Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Aktenzeichen 20 A 3010/97.A) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. Mai 2000 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die 1978 geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige tadschikischer Volkszugehörigkeit. Sie reiste im Juni 1995 nach Deutschland ein. Zur Begründung ihres Asylantrags berief sie sich im Wesentlichen darauf, sie habe sich in Afghanistan politisch nicht betätigt. Ihr Bruder sei in Kabul Sympathisant der kommunistischen Watan-Partei (DVPA) gewesen und habe unter der kommunistischen Regierung bis 1991 als Beamter in einem Parteibüro Archivierungsarbeiten erledigt. Nach der Machtübernahme der Mudjaheddin sei das Haus ihrer Familie im Zuge des Bürgerkrieges zweimal beschädigt worden; ihre Eltern seien dabei getötet, sie sei verletzt worden. Dies sei der Hauptgrund für ihre Ausreise gewesen.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte den Asylantrag der Klägerin ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie des § 53 AuslG nicht vorliegen; außerdem enthielt der Bescheid eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung nach Afghanistan. Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen.
Auf die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Klägerin, die unverfolgt aus Afghanistan ausgereist sei, drohe dort keine politische Verfolgung, weil weder ein handlungsfähiger Staat noch eine quasistaatliche Organisation existiere, die politische Verfolgung ausüben könne. Das schließe eine Anerkennung als Asylberechtigte sowie die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG aus. Auch Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Abs. 1 bis 4 AuslG lägen daher nicht vor. Für das Gebiet der Taliban, für das allein die Herausbildung einer staatsähnlichen Organisation in Betracht zu ziehen sei, sei zwar nicht zweifelhaft, dass die Taliban effektive Strukturen zur Durchsetzung der von ihnen proklamierten Form des Islam geschaffen hätten. Die von den Taliban praktizierte „Ordnung” verbleibe aber nach deren Selbstverständnis in einem vorstaatlichen Stadium, weil der gesamte Apparat der Taliban unter Ausblendung anderer Lebensbezüge auf den Krieg abgestellt sei. Vor allem fehle es der Gebietsgewalt der Taliban an der für staatsähnliche Organisationen erforderlichen Stabilität und Dauerhaftigkeit. Die Macht der Taliban sei nach außen wie nach innen wesentlich gefährdet. Es spreche keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Taliban in absehbarer Zukunft auch den restlichen Teil des Nordens und damit ganz Afghanistan erobern würden. Selbst für den Fall, dass die Taliban auch das restliche Land erobern sollten, wäre das Fortbestehen ihrer Herrschaft keineswegs gesichert. Auch Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG stehe der Klägerin nicht zu. Maßgeblich sei insoweit die Situation im Herrschaftsgebiet der Taliban; allein dieses Gebiet komme als Zielregion einer Abschiebung in Betracht. Der Klägerin drohten weder seitens der Taliban noch aus anderen Gründen individuelle Gefahren oder extreme allgemeine Gefahren im Sinne des § 53 Abs. 6 AuslG.
Die Klägerin macht mit der Revision geltend, das Berufungsurteil werde den Maßstäben nicht gerecht, die das Bundesverfassungsgericht (1. Kammer des Zweiten Senats) in seinem Beschluss vom 10. August 2000 – 2 BvR 260/98 und 1353/98 – (NVwZ 2000, 1165 = DVBl 2000, 1518) zur Erscheinungsform der quasi-staatlichen Verfolgung gebildet habe.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist zulässig und begründet. Das Berufungsurteil steht mit Bundesrecht nicht in Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Senat kann auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden, ob der Klägerin ein Anspruch auf Asyl nach Art. 16 a Abs. 1 GG und auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zusteht oder ob sie hilfsweise ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 1 bis 4 AuslG bzw. nach § 53 Abs. 6 AuslG geltend machen kann. Die Sache ist deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Das Berufungsgericht hat der Sache nach entschieden, eine Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte nach Art. 16 a Abs. 1 GG und die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG seien schon deshalb ausgeschlossen, weil in Afghanistan weder eine staatliche noch eine staatsähnliche Gewalt ausgeübt werde, die zu politischer Verfolgung im Sinne des Asylrechts fähig sei. Das Berufungsgericht hat die Frage staatsähnlicher Gewalt, insbesondere im Hinblick auf die hier maßgebliche Herrschaftsmacht der Taliban, in enger Anlehnung an die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beurteilt. Die dabei vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Anforderungen an staatsähnliche Herrschaftsorganisationen in einem andauernden Bürgerkrieg sind jedoch vom Bundesverfassungsgericht in dem Beschluss vom 10. August 2000 – 2 BvR 260/98 und 1353/98 – (NVwZ 2000, 1165 = DVBl 2000, 1518) als zu restriktiv beanstandet worden. Das Bundesverwaltungsgericht habe dem Erfordernis einer dauerhaft stabilisierten Herrschaftsmacht „nach außen” – zwischen den Bürgerkriegsparteien – zu viel Gewicht beigemessen. Die Frage, ob nach dem Fortfall der bisherigen Staatsgewalt von einer Bürgerkriegspartei politische Verfolgung ausgehen könne, beurteile sich unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des Asylrechts maßgeblich danach, ob diese „nach innen” zumindest in einem Kernterritorium ein Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität tatsächlich errichtet habe. Es sei Aufgabe des Bundesverwaltungsgerichts, die Erscheinungsform der quasi-staatlichen Verfolgung unter Beachtung des Verfassungsrechts begrifflich zu präzisieren. Außerdem sei erneut fachgerichtlich zu beurteilen, ob die Annahme politischer Verfolgung ausgeschlossen sei, weil alle in Afghanistan herrschenden Machthaber zur Aufrechterhaltung ihrer militärischen Herrschaft mehr oder minder auf autonome örtliche Kommandanten angewiesen seien.
Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte weitere Präzisierung der Anforderungen an staatsähnliche Herrschaftsorganisationen in einem andauernden Bürgerkrieg hat der Senat in den gleichzeitig ergangenen Urteilen – BVerwG 9 C 20 und 21.00 – (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE bestimmt) vorgenommen. Hierauf wird verwiesen.
Das Berufungsurteil wird diesen nachträglich modifizierten Grundsätzen naturgemäß nicht in vollem Umfang gerecht. Dies gilt insbesondere insofern, als das Berufungsgericht – wie das Bundesverwaltungsgericht in seinen früheren Entscheidungen – die Frage der Stabilität der Gebietsherrschaft einer möglichen staatsähnlichen Organisation „nach außen” zu stark gewichtet hat. Der Senat kann nicht abschließend beurteilen, ob sich das Berufungsurteil insoweit im Ergebnis als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO). Denn es fehlt an einer hinreichend aussagekräftigen, anhand des richtigen Maßstabs gewonnenen Tatsachengrundlage sowie an einer tatrichterlichen Gesamtbewertung aller maßgeblichen Beurteilungsfaktoren, ob in Afghanistan zu politischer Verfolgung fähige quasi-staatliche Herrschaftsorganisationen existieren und ob vor allem die Herrschaftsmacht der Taliban eine derart quasi-staatliche Gewalt darstellt. Wie in der Revisionsverhandlung erörtert, können die unzureichenden Feststellungen auch nicht dadurch vervollständigt werden, dass der Senat von sich aus weitere Tatsachen zur politischen Situation in Afghanistan verwertet (vgl. auch dazu die gleichzeitig ergangenen Urteile – BVerwG 9 C 20 und 21.00 –). Insbesondere bedarf es noch der tatrichterlichen Neubewertung, ob Bedrohungen der Herrschaft im Innern auch bei geringerer Gewichtung der äußeren Gefährdung und bei Berücksichtigung der Dauer der Machtausübung durch die Taliban die Annahme staatsähnlicher Gewalt nach dem inzwischen präzisierten Maßstab ausschließen (vgl. das Urteil im Verfahren BVerwG 9 C 20.00, UA S. 12 f.).
Der Senat kann mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen nicht selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Nr. 1 VwGO), ob in Afghanistan zu politischer Verfolgung im Sinne des Asylrechts (Art. 16 a Abs. 1 GG, § 51 Abs. 1 AuslG) fähige Herrschaftsorganisationen bestanden haben oder bestehen, die die Klägerin bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politisch verfolgen würden. Ob auch bei Bejahung einer staatsähnlichen Herrschaftsgewalt im Falle der Klägerin die Gefahr politischer Verfolgung wegen deren wenig exponierter Stellung zu verneinen wäre, kann der Senat aufgrund der zu § 53 Abs. 6 AuslG und damit unter anderen rechtlichen Voraussetzungen getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend beurteilen. All dies hat das Berufungsgericht in dem erneuten Berufungsverfahren anhand der modifizierten Grundsätze für die Anforderungen an staatsähnliche Herrschaftsorganisationen in einem andauernden Bürgerkrieg nochmals zu prüfen und zu bewerten. Der Senat weist abschließend darauf hin, dass das Berufungsgericht – sollte es den Machtbereich der Taliban als quasi-staatliche Herrschaftsorganisation ansehen – ggf. zusätzlich prüfen muss, ob der Klägerin bei einer Rückkehr politische Verfolgung durch die fundamentalistischen Taliban auch wegen ihres Geschlechts droht (vgl. zur Asylerheblichkeit dieses Merkmals das zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehene Urteil des Senats vom 25. Juli 2000 – BVerwG 9 C 28.99 – UA S. 6, NVwZ 2000, 1426).
Unterschriften
Dr. Paetow, RiBVerwG Hund ist wegen Richter Urlaubs gehindert zu unterschreiben Dr. Paetow, Beck, Dr. Eichberger
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 20.02.2001 durch Battiege Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen