Leitsatz (amtlich)
Nach dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Sanktionsnorm erfasst eine neue, weniger strenge Sanktion eine früher begangene Unregelmäßigkeit nicht, wenn diese in einem anderen Regelungszusammenhang stand und deshalb die Neubewertung - mangels hinreichender Kongruenz - nicht auf sie bezogen ist.
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 01.06.2017; Aktenzeichen 12 A 1407/16) |
VG Münster (Entscheidung vom 11.05.2016; Aktenzeichen 9 K 200/15) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 1. Juni 2017 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger wendet sich unter Berufung auf den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Sanktionsnorm gegen die Höhe der Kürzung seiner Betriebsprämie 2014.
Rz. 2
Er beantragte mit seinem Sammelantrag 2014 die Betriebsprämie nebst Umverteilungsprämie für eine Fläche von 63,11 ha. Im Zuge der Verwaltungskontrolle ermittelte der Beklagte eine beihilfefähige Fläche von nur 59,5 ha. Wegen der danach zu viel angemeldeten Fläche (Übererklärung) kürzte er die ermittelte Fläche um das Doppelte der festgestellten Differenz (7,22 ha) und berechnete die Betriebsprämie auf der Grundlage von 52,28 ha. Des Weiteren kürzte der Beklagte die Prämien wegen eines Verstoßes gegen eine Cross-Compliance-Verpflichtung.
Rz. 3
Der hiergegen erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht stattgegeben, soweit sie gegen die Kürzung wegen des Cross-Compliance-Verstoßes gerichtet war; hinsichtlich der ermittelten Fläche und der Kürzung der Betriebsprämie wegen der Übererklärung hat es die Klage abgewiesen. Die dagegen eingelegte Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Eine Berichtigung der beantragten Flächen wegen eines offensichtlichen Irrtums komme nicht in Betracht. Die Sanktion der Übererklärung sei zutreffend mit dem Doppelten der festgestellten Differenz festgesetzt worden. Eine Anwendung des Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung der milderen Sanktionsnorm - des so genannten Günstigkeitsprinzips - scheide aus. Zwar sehe Art. 19a der Verordnung (EU) Nr. 640/2014 in der Fassung der Verordnung (EU) 2016/1393 nur eine Kürzung um das 1,5-fache vor. Grund hierfür sei jedoch die Entwicklung des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems. Die Regelung sei keine allgemeine Neuregelung der Verwaltungssanktionen für Übererklärungen, denn sie beziehe sich nur auf bestimmte flächenbezogene Beihilferegelungen.
Rz. 4
Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, die mildere Sanktion sei Ausdruck einer gewandelten Bewertung von Übererklärungen. Sie diene nicht der Kohärenz eines neuen Sanktionsrechts, sondern trage der Entwicklung des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems Rechnung. Das System zur Identifizierung landwirtschaftlicher Parzellen sei nicht erst mit der Neuregelung der Sanktion eingeführt worden. Entsprechende Regelungen hätten sich bereits in früheren Verordnungen gefunden. Die Sanktion stehe daher nicht in einem neuen Regelungszusammenhang. Mit der Verordnung (EU) 2016/1393 seien die georeferenzierte Angabe von Schlägen, das Prä-Check-Verfahren und die zwingende elektronische Antragstellung nicht eingeführt worden. Sie seien allenfalls mit dem Erlass der Verordnung (EU) Nr. 640/2014 geschaffen worden. Die mildere Sanktion stehe auch nicht deshalb in einem neuen Regelungszusammenhang, weil ihr Anwendungsbereich beschränkt sei.
