescheid des Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen vom 25. September 1998 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Klägerin hinsichtlich des ehemaligen Grundstücks … in Berlin-Mitte Berechtigte im Sinne des § 2 Abs. 1 VermG ist und einen Anspruch auf Auskehr des für diese Fläche erzielten Erlöses hat.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
Tatbestand
I.
Die Klägerin begehrt die Feststellung ihrer vermögensrechtlichen Berechtigung sowie ihres Anspruchs auf Erlösauskehr hinsichtlich eines Grundstücks, das Gegenstand eines Gebietsaustauschvertrages zwischen dem Senat von Berlin und der Regierung der DDR war.
Die früheren Eigentümer dieses im so genannten Lenné-Dreieck in Berlin-Mitte gelegenen Grundstücks verkauften es im Jahre 1939 an die Reichshauptstadt Berlin. Kaufvertrag und Auflassung wurden nach § 8 der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens genehmigt. Im Jahre 1966 wurde das wegen Kriegszerstörungen mittlerweile unbebaute Grundstück von der DDR in Volkseigentum überführt.
Am 31. März 1988 trafen der Senat von Berlin und die Regierung der DDR eine Gebietsaustauschvereinbarung, nach der unter anderem das Lenné-Dreieck zu den Westsektoren Berlins gehören sollte. Der Vollzug des Gebietsaustausches wurde am 1. Juli 1988 wirksam. Die Alliierte Kommandantur ordnete mit BK/O (88) 3 vom 30. Juni 1988 (GVBl 1988, 1232) an, dass das Dreieck Teil des britischen Sektors werde und im Übrigen die Bestimmungen der BK/O (72) 6 vom 3. Juni 1972 (GVBl 1972, 998) Anwendung fänden. Dort war anlässlich eines früheren Gebietsaustausches u.a. geregelt worden, dass das Eigentum der Rechtspersonen des öffentlichen Rechts in den eingetauschten Gebieten Eigentum der entsprechenden Rechtspersonen des öffentlichen Rechts in den aufnehmenden Sektoren werde und privates Eigentum vorübergehend vom Senat von Berlin als Treuhänder verwaltet werde.
Am 30. Dezember 1992 beantragte die Klägerin die Rückübertragung des Grundstücks. Das Amt zur Regelung offener Vermögensfragen lehnte den Antrag ab, weil das Grundstück im Zeitpunkt der Wiedervereinigung nicht in der DDR gelegen habe und daher nicht vom Vermögensgesetz erfasst werde.
Die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage, die nach der Durchführung eines Umlegungsverfahrens und der anschließenden Neubebauung des Areals auf die Feststellung der Berechtigung und des Anspruchs auf Erlösauskehr gerichtet ist, hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei unbegründet. Das Vermögensgesetz finde weder direkt noch analog Anwendung. Direkt sei das Gesetz nicht anwendbar, weil es von der Volkskammer der DDR beschlossen worden sei und sein räumlicher Geltungsbereich daher auf die Grundstücke im Herrschaftsbereich der DDR beschränkt sei. Die analoge Heranziehung des Gesetzes komme ebenso wenig in Betracht. Eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes scheide aus der Sicht der Volkskammer aus, weil diese das Gesetz nicht auf Gebiete außerhalb der DDR hätte erstrecken können. Soweit das Vermögensgesetz durch das Gesetz zum Einigungsvertrag als partielles Bundesrecht übernommen worden sei, sei eine Analogie ebenfalls nicht möglich. Der vornehmlich verwaltungstechnische Regelungsgehalt des Gesetzes zum Einigungsvertrag lasse Zweifel daran aufkommen, dass der Gesetzgeber den Sachverhalt – hätte er ihn erkannt – dort geregelt hätte. Obwohl es nahe liege, in diesen Fällen eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Wiedergutmachung anzunehmen, könne weder unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Grundentscheidungen noch sonst angenommen werden, dass ein Ausgleich in rechtmäßiger Weise allein durch eine entsprechende Anwendung des Vermögensgesetzes getroffen werden könne. Die Art und Weise, wie der gebotene Ausgleich zu gestalten sei, müsse der Entscheidung des Gesetzgebers vorbehalten bleiben.
Ihre durch das Verwaltungsgericht zugelassene Revision, mit der sie ihren Klageantrag weiter verfolgt, begründet die Klägerin im Wesentlichen wie folgt: Die formale Argumentation, das Vermögensgesetz sei noch als DDR-Recht in Kraft getreten, verkenne, dass Inhalt und Reichweite dieses Gesetzes wesentlich von der “alten” Bundesrepublik mitbestimmt oder initiiert worden seien. Es sei daher erforderlich, den Anwendungsbereich des § 1 Abs. 6 VermG im Wege der wortlautorientierten Auslegung und anhand seines erkennbaren Zwecks zu klären. Der bloße Wortlaut der Norm widerspreche nicht einmal ihrer Geltung in der gesamten Bundesrepublik. Eine Beschränkung des Anwendungsbereichs ergebe sich nur aus dem teleologischen Aspekt. Mit der Aufnahme von § 1 Abs. 6 VermG habe lediglich die Lücke geschlossen werden sollen, die dadurch entstanden sei, dass es in der SBZ/DDR keine Wiedergutmachung von NS-Unrecht gegeben habe. Diese Zielsetzung des Gesetzes bedeute, dass diese Vorschrift auf alle Grundstücke anwendbar sein müsse, die wegen ihrer damaligen und nicht notwendig bis zur Wiedervereinigung andauernden Belegenheit in der SBZ bzw. im sowjetischen Sektor Berlins nicht Gegenstand eines Verfahrens nach den westalliierten Rückerstattungsgesetzen sein konnten. Auch im vorliegenden Fall hätten die ursprünglich Berechtigten nach dem Krieg einen fristgerechten Antrag nach der Rückerstattungsanordnung gestellt, der wegen der Lage des Grundstücks im sowjetischen Sektor abgelehnt worden sei. Bei dieser Sachlage sei evident, dass das betroffene Grundstück genau in jene “Lücke” falle, zu deren Schließung § 1 Abs. 6 in das Vermögensgesetz aufgenommen worden sei. Dies entspreche auch den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland, die diese gegenüber den drei Westalliierten in den so genannten “Septemberverträgen” eingegangen sei. Damit sei nicht vereinbar, dass mitten in Berlin eine “wiedergutmachungsfreie Zone” entstünde. Auch vor dem Hintergrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes sei kein sachlicher Grund dafür erkennbar, dieses Gebiet von der Restitution auszuschließen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, und verteidigt die Ausführungen des angegriffenen Urteils.
Auch nach Auffassung des Vertreters des Bundesinteresses begegnet das angegriffene Urteil keinen rechtlichen Bedenken: Die Wiedergutmachungslücke, die dadurch entstehe, dass einerseits die rückerstattungsrechtlichen Antragsfristen abgelaufen seien und andererseits das Vermögensgesetz nur im ehemaligen Hoheitsbereich der DDR gelte, könne nicht dazu führen, dass der räumliche Geltungsbereich des Vermögensgesetzes erweitert werden müsse. Das Versäumnis liege nicht darin, dass bei der Regelung der im Verhältnis zur DDR offenen Vermögensfragen im Jahr 1990 ein regelungsbedürftiger Teilbereich ausgelassen worden sei. Vielmehr habe sich das Problem spätestens im Jahre 1988 im Zeitpunkt des Gebietsaustauschs gestellt. Auch ohne die deutsche Einigung und die damit verbundene Wiedergutmachung hätte auf der Basis des seinerzeit vorhandenen Rechtszustandes eine Lösung gefunden werden müssen. Allerdings frage sich dann, weshalb eine Lösung zu Gunsten der Klägerin ausfallen müsse; denn wenn die Lösung außerhalb des Vermögensgesetzes gesucht werden müsse, würden auch nicht die Regelungen des Vermögensgesetzes gelten, nach denen die Klägerin Rechtsnachfolgerin werde, wenn die unmittelbaren Rechtsnachfolger der Geschädigten keinen rechtzeitigen Antrag gestellt hätten.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht. Da § 1 Abs. 6 VermG entsprechend auf die vom Gebietsaustausch betroffenen Flächen anwendbar ist, hat die Klägerin gemäß § 2 Abs. 1 Sätze 1 und 3 sowie § 3 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 Satz 3 VermG einen Anspruch auf die von ihr begehrten Feststellungen, so dass ihrer Klage unter Aufhebung des angegriffenen Urteils stattgegeben werden muss.
