Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 30.05.2005; Aktenzeichen 23 B 05.30151) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 30. Mai 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Anerkennung als politischer Flüchtling (Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG).
Der 1934 in Misan geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger chaldäischen (katholischen) Glaubens. Er kam zusammen mit seiner Tochter im Juli 2001 auf dem Landweg nach Deutschland und beantragte Asyl. Mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 27. August 2001 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) – Bundesamt – den Asylantrag teilweise (zu Art. 16a GG) ab und gab ihm hinsichtlich der auf die Anerkennung als politischer Flüchtling gerichteten Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) wegen Verfolgungsgefahren infolge der Asylantragstellung statt. Nach der Einleitung eines Widerrufsverfahrens wegen der veränderten Verhältnisse im Irak trug der Kläger vor, bei einer Rückkehr müsse er aufgrund seines christlichen Glaubens befürchten, ein Opfer radikaler Islamisten zu werden. Das Bundesamt widerrief die Flüchtlingsanerkennung mit Bescheid vom 26. Juli 2004 (Nr. 1 des Bescheids) und stellte gleichzeitig fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen (Nr. 2 des Bescheids).
Mit seiner hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger beantragt, den Bescheid des Bundesamtes aufzuheben, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass bei ihm Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) vorliegen. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben und den angefochtenen Widerrufsbescheid insgesamt aufgehoben, weil der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak als Christ einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG unterliege. Auf die Berufung der Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof durch das angefochtene Urteil vom 30. Mai 2005 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hat ausgeführt, die Berufung sei zulässig und begründet. Die Bezugnahme der Beklagten auf ihr Vorbringen im Zulassungsverfahren genüge den Anforderungen an die Berufungsbegründung nach § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO. Der Kläger habe zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft bei Rückkehr in den Irak infolge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Änderung der Verhältnisse keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 AufenthG. Wegen seines Asylantrages und seiner illegalen Ausreise drohten ihm nach der Entmachtung Saddam Husseins und der Zerschlagung des Regimes keine Verfolgungsmaßnahmen im Irak mehr. Weder von den Koalitionstruppen noch von der irakischen Regierung hätten Exiliraker Gefährdungen zu erwarten. Trotz der schwierig abzuschätzenden künftigen Verhältnisse im Irak bestehe für eine Änderung der Situation zum Nachteil des Klägers kein Anhalt. Zwar fänden vermehrt Anschläge statt, die aber an einer grundsätzlichen Kontrolle des Staatsgebiets auch durch alliierte Kräfte nichts änderten. Allerdings seien im Irak terroristische Anschläge an der Tagesordnung. Die allgemeine Sicherheitslage sei nach Beendigung der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 hochgradig instabil geworden. Überfälle und Entführungen – alle Minderheiten würden überdurchschnittlich Opfer von Entführungen – seien an der Tagesordnung. Christliche Betreiber von Alkoholgeschäften seien Ziel von Anschlägen und Plünderungen. Gezielte Anschläge auf Kirchen in Bagdad und in Mosul hätten zugenommen. Generell komme es immer wieder zu Terroranschlägen auch gegenüber Muslimen, seien es Sunniten oder Schiiten, oder anderen Bevölkerungsgruppen. Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen seien die Übergriffe gegenüber Christen nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung der Christen im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG begründen könnten. Der Widerruf sei daher zu Recht erfolgt. Einer Ermessensentscheidung nach dem am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen § 73 Abs. 2a AsylVfG habe es nicht bedurft. Des Weiteren habe der Kläger bei Rückkehr in den Irak weder eine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu befürchten (auch nicht wegen seiner Religionszugehörigkeit) noch begründe die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage im Irak einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Das Bayerische Staatsministerium des Innern habe im Erlasswege die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger ausgesetzt. Diese Erlasslage vermittle derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung, so dass eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht in Betracht komme. Im Übrigen sei nichts dafür ersichtlich, dass dem Kläger eine erhebliche individuelle konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne dieser Bestimmung drohe. Dafür, dass seine durch ärztliches Attest vom 1. September 2004 belegten Krankheiten im Irak nicht behandelt werden könnten, habe er konkrete Anhaltspunkte weder vorgetragen noch seien solche angesichts der beigezogenen Erkenntnisquellen ersichtlich.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision erstrebt der Kläger, das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG hinsichtlich des Irak festzustellen. Er trägt vor, der Verwaltungsgerichtshof hätte die Berufung mangels ordnungsgemäßer Berufungsbegründung bereits als unzulässig verwerfen oder jedenfalls als unbegründet zurückweisen müssen. Insbesondere sei der Widerruf unter Verstoß gegen § 73 Abs. 2a AsylVfG nicht als Ermessensentscheidung ergangen.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und weist darauf hin, dass § 73 Abs. 2a AsylVfG nach der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf vor dem 1. Januar 2005 erlassene Widerrufsbescheide nicht anwendbar sei. Die Berufung sei durch die Bezugnahme auf den umfangreichen Inhalt des Zulassungsantrags ausreichend begründet worden.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nach der unbeschränkten Zulassung der Revision in erster Linie das mit dem Hauptantrag verfolgte Anfechtungsbegehren des Klägers, gerichtet auf die Aufhebung des Widerrufsbescheids insgesamt, also sowohl des Widerrufs der Anerkennung als politischer Flüchtling (Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG) in Nr. 1 des Bescheids als auch der (negativen) Feststellung zu § 53 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) in Nr. 2 des Bescheids. Daneben ist Gegenstand der Revision das Hilfsbegehren auf Verpflichtung der Beklagten zur (positiven) Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG.
2. Wie der Senat in dem gleichzeitig ergehenden Urteil des Verfahrens BVerwG 1 C 15.05 näher ausgeführt hat, ist die Abweisung der Klage durch das Berufungsgericht mit Bundesrecht nicht vereinbar (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Senat kann auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden, ob der angefochtene Widerrufsbescheid rechtmäßig ist. Die Sache ist deshalb wegen fehlerhafter Ablehnung des Hauptantrags ohne weitere Prüfung des Hilfsantrags an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Zu den Einzelheiten der Begründung wird auf das Urteil im Verfahren BVerwG 1 C 15.05, an dem der Prozessbevollmächtigte des Klägers ebenfalls beteiligt ist, Bezug genommen.
a) Danach hat der Verwaltungsgerichtshof entgegen der Ansicht des Klägers die Berufung zu Recht als zulässig angesehen.
b) Das Verwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof haben das Klagebegehren auch zutreffend nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage beurteilt und zu Recht entschieden, dass der angefochtene Widerrufsbescheid insgesamt nicht schon an dem durch das Zuwanderungsgesetz neu eingeführten Erfordernis einer Ermessensentscheidung nach § 73 Abs. 2a AsylVfG scheitert. Diese Bestimmung findet auf Widerrufsentscheidungen, die – wie hier – vor dem 1. Januar 2005 ergangen sind, keine Anwendung.
c) Entgegen der vom Kläger noch im Beschwerdeverfahren vertretenen Ansicht ist der Widerruf auch nicht etwa deshalb insgesamt rechtswidrig, weil er nicht “unverzüglich” im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bzw. nicht innerhalb der Jahresfrist nach § 48 Abs. 4, § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG erfolgt sein soll (vgl. auch hierzu das Urteil im Verfahren BVerwG 1 C 15.05).
d) Ob der Widerruf im Übrigen den gesetzlichen Anforderungen aus § 73 Abs. 1 AsylVfG entspricht und das Bundesamt deshalb zugleich befugt war, über das Bestehen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) zu entscheiden, kann der Senat auch im vorliegenden Verfahren auf der Grundlage des Berufungsurteils nicht abschließend selbst beurteilen.
aa) Zwar verfehlt das angefochtene Urteil nicht bereits in seinem Ansatz die vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1. November 2005 – BVerwG 1 C 21.04 – (ZAR 2006, 107, zur Veröffentlichung in den Entscheidungssammlungen BVerwGE und Buchholz vorgesehen) klargestellten Maßstäbe zur Auslegung der Widerrufsermächtigung in § 73 Abs. 1 AsylVfG. Danach durfte das Berufungsgericht auf der Grundlage seiner im Revisionsverfahren nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und für das Revisionsgericht bindenden (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) tatrichterlichen Feststellungen und Prognosen annehmen, dass die im Anerkennungsbescheid angenommene ursprüngliche Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr in den Irak wegen der Asylantragstellung in Deutschland mit der Beseitigung des Saddam-Regimes inzwischen weggefallen ist und insofern die dargelegten Voraussetzungen für einen Widerruf vorliegen. Im Ergebnis zu Recht durfte es auch davon ausgehen, dass der Ausnahmefall einer auf der früheren Verfolgung beruhenden unzumutbaren Rückkehr im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG hier nicht geltend gemacht und auch sonst nicht in Betracht zu ziehen ist.
bb) Hingegen sind die Erwägungen des Berufungsgerichts dazu, dass dem Kläger – bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung Ende Mai 2005 – bei einer Rückkehr in den Irak nicht erneut eine (andere) Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG droht, mit Bundesrecht nicht in vollem Umfang vereinbar. Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof im Ausgangspunkt zutreffend geprüft, ob dem Kläger nunmehr bei einer Rückkehr in den Irak eine (Gruppen-)Verfolgung als Christ durch nichtstaatliche Akteure droht. Den hierzu im Urteil des Verfahrens BVerwG 1 C 15.05 entwickelten Anforderungen wird das Berufungsurteil indessen nicht gerecht. Der Verwaltungsgerichtshof hätte seine Entscheidung nicht ohne genauere Feststellungen zu Art, Umfang und Gewicht der Verfolgungshandlungen treffen dürfen und diese zu der Zahl der irakischen Christen in Beziehung setzen müssen. Die tatrichterliche Erwägung des Verwaltungsgerichtshofs, gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen seien die Übergriffe gegenüber Christen nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung der Christen im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG begründen könnten, ist ferner auch deshalb mit Bundesrecht nicht vereinbar, weil eine Gruppenverfolgung der Christen nicht mit der Begründung verneint werden kann, dass auch andere Bevölkerungsgruppen oder Minderheiten in ähnlicher Weise drangsaliert werden.
3. Für das weitere Verfahren bemerkt der Senat:
a) Zu Recht hat der Verwaltungsgerichtshof bei der Prüfung, ob dem Kläger heute bei einer Rückkehr in den Irak eine Gruppenverfolgung als Christ droht, den allgemeinen (Prognose-)Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegt und nicht den erleichterten sog. herabgesetzten oder herabgestuften Maßstab der hinreichenden Sicherheit vor erneuter bzw. wiederholter Verfolgung (vgl. im Einzelnen das Urteil im Verfahren BVerwG 1 C 15.05).
b) Nach den Feststellungen im Berufungsurteil besteht auch hier kein Zweifel, dass die für die Flüchtlingsanerkennung des Klägers ausschlaggebende Annahme des subjektiven Nachfluchttatbestands der Asylantragstellung in Deutschland keinerlei Verknüpfung mit der nun bei einer Rückkehr in Betracht kommenden Gefahr einer Verfolgung durch Private wegen des christlichen Glaubens aufweist. Dies gilt im Übrigen, wie in der Revisionsverhandlung erörtert, auch für den im Anerkennungsverfahren seinerzeit sonst noch vorgebrachten, vom Bundesamt als nicht asylbegründend bewerteten Verfolgungsvortrag des Klägers.
c) Im Hinblick auf die ärztlich attestierten Erkrankungen (Hypertonie und Herzinsuffizienz) hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt (UA S. 13), der Kläger könne sich auf deren Nichtbehandelbarkeit im Irak auch deshalb nicht berufen, weil er “von einer schlechteren medizinischen Versorgung gleichermaßen wie alle Iraker betroffen” wäre, “die an Bluthochdruck und an einem schwachen Herzen leiden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG)”. Hierzu weist der Senat darauf hin, dass mit dieser Begründung die unmittelbare Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen einer dem Kläger individuell drohenden erheblichen Leibes- oder Lebensgefahr wegen Verschlechterung seines Gesundheitszustands im Irak nach den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht verneint werden kann. Danach sind zielstaatsbezogene Krankheitsfolgen in der Regel als individuelle Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzusehen (vgl. etwa schon Urteil vom 9. September 1997 – BVerwG 9 C 48.96 – InfAuslR 1998, 125 ≪dialysepflichtige Niereninsuffizienz≫; Urteil vom 25. November 1997 – BVerwG 9 C 58.96 – BVerwGE 105, 383 ≪angeborener Herzfehler/Vorhofseptumdefekt≫; Urteil vom 29. Juli 1999 – BVerwG 9 C 2.99 – juris ≪u.a. Folgen von Total-Endoprothesen-Operationen, Diabetes mellitus und Immunthrombozytopenie≫). Nur ausnahmsweise sind sie als eine allgemeine Gefahr oder Gruppengefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu qualifizieren, namentlich etwa bei Aids (vgl. Urteil vom 27. April 1998 – BVerwG 9 C 13.97 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 12 = NVwZ 1998, 973). Nach der Aids-Entscheidung vom 27. April 1998 a.a.O. kommt bei Krankheiten die Annahme einer die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auslösenden Allgemeingefahr nur in Betracht, wenn die Gefahr “einer großen Zahl der im Abschiebezielstaat lebenden Personen gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt und eine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde, sondern für die ganze Gruppe der potenziell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums befunden werden soll”. Das ist nicht gleichsam automatisch schon dann der Fall, wenn im Heimatland viele Menschen betroffen sind, sondern nur dann, wenn “es – anders als bei zwar nicht singulären, aber wenig verbreiteten Krankheiten und solchen Erkrankungen, die unter ausländerpolitischen Gesichtspunkten eine Befassung der obersten Landesbehörden sowie eine (bundes-)einheitliche Praxis nicht erfordern … einer politischen Leitentscheidung nach § 54 AuslG” (jetzt § 60a Abs. 1 AufenthG) bedarf. Nur dann – bei einer großen Anzahl potenziell Betroffener und einem ausländerpolitischen “Leitentscheidungsbedürfnis” – soll § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht anwendbar, sondern durch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gesperrt sein mit der Folge, dass die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Einzelfall durch die Ausländerbehörde (und bei Asylbewerbern durch das Bundesamt hinsichtlich der Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen) ausscheidet. Etwas anderes gilt in diesen Fällen, in denen die Sperrwirkung eingreift, nur dann, wenn im Abschiebezielstaat für den Ausländer (entweder aufgrund der allgemeinen Verhältnisse oder aufgrund von Besonderheiten im Einzelfall, vgl. Urteil vom 21. September 1999 – BVerwG 9 C 9.99 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 22 und Urteil vom 8. Dezember 1998 – BVerwG 9 C 4.98 – BVerwGE 108, 77 ≪83≫ = Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 13 S. 65 f.) landesweit eine extrem zugespitzte Gefahr wegen einer notwendigen, aber nicht erlangbaren medizinischen Versorgung zu erwarten ist. Unter solchen Umständen ist Abschiebungsschutz – soweit er nicht in vergleichbarer Weise anderweitig besteht, wie der Verwaltungsgerichtshof auch in diesem Zusammenhang zutreffend prüft – in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
4. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG (vgl. auch hierzu das Urteil im Verfahren BVerwG 1 C 15.05).
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Hund, Richter, Beck, Prof. Dr. Dörig
Fundstellen