Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Aktenzeichen 23 B 00.30001) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 2000 in der Fassung vom 31. Mai 2000 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Der 1974 im Nordirak geborene Beigeladene ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste im Mai 1997 nach Deutschland ein. Zur Begründung seines Asylantrags berief er sich im Wesentlichen darauf, er sei Angehöriger der „Geheimpolizei des Parlamentes” gewesen. Nach der Eroberung des Polizeigefängnisses von Sulaimanya durch die Islamisten und der Ermordung eines Kollegen habe er Angst gehabt, dasselbe Schicksal zu erleiden. Bei einer Rückkehr würden die Iraker ihn töten, weil er 1992 in einem gegen das Regime von Saddam Hussein gerichteten Film die Hauptrolle gespielt habe.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte den Asylantrag des Beigeladenen ab, stellte aber fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak vorliegen (Nr. 2 des Bescheides), und dass er nicht in den Irak abgeschoben werden darf sowie von einer Abschiebung in ein anderes Land abzusehen ist (Nr. 3 des Bescheides).
Das Verwaltungsgericht hat die hiergegen gerichtete Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) abgewiesen. Auf die Berufung des Bundesbeauftragten hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts und die Nrn. 2 und 3 des Bescheides des Bundesamts aufgehoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, Schutz nach § 51 Abs. 1 AuslG stehe dem Beigeladenen schon deshalb nicht zu, weil im kurdisch beherrschten Nordirak, aus dem er stamme, gegenwärtig weder staatliche Gewalt des Irak noch staatsähnliche Gewalt der Kurden bestehe. Auch Gewalt durch Agenten des zentralirakischen Regimes könne in diesem Gebiet keine politische Verfolgung darstellen.
Auf die Revision des Beigeladenen hat das Bundesverwaltungsgericht den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aufgehoben, weil er die hier anzuwendenden Grundsätze einer inländischen Fluchtalternative nicht berücksichtigt hat, und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat daraufhin die Berufung des Bundesbeauftragten zurückgewiesen und damit die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zugunsten des Beigeladenen bestätigt. Zwar habe der Beigeladene den Irak nicht wegen erlittener oder unmittelbar bevorstehender politischer Verfolgung verlassen. Es sei nicht glaubhaft, dass er als Oppositioneller in das Blickfeld der zentralirakischen Staatsmacht gelangt sei. Eine Gruppenverfolgung gegenüber den Kurden bestehe im Irak nicht. Wegen seiner ungenehmigten Ausreise und Asylantragstellung im westlichen Ausland habe der Beigeladene jedoch bei einer Rückkehr im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen insbesondere in Form einer übermäßigen Bestrafung zu befürchten.
Grundsätzlich könne der Beigeladene allerdings auf den kurdisch beherrschten Nordirak verwiesen werden. Dort sei er, da er sich nicht politisch exponiert habe, hinreichend sicher. Weil Herkunftsort und Ort der inländischen Fluchtalternative identisch seien, drohten dem Beigeladenen dort auch keine anderen unzumutbaren Nachteile. Allerdings könne einem vernünftig denkenden, besonnenen Iraker aus dem Nordirak eine wohlbegründete Furcht vor einem jederzeit möglichen Wiedereinmarsch der Streitkräfte des irakischen Staates und vor einer Wieder-inbesitznahme der drei kurdischen Provinzen nicht abgesprochen werden. Selbst bei einem solchen Wiedereinmarsch habe er indes keine asylrelevanten Maßnahmen zu befürchten, da nichts dafür spreche, dass den irakischen Machthabern dann seine Ausreise und Asylantragstellung bekannt würden. Der dem Beigeladenen danach grundsätzlich offen stehende Schutz vor politischer Verfolgung im Nordirak scheitere jedoch letztlich daran, dass er diese sichere Fluchtalternative nicht freiwillig zumutbar erreichen könne. Er sei nicht im Besitz gültiger irakischer Reisepapiere. Ohne solche Reisedokumente sei eine Durchreise durch Syrien, die Türkei oder den Iran in den sicheren Nordirak nicht möglich. Dem Beigeladenen könne auch nicht zugemutet werden, bei der irakischen Auslandsvertretung in der Bundesrepublik Deutschland Pass oder Rückreisepapiere zu beantragen, da so seine ungenehmigte Ausreise bekannt und zwangsläufig auch die Asylantragstellung im westlichen Ausland vermutet würde. Dafür, dass dem Beigeladenen von deutschen Behörden Rückreise-Ersatzpapiere ausgestellt würden, die für die Türkei auch als Grundlage für ein Transit-Visum genügten, seien konkrete Anhaltspunkte weder vorgetragen noch ersichtlich.
