Entscheidungsstichwort (Thema)
Kriegsfolgelasten. Staatspraxis. Kampfmittelräumung
Leitsatz (amtlich)
Einem Land entstehende Kosten einer Kampfmittelräumung gehören zu den vom Bund zu tragenden Aufwendungen gemäß Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG. Sie umfassen auch die Kosten von Vor- und Nebenarbeiten im Zusammenhang mit der Beräumung wie die Beseitigung von Bewuchs und Totholz in Trichter- und Grabenbereichen sowie das Einebnen von Grabungsstellen und das Umsetzen von Bodenmaterial zum Wiederherstellen des Geländes.
Normenkette
GG Art. 120 Abs. 1 Sätze 1, 3; AKG § 19 Abs. 2 Nr. 1
Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 3 326,38 € nebst Zinsen von jährlich fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Juni 2005 zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, in welchem Umfang die Beklagte zur Übernahme von Kosten für die Beseitigung von ehemals reichseigenen Kampfmitteln auf nicht bundeseigenen Grundstücken verpflichtet ist.
Im Jahre 2000 kam es in einem nicht bundeseigenen Waldgebiet zu großflächigen Waldbränden, bei denen zahlreiche Kampfmittel detonierten, die Soldaten der Wehrmacht auf ihrem Rückzug vor der Roten Armee gegen Ende des Zweiten Weltkrieges dort zurückgelassen hatten. Im Zuge der daraufhin auf einer Fläche von etwa 460 000 m(2) durchgeführten Beräumung wurden etwa 7,3 Tonnen Munition und Munitionsteile geborgen. Hierfür musste das klagende Land einen Betrag von ca. 370 000 DM aufwenden. Die Beklagte erstattete diesen Betrag mit Ausnahme der hier noch streitigen Summe von 3 326,38 €. Diese betrifft Kosten für Vor- und Nebenarbeiten im Zusammenhang mit der Beräumung wie die Beseitigung von Bewuchs und Totholz in Trichter- und Grabenbereichen, das Einebnen von Grabungsstellen und das Umsetzen des Bodenmaterials zum Wiederherstellen des Geländes.
Der Kläger stützt seine am 1. Juni 2005 erhobene Klage auf Art. 120 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz – GG – in Verbindung mit der für die Kampfmittelberäumung bestehenden Staatspraxis. Er ist der Auffassung, dass der einheitliche Sachverhalt der Kampfmittelbeseitigung nicht willkürlich aufgespaltet werden könne. Die hier in Rede stehenden Vor- und Nebenarbeiten seien als Maßnahmen der Kampfmittelbeseitigung erforderlich gewesen. Hinzu komme, dass die Beklagte in anderen Fällen bei der Beseitigung ehemals reichseigener Kampfmittel von nicht bundeseigenen Liegenschaften auch die zur Gefahrenbeseitigung erforderlichen Vor- und Nebenarbeiten erstattet habe.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 3 326,38 € nebst Zinsen von jährlich 5 % über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass der Kläger seinen Anspruch nicht aus Art. 120 Abs. 1 GG herleiten könne, weil diese Bestimmung zwischen dem Bund und den Ländern keine unmittelbaren Erstattungsansprüche begründe. Es sei dem Gesetzgeber vorbehalten festzulegen, ob und in welcher Weise Leistungen erbracht werden. Ein Anspruch der Länder könne allenfalls durch ein Bundesgesetz begründet werden. Hier komme nur das Allgemeine Kriegsfolgengesetz – AKG – in Betracht, das in den neuen Bundesländern jedoch mit Ausnahme der §§ 1, 2 AKG (Ausschluss von Ansprüchen) nicht gelte. Ein Anspruch bestehe allenfalls aus § 1004 BGB i.V.m. § 2 Nr. 3, § 19 AKG und müsse sich an der allgemeinen Staatspraxis messen lassen. Hiernach seien nur Kosten zu erstatten für Maßnahmen, die der Abwehr einer unmittelbaren Gefahr für das Leben oder die Gesundheit von Menschen dienen. Das sei bei den hier in Rede stehenden Vor- und Nacharbeiten nicht der Fall.
Entscheidungsgründe
II
1. Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten ist gegeben. Der Rechtsstreit betrifft eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit (§ 40 VwGO). Dies ist der Natur des Rechtsverhältnisses zu entnehmen, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird (vgl. Gemeinsamer Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 10. April 1986 – GmS-OGB 1/85 – BVerwGE 74, 368 ≪370≫). Der Kläger stützt den geltend gemachten Anspruch auf eine öffentlich-rechtliche Grundlage, indem er sich auf Art. 120 GG und die fortgeltende Staatspraxis für Kampfmittelräumung beruft (vgl. die bisherigen Urteile des Senats zur Kampfmittelräumung, z.B. Urteil vom 19. Februar 2004 – BVerwG 3 A 2.03 – Buchholz 11 Art. 120 GG Nr. 7; Urteil vom 16. Dezember 1999 – BVerwG 3 A 1.99 – Buchholz 11 Art. 120 GG Nr. 6 und Urteil vom 26. Januar 1995 – BVerwG 3 A 1.93 – Buchholz 316 § 59 VwVfG Nr. 12). Dabei handelt es sich trotz der Berufung des Klägers auf die im Grundgesetz enthaltene Regelung der Kriegsfolgelasten (Art. 120 GG) nicht um eine Streitigkeit verfassungsrechtlicher Art. Im Streit ist ein Erstattungsanspruch wegen eines Verwaltungshandelns des Klägers zur Gefahrenabwehr; dieser ist dem Verwaltungsrecht zuzurechnen (vgl. Urteil vom 18. April 1986 – BVerwG 8 A 1.83 – Buchholz 454.4 § 19 II. Wohnungsbaugesetz Nr. 1).
2. Die Klage ist auch begründet.
a) Die Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs ergibt sich, wie der Senat schon in seinem Urteil vom 20. Februar 1997 – BVerwG 3 A 2.95 – (Buchholz 11 Art. 120 GG Nr. 5) ausgesprochen hat, aus Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG. Zwar bestimmt Art. 104a Abs. 1 GG, dass der Bund und die Länder gesondert die Ausgaben tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben. Die Räumung von Kampfmitteln aus dem Zweiten Weltkrieg ist eine Aufgabe der Gefahrenabwehr, die nach Art. 30 GG den Ländern obliegt; danach wären die entsprechenden Kosten von den Ländern zu tragen. Die Bestimmung macht jedoch einen ausdrücklichen Vorbehalt für abweichende Regelungen durch das Grundgesetz selbst. Eine solche Regelung enthält Art. 120 Abs. 1 GG, wonach der Bund die Aufwendungen für die inneren und äußeren Kriegsfolgelasten nach näherer Bestimmung von Bundesgesetzen trägt. Diese Bestimmung regelt unmittelbar und verbindlich die Kostentragungspflicht des Bundes für Kriegsfolgelasten. Zwar überlässt die Vorschrift die nähere Bestimmung dem Bundesgesetzgeber. Ihm ist dadurch aber nicht gestattet, den Begriff “Kriegsfolgelasten” nach seinen Vorstellungen abzugrenzen. Ebenso wenig enthält der Gesetzesvorbehalt eine Ermächtigung für den Bundesgesetzgeber, den Ländern ganz oder teilweise Kriegsfolgelasten aufzubürden (BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 1959 – 2 BvF 5/56 – BVerfGE 9, 305 ≪318, 325≫) oder sich seiner Kostentragungspflicht dadurch zu entziehen, dass er trotz zwingender und betragsmäßig feststehender Aufwendungen der Länder keine Gesetze erlässt (vgl. Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 120 Rn. 16).
Durch die 1965 eingefügten Sätze 2 und 3 des Art. 120 Abs. 1 GG wird diese Sicht bestätigt. Vor allem Satz 3 nimmt die bis dahin geübte Staatspraxis in Bezug. Nach dieser Bestimmung ist der Bund zur Übernahme von Aufwendungen für Kriegsfolgelasten, die in Bundesgesetzen weder geregelt worden sind noch geregelt werden, nicht verpflichtet, wenn diese Aufwendungen bis zum 1. Oktober 1965 von den Ländern und Gemeinden erbracht worden sind. Ausdrücklich ist dort zwar nur von den Aufwendungen für Kriegsfolgelasten die Rede, die die Länder und ihre Untergliederungen bis zum 1. Oktober 1965 erbracht haben. Dies ist ersichtlich eine Ausnahme von dem Grundsatz des Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch, dass der Bund entsprechend der verfassungsmäßigen Kostenzuordnung des Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG Aufwendungen zu tragen hat, die er vor dem 1. Oktober 1965 schon erbracht hat. Der Verfassungsgeber ist mithin davon ausgegangen, dass die bis dahin bestehende Lastenverteilung festgeschrieben werden solle.
Die Entstehungsgeschichte des Art. 120 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG unterstreicht diese Würdigung. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Beschluss vom 16. Juni 1959 – 2 BvF 5/56 – (BVerfGE 9, 305) das Gesetz über die Tilgung von Ausgleichsforderungen vom 14. Juni 1956 (BGBl I S. 507) als mit Art. 120 GG in der damaligen Fassung unvereinbar und daher nichtig erklärt. Diesem Gesetz lag das Grundverständnis des Bundesgesetzgebers zugrunde, dass er befugt sei, den Begriff der “Kriegsfolgelasten” durch ein Bundesgesetz näher zu bestimmen und so Klarheit in der Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern zu schaffen. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist der Begriff der “Kriegsfolgelasten” als Rechtsbegriff jedoch hinreichend bestimmt und der Bund lediglich befugt, durch Bundesgesetz die Auswirkungen eines in der Verfassung schon enthaltenen Rechtssatzes im Einzelnen festzulegen, das Verfahren zum Vollzug der Verfassungsnorm zu ordnen und über Zweifelsfragen zu entscheiden. Aus diesem Grund kam es zu der Neufassung des Art. 120 Abs. 1 GG durch das 14. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 30. Juli 1965, mit dem insbesondere Art. 120 Abs. 1 Satz 3 GG eingefügt wurde. Diese Bestimmung enthält eine allgemeine Schutzklausel (BTDrucks IV/2524 S. 8) zur Aufrechterhaltung der gesetzlich bisher nicht geregelten, tatsächlich bestehenden Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern (sowie den Gemeinden und Gemeindeverbänden). Es sollte also der seinerzeit bestehende durch die bisherige Staatspraxis geprägte status quo aufrechterhalten bleiben (vgl. Sturm, DVBl 1965, 719, 723).
b) Zu Unrecht meint die Beklagte, ihrer Verpflichtung zur Kostenerstattung für die Kampfmittelbeseitigung nach Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG stünden die Bestimmungen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) entgegen. Sie beruft sich darauf, dass der Einigungsvertrag (Anl. I Kap. IV Sachg. A Abschn. I Nr. 12) nur die §§ 1 und 2 AKG im Beitrittsgebiet in Kraft gesetzt habe, die das Erlöschen von Ansprüchen gegen das Deutsche Reich und den Bund anordneten; außerdem seien etwaige Ansprüche erloschen, weil die einjährige Antragsfrist des § 28 AKG längst abgelaufen sei (vgl. BGH, Urteil vom 7. April 2006 – V ZR 144/05 –). Hiernach wäre die Kostenerstattung, die die Beklagte nach wie vor – auch im Beitrittsgebiet – vornimmt, eine freiwillige Leistung ohne Rechtspflicht, deren Umfang durch Erlasse bestimmt werden könnte.
Bei dieser Argumentation übersieht die Beklagte, dass die hier streitigen Ansprüche nicht durch das Allgemeine Kriegsfolgengesetz erfasst werden. Es regelt das Erlöschen bzw. die Fortexistenz von Ansprüchen, die sich ursprünglich gegen das Deutsche Reich oder das Land Preußen richteten oder die sich aus früheren Verpflichtungen und Akten dieser Rechtssubjekte herleiten. Darunter fällt etwa die Polizeipflicht des Reiches wegen von ihm verursachter Bodenverunreinigungen (Urteil vom 3. November 2005 – BVerwG 7 C 27.04 – NVwZ 2006, 354). Um solche Ansprüche geht es hier nicht. Der Bund wird nicht für frühere Verpflichtungen des Reiches in Haftung genommen. Vielmehr ist die Kostentragung für – heute anstehende – Maßnahmen der Kriegsfolgenbeseitigung im Streit. Hierfür trifft Art. 120 Abs. 1 GG als Bestandteil der Finanzverfassung im Verhältnis von Bund und Ländern eine eigenständige Regelung.
Das bedeutet freilich nicht, dass die Bestimmungen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes für den hier zu beurteilenden Erstattungsanspruch nach Art. 120 Abs. 1 GG ohne jede Bedeutung wären. Da im Jahre 1965, wie ausgeführt, die bis dahin geübte Staatspraxis festgeschrieben wurde, muss berücksichtigt werden, dass diese Staatspraxis in Anlehnung an § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG entwickelt worden ist. Danach sind Ansprüche i.S.v. § 1 AKG, die auf einer Verletzung des Eigentums oder anderer Rechte an einer Sache oder an einem Recht beruhen, noch zu erfüllen, wenn die Erfüllung des Anspruchs zur Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leben oder Gesundheit erforderlich ist. Der Bundesfinanzminister hat sich in den Jahren 1958/1959 den Ländern gegenüber bereit erklärt, nach Maßgabe dieser Regelung die Kosten für die Beseitigung deutscher Munition auf nicht bundeseigenen Liegenschaften zu erstatten. Die Vorschrift hat demnach die Staatspraxis bis zum 1. Oktober 1965 geprägt. Das Vorliegen ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen ist daher auch nach diesem Zeitpunkt Bedingung für einen Erstattungsanspruch der Länder.
c) Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass von den vom Kläger beseitigten Kampfmitteln eine unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit von Menschen ausging. Diese Gefahr aktualisierte sich zwar vorliegend durch einen Waldbrand, bei dem die detonierende Munition die Löscharbeiten erheblich beeinträchtigte. Aber auch unabhängig von diesem Ereignis bestand jederzeit eine nicht auszuschließende Explosionsgefahr mit der Folge schwerer Schäden an den in § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG genannten Rechtsgütern.
Der Erstattungsanspruch nach Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG umfasst die Kosten aller Arbeiten, die im Hinblick auf die Kampfmittelbeseitigung notwendig sind. Dazu gehören die hier streitigen Vorarbeiten wie die Beseitigung von Bewuchs und Totholz in Trichter- und Grabenbereichen ebenso wie die ebenfalls streitigen Neben- und Nacharbeiten in Gestalt des Einebnens von Grabungsstellen und des Umsetzens von Bodenmaterial zum Wiederherstellen des Geländes. Für die Vorarbeiten ist dies schon deshalb offensichtlich, weil sie eine unverzichtbare Voraussetzung der Gefahrenbeseitigung sind und schon ihre Ausführung unter Umständen gefährlich sein kann. Aber auch die genannten Neben- und Nacharbeiten sind notwendiger Teil der Kampfmittelbeseitigung. Es geht nicht an, das beräumte Gebiet als Kraterlandschaft zurückzulassen und dadurch neue Gefahren für die Allgemeinheit zu schaffen.
Ein Bundesgesetz, das in näherer Bestimmung des Anspruches nach Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG dessen Umfang abweichend von den vorstehenden Überlegungen regeln würde, ist nicht ergangen. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass im Rahmen der bis zum 1. Oktober 1965 geübten Staatspraxis Kosten der hier streitigen Art nicht vom Bund erstattet, sondern von den Ländern getragen worden wären. Die Beklagte hat für eine solche Übung, die die ihr günstige Ausnahmebestimmung des Art. 120 Abs. 1 Satz 3 GG ausfüllen könnte, nichts vorgetragen. Soweit sie sich auf entsprechende Erlasse und Anweisungen aus jüngerer Zeit beruft, sind diese rechtlich irrelevant. Sie beruhen ersichtlich auf der – unzutreffenden – Auffassung, die Beklagte könne die Kostenerstattung nach eigenem Gutdünken bemessen und einschränken, weil es sich um eine freiwillige Leistung handele.
Der Zinsanspruch ist als Anspruch auf Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit der Klage, hier also gemäß § 90 VwGO ab 1. Juni 2005, der Höhe nach gerechtfertigt in entsprechender Anwendung von §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Unterschriften
Kley, van Schewick, Dr. Dette, Liebler, Prof. Dr. Rennert
Fundstellen
DÖV 2007, 164 |
DVBl. 2007, 258 |