Nach § 2 Abs. 1 Satz 3 VermG gilt die Klägerin in Ansehung der Ansprüche nach dem Vermögensgesetz als Rechtsnachfolgerin und somit nach § 2 Abs. 1 Satz 1 VermG selbst als Berechtigte, soweit Ansprüche von jüdischen Berechtigten im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG nicht angemeldet werden. Jüdische Berechtigte in diesem Sinne sind jüdische Bürger oder Vereinigungen, die in der nationalsozialistischen Zeit aus rassischen Gründen verfolgt wurden und deshalb ihr Vermögen infolge von Zwangsverkäufen, Enteignungen oder auf andere Weise verloren haben und denen daher nach § 1 Abs. 6 VermG in entsprechender Anwendung des Vermögensgesetzes vermögensrechtliche Ansprüche zustehen. Diese Vorschrift erfasst auch das umstrittene Grundstück …, obwohl es im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Vermögensgesetzes bereits außerhalb der DDR lag.
Eine unmittelbare Anwendung des § 1 Abs. 6 VermG scheidet allerdings aus. Zwar lässt sich dem Wortlaut der Norm selbst keine Beschränkung ihres Geltungsbereichs auf das Beitrittsgebiet entnehmen. Diese ergibt sich jedoch – wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt – notwendigerweise daraus, dass es sich bei dem Vermögensgesetz um ein Gesetz der Volkskammer handelt, das als DDR-Gesetz verabschiedet und als solches auch noch am 29. September 1990 in Kraft getreten ist (GBl I S. 1988). Die Vorstellung, die Volkskammer habe insoweit auch Regelungen hinsichtlich solcher Vermögenswerte treffen wollen, die sich nicht im Hoheitsbereich der DDR befanden, ließe sich nicht mit den auf das eigene Staatsgebiet beschränkten Befugnissen dieses Gesetzgebungsorgans vereinbaren. Dieser Beschränkung des Anwendungsbereichs auf das Beitrittsgebiet entsprechen auch Sinn und Zweck des § 1 Abs. 6 VermG; denn mit dieser Vorschrift sollte die Lücke geschlossen werden, die dadurch entstanden ist, dass in der SBZ/DDR keine Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts stattgefunden hat.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass das Vermögensgesetz durch das Gesetz über den Einigungsvertrag vom 23. September 1990 (BGBl II S. 885), mit dem der Einigungsvertrag nebst seinen Anlagen (zu denen das Vermögensgesetz gehörte – Anlage II Kapitel III Sachgebiet B Abschnitt I Nr. 5 –) ratifiziert wurde, zum 3. Oktober 1990 als partielles Bundesrecht übernommen wurde; denn durch diese Transformation hat sich der räumliche Geltungsbereich des Vermögensgesetzes nicht verändert.
Geboten ist aber eine analoge Anwendung des § 1 Abs. 6 VermG auf die vom Gebietsaustausch betroffenen Flächen. Diese ließe sich allerdings nicht rechtfertigen, betrachtete man die Analogiefähigkeit der Norm ausschließlich aus dem Blickwinkel der das Gesetz verabschiedenden Volkskammer. Da diese gar nicht in der Lage gewesen wäre, verbindliche Regelungen über die Rückgabe von Grundstücken zu treffen, die außerhalb des Hoheitsgebiets der DDR lagen, konnte das Gesetz aus ihrer Sicht keine Lücke aufweisen, die im Wege der Analogie geschlossen werden müsste.
Anders verhält es sich jedoch, zieht man bei der Frage nach der entsprechenden Anwendbarkeit die Regelung in der Gestalt heran, die sie durch die Übernahme als Bundesrecht gewonnen hat. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, das Einigungsvertragsgesetz, mit dem diese Übernahme bewirkt worden ist, gebe wegen seines vornehmlich verwaltungstechnischen Regelungsgehalts für die Frage der Analogiefähigkeit der vermögensrechtlichen Norm nichts her, geht an dem entscheidenden Punkt vorbei. Die Beurteilungsgrundlage ändert sich nicht wegen des “technischen” Inhalts des Ratifizierungsgesetzes, sondern ausschließlich wegen seiner Transformationswirkung. Da das DDR-Recht zu partiellem Bundesrecht wird, verliert das Argument, eine Analogie scheitere an der fehlenden Befugnis der Volkskammer, rechtsverbindliche Regelungen für außerhalb des Herrschaftsbereichs der DDR belegene Grundstücke zu treffen, seine Bedeutung. Maßgeblich wird mit der Transformation die Sicht des Bundesgesetzgebers. Geprüft werden muss, ob das Vermögensgesetz angesichts des nunmehr vom Bundesgesetzgeber zu verantwortenden Normprogramms unter Berücksichtigung der völkervertragsrechtlichen, aber auch der verfassungsrechtlichen Vorgaben jedenfalls insoweit lückenhaft ist, als es keine Bestimmungen über die Wiedergutmachung von aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung verursachten Schädigungen an Vermögenswerten enthält, die zur Zeit der Wiedervereinigung nicht mehr im Hoheitsbereich der DDR lagen.
Die Existenz einer solchen Lücke ist offenkundig. Mit dem Gesetz sollten, wie sein Name schon sagt, die offen gebliebenen Vermögensfragen geregelt werden. Gemeint sind sowohl die vermögensrechtlichen Fragen, die sich mit der deutschen Teilung ergeben hatten, als auch die, die sich bereits zuvor gestellt hatten und infolge der Teilung ungelöst geblieben waren. Zu diesen ungelösten Problemen zählte auch die Wiedergutmachung für Vermögensschäden aufgrund nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen, die in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR unterblieben war. Mit der in § 1 Abs. 6 VermG vorgenommenen Erstreckung der vermögensrechtlichen Bestimmungen auf diese Schädigungsmaßnahmen wird dokumentiert, dass die sich durch die Wiedervereinigung bietende Gelegenheit zur abschließenden Generalbereinigung dieses Problems genutzt werden sollte. Zu diesem Normprogramm gehörte aus der Sicht des Bundesgesetzgebers zwangsläufig auch die Wiedergutmachung für solche Vermögensschäden, die zwar zunächst wegen der deutschen Teilung unterblieben war, die aber wegen zwischenzeitlicher Veränderungen der Hoheitsgebiete der deutschen Staaten bereits vor der Wiedervereinigung hätte geregelt werden können, und zwar unabhängig davon, ob solche Regelungen bei den seinerzeitigen Gebietsaustauschmaßnahmen schlicht vergessen oder im Hinblick auf die für eine künftige Lösung der deutschen Frage in Aussicht genommene generelle Bereinigung aller Vermögensfragen bewusst nicht getroffen worden waren.
Dies gilt umso mehr, als die Bundesrepublik Deutschland auch entsprechende völkerrechtliche Verpflichtungen eingegangen ist. War sie zunächst aufgrund der Bestimmungen des Überleitungsvertrages (BGBl II 1955, S. 303, 405 ≪418 ff.≫) zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts verpflichtet, so hat sie in einer Vereinbarung mit den drei Westmächten vom 27./28. September 1990 (BGBl II S. 1386) bestätigt, dass die Streichung des dritten, vierten und fünften Teils des Überleitungsvertrags die Fortgeltung der darin festgelegten Grundsätze in Bezug auf die innere Rückerstattung, die Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und die äußere Restitution sowie die Fortgeltung der entsprechenden Bestimmungen des Bundesrückerstattungsgesetzes und des Bundesentschädigungsgesetzes nicht beeinträchtige (Nr. 4c Abs. 1). Weiterhin hat sie sich verpflichtet, das Bundesrückerstattungsgesetz und das Bundesentschädigungsgesetz auf das Beitrittsgebiet zu erstrecken (Nr. 4c Abs. 2), und darüber hinaus erklärt, dass sie sämtliche angemessenen Maßnahmen ergreifen werde, um sicherzustellen, dass die weiterhin gültigen Bestimmungen des Überleitungsvertrags “auf dem Gebiet der gegenwärtigen Deutschen Demokratischen Republik und in Berlin” nicht umgangen werden (Nr. 4a).
Da das Bundesrückerstattungsgesetz trotz seiner Erstreckung auf das Beitrittsgebiet durch Art. 8 des Einigungsvertrages wegen der nicht wieder eröffneten Antragsfristen (§ 27 Abs. 2 BRüG: 31. Dezember 1958 bzw. 1. April 1959) dort praktisch wirkungslos bleiben musste (BGH, VIZ 1995, 644 ≪645≫ m.w.N.), ist die Bundesrepublik Deutschland der von ihr eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtung durch die Einbeziehung von Wiedergutmachungsansprüchen NS-Verfolgter in das Vermögensgesetz nachgekommen (vgl. Wasmuth, in: Rechtshandbuch Vermögen und Investitionen in der ehemaligen DDR, Band II, B 100 VermG Einführung Rn. 797).
Wären die vom Gebietsaustausch betroffenen Vermögenswerte von der Anwendbarkeit dieser Restitutionsregelungen ausgenommen, hätte die Bundesrepublik Deutschland die von ihr eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht vollständig erfüllt. Dass dies – trotz des unbestreitbaren Willens zur abschließenden Regelung der Wiedergutmachung für ganz Deutschland – beabsichtigt war, kann nicht ernstlich angenommen werden. Diese Regelungslücke zwingt zur analogen Anwendung des § 1 Abs. 6 VermG auf diese Fälle.
Die entsprechende Heranziehung dieser Norm wird auch verfassungsrechtlich gefordert. Da auf die Wiedergutmachung von Vermögensschäden aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung im gesamten Beitrittsgebiet nach § 1 Abs. 6 VermG das Vermögensgesetz entsprechend anzuwenden ist, gebietet der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG, diese Rechtsanwendung auch auf die Flächen zu erstrecken, die im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Vermögensgesetzes nicht mehr zum Beitrittsgebiet gehörten, in denen aber aufgrund ihrer früheren Zugehörigkeit zum Hoheitsgebiet der DDR die Wiedergutmachung ebenfalls unterblieben ist. Ein sachlicher Grund, diese Fälle von der entsprechenden Anwendung des Vermögensgesetzes auszunehmen, ist nicht erkennbar. Der Einwand des Verwaltungsgerichts, die rechtlich gebotene Wiedergutmachung zwinge nicht zur entsprechenden Anwendung der Vorschriften des Vermögensgesetzes, vielmehr seien auch andere Regelungen, wie die Wiedereröffnung der Fristen des Rückerstattungsrechts oder eine Beschränkung auf Entschädigung denkbar, geht bereits daran vorbei, dass allein das Vermögensgesetz eine aktuell anwendbare Wiedergutmachungsregelung enthält, die einer verfassungskonformen analogen Anwendung zugänglich ist. Der Verweis auf andere gesetzgeberische Möglichkeiten wäre nur dann tragfähig, wenn es keine analogiefähige Norm für die hier betroffenen Flächen gäbe. Aber auch unabhängig davon geht diese Argumentation daran vorbei, dass es einer besonderen Rechtfertigung bedürfte, die nachzuholende Regelung für diese singulären Fälle anders zu gestalten als die für das gesamte Beitrittsgebiet. Insbesondere der Hinweis auf die mögliche Wiedereröffnung der rückerstattungsrechtlichen Antragsfristen vernachlässigt, dass mit dem Vermögensgesetz bewusst ein neuer Weg der Wiedergutmachung für das Beitrittsgebiet gewählt worden ist, der die zwischenzeitlichen tatsächlichen und rechtlichen Entwicklungen in Rechnung stellt und einen sozialverträglichen Ausgleich zwischen den über Jahrzehnte gewachsenen unterschiedlichen Interessen schafft. Dass dieses Anliegen des Gesetzgebers in derselben Weise für die hier betroffenen Flächen gilt, die erst kurz vor der Wiedervereinigung aus dem Hoheitsgebiet der DDR entlassen worden sind, liegt auf der Hand. Es ist daher nicht zu rechtfertigen, diese wenigen Hektar im Hinblick auf Schädigungen, die seinerzeit bereits über 40 Jahre zurücklagen, anders zu behandeln als das Beitrittsgebiet.
Ist somit § 1 Abs. 6 VermG entsprechend auf das hier betroffene Grundstück anwendbar, ist die Klägerin auch Rechtsnachfolgerin nach § 2 Abs. 1 Satz 3 VermG und damit Berechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 VermG; denn nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ist das Grundstück im Jahre 1939 mit einer Genehmigung nach § 8 der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens verkauft worden. Es handelte sich demnach um eine Veräußerung, für die die Entziehungsvermutung nach Art. 3 der Rückerstattungsanordnung – REAO – gilt. Diese kann wegen des Zeitpunkts des Geschäfts nur unter den verschärften Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 3 REAO widerlegt werden. Eine Widerlegung muss hier aber schon im Vorfeld dieser verschärften Voraussetzungen nach Art. 3 Abs. 2 REAO daran scheitern, dass die Verkäufer über den Kaufpreis nicht frei verfügen konnten; denn aus der devisenrechtlichen Genehmigung des Oberfinanzpräsidenten vom 5. Dezember 1939 ergibt sich, dass die den Verkäufern zustehenden Kaufpreisanteile auf ein Sperrkonto geflossen sind. Da die seinerzeit Geschädigten keine Ansprüche angemeldet haben, sind alle Voraussetzungen für eine Rechtsnachfolge der Klägerin nach § 2 Abs. 1 Satz 3 VermG erfüllt. Auch hier teilt der Senat nicht die Bedenken, die insbesondere der Vertreter des Bundesinteresses gegen die analoge Anwendung dieser Fiktion zu Gunsten der Klägerin äußert. Der Zweck der Rechtsnachfolgebestimmung, bei unbeanspruchtem jüdischem Vermögen die kollektive Wiedergutmachung zu Gunsten des jüdischen Volkes sicherzustellen, gilt bei den vom Gebietsaustausch betroffenen Flächen in derselben Weise wie bei den im Beitrittsgebiet gelegenen Grundstücken.
Da über das Grundstück zwischenzeitlich verfügt worden ist, hat die Klägerin gemäß § 3 Abs. 4 Satz 3 VermG einen Anspruch auf Auskehr des erzielten Erlöses.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO.
Unterschriften
Sailer, Kley, Herbert, Krauß, Neumann
Fundstellen
Haufe-Index 1312982 |
BVerwGE 2005, 286 |