Rz. 5
Der Beklagte tritt der Revision entgegen. Mit Art. 19a der Verordnung (EU) Nr. 640/2014 habe der Unionsgesetzgeber die Sanktion einer Übererklärung in einem geänderten Kontext neu geregelt und diese nicht unter gleichbleibenden Umständen milder bewertet. Er reagiere auf das mit Art. 17 Abs. 2 VO (EU) Nr. 809/2014 eingeführte "geografische Beihilfeantragsformular". Mit diesem ab 2016 sukzessiv wirksam gewordenen System seien alle Schläge georeferenziert anzugeben gewesen. Das ermögliche, die Größe einer Fläche im Prä-Check ohne weiteres zu kontrollieren. Im Lichte dieser Entwicklung habe der Unionsgesetzgeber weniger strenge Sanktionen als ausreichend erachtet. Art. 19a der Verordnung (EU) Nr. 640/2014 enthalte zudem ein in seinem Anwendungsbereich beschränktes, eigenes Sanktionssystem. Es sehe eine so genannte gelbe Karte vor, mit der bei erstmaliger geringfügiger Übererklärung künftig ein Anreiz für korrekte Meldungen geschaffen werden sollte.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die Revision des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist unbegründet. Das angefochtene Urteil steht in Einklang mit revisiblem Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat es zu Recht abgelehnt, auf die Übererklärung des Klägers die weniger strenge Sanktionsnorm des Art. 19a Abs. 1 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 640/2014 der Kommission vom 11. März 2014 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf das integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem und die Bedingungen für die Ablehnung oder Rücknahme von Zahlungen sowie für Verwaltungssanktionen im Rahmen von Direktzahlungen, Entwicklungsmaßnahmen für den ländlichen Raum und der Cross-Compliance (ABl. L 181 S. 48) geändert durch die Delegierte Verordnung (EU) 2016/1393 der Kommission vom 4. Mai 2016 zur Änderung der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 640/2014 der Kommission zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf das integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem und die Bedingungen für die Ablehnung oder Rücknahme von Zahlungen sowie für Verwaltungssanktionen im Rahmen von Direktzahlungen, Entwicklungsmaßnahmen für den ländlichen Raum und der Cross-Compliance (ABl. L 225 S. 41) anzuwenden. Es ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Betriebsprämie auf der Grundlage der ermittelten Fläche, gekürzt um das Doppelte der festgestellten Differenz, zu berechnen ist.
Rz. 7
1. Der mit dem Sammelantrag geltend gemachte Betriebsprämienanspruch für das Antragsjahr 2014 beruht auf der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates vom 19. Januar 2009 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1290/2005, (EG) Nr. 247/2006, (EG) Nr. 378/2007 sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 (ABl. L 30 S. 16) in der für das Antragsjahr geltenden Fassung. Die in Art. 21 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 73/2009 bei Nichteinhaltung der Beihilfekriterien vorgesehenen Sanktionen ergeben sich aus der Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 der Kommission vom 30. November 2009 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, der Modulation und des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems im Rahmen der Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe gemäß der genannten Verordnung und mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen im Rahmen der Stützungsregelung für den Weinsektor (ABl. L 316 S. 65). Einschlägig ist hier Art. 58 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1122/2009, der - soweit hier von Belang - unverändert geblieben ist. Danach wird die Beihilfe auf der Grundlage der ermittelten Fläche berechnet, wobei die Fläche um das Doppelte der gegenüber der für die Kulturgruppe der Betriebsprämie angemeldeten Fläche festgestellten Differenz gekürzt wird, wenn die Differenz - wie hier - über 3 % oder 2 ha liegt, aber nicht mehr als 20 % der ermittelten Fläche ausmacht.
Rz. 8
2. Die gegenüber dieser Sanktion mildere Sanktion des Art. 19a VO (EU) Nr. 640/2014 findet auf die Übererklärung des Klägers keine rückwirkende Anwendung. Sie wird von dem Günstigkeitsprinzip nicht erfasst. Raum für vernünftige Zweifel hieran verbleiben nicht, weshalb es einer Vorlage gemäß Art. 267 AEUV nicht bedarf (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - C-283/81 [ECLI:EU:C:1982:335], C.I.L.F.I.T. - Rn. 21).
Rz. 9
a) Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Sanktionsnorm ist für Verwaltungssanktionen bei Unregelmäßigkeiten geregelt in der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312 S. 1). Die Verordnung enthält eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten, deren allgemeine Vorschriften alle Bereiche der Unionspolitik erfassen und grundsätzlich von allen sektorbezogenen Verordnungen zu beachten sind (vgl. EuGH, Urteile vom 11. März 2008 - C-420/06 [ECLI:EU:C:2008:152], Jager - Rn. 61 und vom 3. Oktober 2019 - C-378/18 [ECLI:EU:C:2019:832], Westphal - Rn. 27 m.w.N.). Art. 2 Abs. 2 Satz 2 VO (EG, Euratom) Nr. 2988/95 bestimmt, dass bei einer späteren Änderung der in einer Gemeinschaftsregelung enthaltenen Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen die weniger strengen Bestimmungen rückwirkend gelten. Die Regelung verkörpert für den Bereich der Verwaltungssanktionen den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes, der als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anerkannt ist und seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon in Art. 49 Abs. 1 Satz 3 GRC verbindlich festgeschrieben ist (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Februar 2012 - C-17/10 [ECLI:EU:C:2012:72], Toshiba Corporation u.a. - Rn. 64 m.w.N.).
Rz. 10
b) Die Kürzung der Betriebsprämie wegen einer Übererklärung fällt in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 dieser Verordnung bezieht sich auf verwaltungsrechtliche Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten. Eine Unregelmäßigkeit ist gemäß Art. 1 Abs. 2 VO (EG, Euratom) Nr. 2988/95 jeder Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaft durch eine ungerechtfertigte Ausgabe bewirken kann (EuGH, Urteil vom 11. März 2008 - C-420/06, Jager - Rn. 63). Indem der Kläger in seinem Sammelantrag Flächen angemeldet hat, die nicht beihilfefähig waren, hat er gegen die Verpflichtung verstoßen, für jeden aktivierten Zahlungsanspruch entsprechend beihilfefähige Flächen anzumelden (Art. 34, 35 Abs. 1 Satz 1 VO ≪EG≫ Nr. 73/2009). Damit hat er für die übererklärten Flächen die Beihilfevoraussetzungen nicht eingehalten (Art. 21 Abs. 1 VO ≪EG≫ Nr. 73/2009). Diese - im Revisionsverfahren nicht mehr in Frage gestellte - Übererklärung führt nach dem zum Zeitpunkt der Unregelmäßigkeit geltenden Recht zu einer verwaltungsrechtlichen Sanktion, nämlich zur Kürzung der Beihilfe nach Art. 58 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1122/2009 (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Mai 2006 - C-286/05 [ECLI:EU:C:2006:296], Haug - Rn. 21).
Rz. 11
c) Das Günstigkeitsprinzip setzt eine spätere Änderung einer in einer Unionsregelung enthaltenen Bestimmung über verwaltungsrechtliche Sanktionen voraus. An Stelle der zum Zeitpunkt einer Unregelmäßigkeit vorgesehenen Sanktion muss der Unionsgesetzgeber nachfolgend eine neue, weniger strenge Regelung erlassen haben. Die mit ihr verbundene Änderung der Art oder Schwere der Sanktion muss einen Wertungswandel zum Ausdruck bringen, der die früher begangene Unregelmäßigkeit erfasst (EuGH, Urteil vom 11. März 2008 - C-420/06, Jager - Rn. 70). Das hat der Europäische Gerichtshof (a.a.O.) verneint, wenn die Änderung darauf zielt, die Sanktionen einem neuen Regelungszusammenhang anzupassen und die Kohärenz des neuen Systems zu wahren. Entsprechend erfasst eine neue, weniger strenge Sanktion eine früher begangene Unregelmäßigkeit nicht, wenn diese in einem anderen Regelungszusammenhang stand und deshalb die Neubewertung - mangels hinreichender Kongruenz - nicht auf sie bezogen ist. So liegen die Dinge hier.
Rz. 12
aa) Mit der Agrarreform 2014, die zum 1. Januar 2015 in Kraft getreten ist, wurde der Kurs der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union fortgesetzt und noch stärker als bisher auf die Entlohnung gesellschaftlicher Leistungen ausgerichtet. Das bisherige Betriebsprämiensystem wurde durch die Basisprämie und mit ihr verbundene Zahlungen verfeinert, in seinem Wesen als flächenbezogene Beihilferegelung aber nicht geändert (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Oktober 2014 - 3 C 31.13 [ECLI:DE:BVerwG:2014:011014U3C31.13.0] - Buchholz 451.500 Landw. BetrPrämien Nr. 7 Rn. 32). Die Verwaltungssanktionen bei Übererklärungen wurden geregelt in der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 640/2014. Dabei wurden in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 1 VO (EU) Nr. 640/2014 die Kürzungen in Fällen von Übererklärungen gemäß Art. 58 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1122/2009 zunächst inhaltlich unverändert fortgeschrieben. Eine Änderung erfolgte mit der Delegierten Verordnung (EU) 2016/1393 der Kommission vom 4. Mai 2016 zur Änderung der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 640/2014 der Kommission zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf das integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem und die Bedingungen für die Ablehnung oder Rücknahme von Zahlungen sowie für Verwaltungssanktionen im Rahmen von Direktzahlungen, Entwicklungsmaßnahmen für den ländlichen Raum und der Cross-Compliance. Mit Art. 1 Abs. 7 dieser Verordnung fügte die Kommission als Art. 19a eine neue, für bestimmte flächenbezogene Beihilferegelungen anwendbare Sonderregelung in die Verordnung (EU) Nr. 640/2014 ein. Sie sieht in ihrem ersten Absatz bei einer Übererklärung von mehr als 3 % oder 2 ha nur noch eine Kürzung um das 1,5-fache der festgestellten Differenz vor und enthält in ihrem zweiten und dritten Absatz als Vergünstigung zusätzlich eine Bewährungsregelung.
Rz. 13
bb) Die rückwirkende Anwendung des Art. 19a Abs. 1 VO (EU) Nr. 640/2014 scheidet nicht von vornherein aus: Mit der Agrarreform 2014 ist kein Systemwechsel verbunden gewesen; das auf die Betriebsprämie bezogene Sanktionssystem der Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 ist nicht von einem grundlegend veränderten Sanktionssystem abgelöst worden. Das hat der Senat zu Art. 19 VO (EU) Nr. 640/2014 bereits in seinem Urteil vom 1. Oktober 2014 festgestellt (BVerwG, Urteil vom 1. Oktober 2014 - 3 C 31.13 - Buchholz 451.500 Landw. BetrPrämien Nr. 7 Rn. 29 ff.). Ebenso wenig steht der Anwendung entgegen, dass sich Art. 19a VO (EU) Nr. 640/2014 nur auf bestimmte flächenbezogene Beihilferegelungen bezieht. Denn die Vorschrift gilt insbesondere für die Basisprämienregelung, die der Betriebsprämie entspricht. Anders als es im Zuge der Agrarreform 2003 der Fall war, wird hier der Anwendungsbereich der Neuregelung nicht etwa über den herkömmlichen Anwendungsbereich der Sanktionen einer Übererklärung hinaus erweitert (vgl. EuGH, Urteil vom 11. März 2008 - C-420/06, Jager - Rn. 73). Im Übrigen ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geklärt, dass die im Regelungsbereich der Gemeinsamen Agrarpolitik üblichen Regelungen zum Inkrafttreten und zum Geltungsbeginn der Anwendung des Günstigkeitsprinzips nicht entgegenstehen (EuGH, Urteil vom 1. Juli 2004 - C-295/02 [ECLI:EU:C:2004:400], Gerken - Rn. 53 ff.; zur VO ≪EU≫ Nr. 640/2014 vgl. auch BVerwG, Urteil vom 1. Oktober 2014 - 3 C 31.13 - Buchholz 451.500 Landw. BetrPrämien Nr. 7 Rn. 26). Das gilt auch für die entsprechende Regelung des Art. 2 VO (EU) 2016/1393.
Rz. 14
cc) Die rückwirkende Anwendung von Art. 19a VO (EU) Nr. 640/2014 scheidet aber deshalb aus, weil der Unionsgesetzgeber die mit der Vorschrift einhergehende weniger strenge Sanktion an wirksame administrative Gegenkontrollen knüpft, die das integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem zwischenzeitlich ermöglicht. Er hat in Erwägungsgrund 7 der VO (EU) 2016/1393 ausgeführt, angesichts der Entwicklung des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems und aus Gründen der Vereinfachung empfehle es sich, die Verwaltungssanktionen im Zusammenhang mit den Beihilferegelungen oder Stützungsmaßnahmen anzupassen, bei denen mit Hilfe des Systems zur Identifizierung landwirtschaftlicher Parzellen wirksame administrative Gegenkontrollen vorgenommen werden können und bei denen eine nachträgliche Wiedereinziehung möglich ist.
Rz. 15
Das System zur Identifizierung landwirtschaftlicher Parzellen in seiner Gestalt, die es mit der Agrarreform 2014 bekommen hat, ist geregelt in der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 809/2014 der Kommission vom 17. Juli 2014 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems, der Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums und der Cross-Compliance (ABl. L 127 S. 69). Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung sieht besondere Anforderungen an Beihilfeanträge für flächenbezogene Beihilferegelungen vor. Dazu sind den Begünstigten von der zuständigen Behörde vordefinierte Formulare und kartografische Unterlagen über eine auf dem geografischen Informationssystem (GIS) basierende Schnittstelle zu übermitteln, über die die geografischen und alphanumerischen Daten der gemeldeten Flächen verarbeitet werden können. Mit diesen so genannten geografischen Beihilfeantragsformularen werden Fehler der Begünstigten bei der Anmeldung landwirtschaftlicher Flächen vermieden und administrative Gegenkontrollen effizienter gemacht; durch präzisere Raumdaten stehen verlässlichere Daten für die Überwachung und Bewertung zur Verfügung (Erwägungsgrund 15 VO ≪EU≫ Nr. 809/2014). Diese Regelung galt erstmals für das Antragsjahr 2016 für eine Zahl von Begünstigten, die mindestens 25 % der im vorausgehenden Jahr ermittelten Flächen abdeckten, mit einer Quote von 75 % im Antragsjahr 2017 und für alle Begünstigten ab dem Antragsjahr 2018 (Art. 17 Abs. 2 VO ≪EU≫ Nr. 809/2014).
Rz. 16
Die Neuregelung der Sanktion einer Übererklärung nach Art. 19a VO (EU) Nr. 640/2014 und deren reguläre Geltung ab dem Antragsjahr 2016 (Art. 2 Abs. 2 VO ≪EU≫ 2016/1393) fällt zeitlich mit der erstmaligen an eine Flächenquote geknüpften Geltung des Art. 17 Abs. 1 VO (EU) Nr. 809/2014 zusammen. Beide Regelungen beziehen sich auf die Wirksamkeit administrativer Gegenkontrollen. Aufgrund dieser Koinzidenz ist nicht zweifelhaft, dass die neue Sanktionsregelung an den damit erreichten Entwicklungsstand des Systems zur Identifizierung landwirtschaftlicher Parzellen anknüpft. Es trifft zwar zu, dass es ein System zur Identifizierung landwirtschaftlicher Parzellen bereits zuvor gegeben hat. Angesichts des Zusammenhangs fehlt aber jeder Anhaltspunkt dafür, dass die Neuregelung der Sanktion sich auf einen früheren Entwicklungsstand beziehen könnte. Vielmehr ergibt sich daraus, dass der Verordnungsgeber nur unter den Voraussetzungen der mit Art. 17 Abs. 1 VO (EU) Nr. 809/2014 ab 2016 ermöglichten effektiven Gegenkontrollen eine Neubewertung der Sanktion von Übererklärungen vorgenommen und weniger strenge Sanktionen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union für ausreichend erachtet hat. Die Bewertung früherer Fälle lässt dies unberührt. Eine rückwirkende Anwendung des Art. 19a VO (EU) Nr. 640/2014 scheidet angesichts dieses klaren Befundes auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs offensichtlich aus.
Rz. 17
Vor diesem Hintergrund bedarf die Bewährungsregelung des Art. 19a Abs. 2 und 3 VO (EU) Nr. 640/2014 keiner weiteren Betrachtung. Richtig ist zwar, dass mit dieser Regelung künftig ein Anreiz für korrekte Meldungen geschaffen werden soll (Erwägungsgrund 8 VO ≪EU≫ 2016/1393). Das könnte mit dem Beklagten verstärkend als Beleg dafür zu verstehen sein, dass die Neuregelung der Sanktion keine Rückwirkung hat. Allerdings könnte sich die Aussage auch allein auf die Wirkung der Bewährung beziehen. Das kann nach vorstehenden Ausführungen aber dahinstehen, weil die Bewährungsregelung - die der Kläger im Übrigen nicht geltend gemacht hat - ein Element der Neuregelung ist, der keine rückwirkende Geltung beigemessen werden kann.
Rz. 18
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Fundstellen
Haufe-Index 13935353 |
BVerwGE 2021, 55 |
JZ 2020, 598 |
AuUR 2020, 462 |
NWVBl. 2020, 414 |