Der Bundesbeauftragte macht mit der Revision geltend, das Berufungsgericht habe unter Verstoß gegen Bundesrecht die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG von der Nichterreichbarkeit des Gebiets einer inländischen Fluchtalternative abhängig gemacht. Dem Berufungsgericht hätten sich außerdem weitere Aufklärungsmaßnahmen zu der Frage aufdrängen müssen, ob der Beigeladene für eine Rückreise unmittelbar in den Nordirak die erforderlichen Reisepapiere erlangen könne.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist zulässig und begründet. Die Zurückweisung der Berufung des Bundesbeauftragten verstößt gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO).
Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist allerdings die Annahme des Berufungsgerichts, dass dem Beigeladenen wegen seiner ungenehmigten Ausreise und Asylantragstellung in Deutschland bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen drohen, ihm im kurdisch beherrschten Nordirak jedoch grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht. Der Beigeladene darf indes – wie das Berufungsgericht gleichfalls im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend erkannt hat – nur dann auf das Gebiet der inländischen Fluchtalternative verwiesen werden, wenn er es, sei es auch nur freiwillig, in zumutbarer Weise erreichen kann. Asylrechtlich unbeachtlich ist für den im Ausland befindlichen Asylbewerber dabei die nur vorübergehende Nichterreichbarkeit der sicheren Gebiete, etwa infolge unterbrochener Verkehrsverbindungen oder typischerweise behebbarer Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Reisepapieren und Transitvisa. Die Anerkennung des Asylbewerbers als politischer Flüchtling nach Art. 16 a GG und § 51 Abs. 1 AuslG in Verbindung mit Art. 1 A GFK ist in solchen Fällen mithin erst gerechtfertigt, wenn feststeht, dass ihm die Rückkehr in eine sichere Region des Heimatstaates, die auch sonst alle Anforderungen an eine inländische Fluchtalternative erfüllt, dauerhaft nicht zumutbar möglich ist. Dies hat der Senat mit dem gleichzeitig in der Sache BVerwG 9 C 16.00 ergangenen Urteil (zu Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) entschieden. Hierauf wird verwiesen.
Es mag dahinstehen, ob die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu den grundsätzlich in Frage kommenden Rückreisewegen in den Nordirak durch Syrien, den Iran oder die Türkei die rechtliche Schlussfolgerung des Berufungsgerichts tragen, der Beigeladene könne das sichere Gebiet nicht freiwillig zumutbar erreichen und ob das Berufungsgericht damit die dauerhafte Nichterreichbarkeit gemeint hat. Das Berufungsurteil kann jedenfalls deshalb keinen Bestand haben, weil diese auch aus der Sicht des Berufungsgerichts entscheidungserheblichen Feststellungen vom Bundesbeauftragten erfolgreich mit einer Verfahrensrüge angegriffen werden. Die Sache ist daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Denn dessen Feststellungen reichen nicht aus, um in der Sache selbst zu entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), und das Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO).
Der Bundesbeauftragte rügt zu Recht einen Verstoß gegen die richterliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO). Zur Klärung der Frage, ob der Beigeladene ohne gültige irakische Reisepapiere vor allem über die Türkei in den Nordirak einreisen kann, hätte sich das Berufungsgericht nicht mit der Feststellung begnügen dürfen, konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dem Beigeladenen von deutschen Behörden Rückreise-Ersatzpapiere ausgestellt würden, die der Türkei als Grundlage für ein Transitvisum genügten, seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Gerade vor dem Hintergrund des auch vom Berufungsgericht gewürdigten Erlasses des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 31. Oktober 1997 an die nachgeordneten Ausländerbehörden, wonach ausreisepflichtigen (passlosen) irakischen Staatsangehörigen bis zu einer gegenteiligen Erfahrung zur Ausreise in den Irak ein Reisedokument auszustellen und Gelegenheit zum Eintrag eines türkischen Visums zu geben sei, hätten sich dem Berufungsgericht auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag des Bundesbeauftragten weitere Erkundigungen beim Staatsministerium des Innern und beim Auswärtigen Amt dazu aufdrängen müssen, ob und inwieweit auf der angesprochenen Grundlage die freiwillige Rückkehr in den Nordirak möglich ist, insbesondere ob und in welchem Umfang solche Reisepapiere und Transitvisa bereits erteilt worden sind.
Das Berufungsgericht muss die unterlassene Aufklärung nunmehr nachholen. Entsprechende Auskünfte hat das Berufungsgericht im Übrigen ausweislich der vom Bundesbeauftragten im Revisionsverfahren vorgelegten Unterlagen, die hier als neue Tatsachen allerdings nicht berücksichtigt werden können, zwischenzeitlich eingeholt und gestützt darauf in jüngeren Entscheidungen die Erreichbarkeit des Nordirak über die Türkei angenommen.
Unterschriften
Dr. Paetow, Hund, Richter, Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck ist wegen Erkrankung gehindert zu unterschreiben. Dr. Paetow, Dr. Eichberger
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 16.01.2001 durch Battiege Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen