Entscheidungsstichwort (Thema)
Zeitvorgabe für die Geltendmachung von Besoldungsansprüchen nach Art. 9 § 1 Abs. 1 Satz 2 BBVAnpG 99. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. gesetzliche Frist. Anspruchsvoraussetzung in Gestalt einer einzuhaltenden Zeitspanne. Verschulden des Dienstherrn bei Erteilung einer irreführend formulierten Information über die Rechtslage. Kollegialgerichtsregel. Anforderung an die Kollegialgerichtsentscheidung. Beweismaß der Glaubhaftmachung und der richterlichen Überzeugungsgewissheit
Leitsatz (amtlich)
Der Zeitraum, innerhalb dessen Beamte mit drei und mehr Kindern nach Art. 9 § 1 Abs. 1 Satz 2 BBVAnpG 99 ihren Anspruch auf zusätzliche Besoldung geltend zu machen hatten, ist keine gesetzliche Frist, bei deren Versäumung Wiedereinsetzung gewährt werden kann.
Normenkette
BBVAnpG 99 Art. 9 § 1 Abs. 1; BayVwVfG Art. 32; VwGO § 108 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 24.10.2005; Aktenzeichen 3 B 03.1481) |
VG Regensburg (Urteil vom 05.05.2003; Aktenzeichen 1 K 02.1351) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Oktober 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Der Kläger, Beamter des Beklagten im einfachen Dienst, ist Vater von fünf zwischen 1973 und 1982 geborenen Kindern. Mit Schreiben vom 7. Januar 2002 beantragte er, der Beklagte möge ihm für bestimmte Zeitabschnitte innerhalb des Zeitraums 1. Januar 1991 bis 31. Dezember 1998 die in Art. 9 § 1 des Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern (Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1999) – BBVAnpG 99 – vorgesehenen kinderbezogenen Gehaltsbestandteile nachzahlen. Er gab an, er habe den nach Abs. 1 Satz 2 dieser Bestimmung notwendigen Antrag auf die zusätzlichen Besoldungsleistungen nicht, wie nach der Vorschrift erforderlich, zwischen dem 1. Januar 1988 und dem 31. Dezember 1998 gestellt, weil er durch den Erlass der Oberfinanzdirektion Nürnberg vom 28. Januar 1991 davon abgehalten worden sei. Darin hatte die Oberfinanzdirektion Nürnberg den Text einer Verwaltungsvorschrift unverändert übernommen, die das Bayerische Staatsministerium der Finanzen am 21. Dezember 1990 formuliert und zwecks Information über die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 1990 – 2 BvL 1/86 – (BVerfGE 81, 363) und vom 29. Mai 1990 – 1 BvL 20/84, 26/84, 4/86 – (BVerfGE 82, 60) den anderen Ministerien und den nachgeordneten Behörden zugeleitet hatte. Es heißt dort u.a.:
“Die Besoldungsrechtslage nach dem 31.01.1981 war nicht entscheidungserheblich. Es wurde dem Gesetzgeber aber in dem Beschluss nahe gelegt, dass die Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung vorgelegten Vorschriften nicht ohne Folgen für spätere Regelungen bleiben kann. Hierbei geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass eine allgemeine Korrektur der für verfassungswidrig erklärten Regelung nur für den Zeitraum in Betracht kommt, der mit dem Haushaltsjahr beginnt, in dem durch die verfassungsgerichtliche Entscheidung die Verfassungswidrigkeit festgestellt worden ist, d.h. ab dem Jahr 1990.
Insoweit müssen weder Anträge gestellt noch Widersprüche eingelegt werden.”
Dieser Erlass ist in der Dienststelle des Klägers zwecks Kenntnisnahme durch die Beamten in Umlauf gesetzt worden; der Kläger hat durch Namenskürzel bestätigt, dass er Kenntnis genommen hat.
Der Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf rückwirkende Zahlung der kinderbezogenen Gehaltsbestandteile ab. Widerspruch und Klage waren erfolglos. Der Verwaltungsgerichtshof hat das erstinstanzliche Urteil geändert und den Beklagten verpflichtet, dem Kläger die erhöhten amtsangemessenen kinderbezogenen Gehaltsbestandteile für im Einzelnen genannte Zeitabschnitte im Zeitraum 1. Januar 1991 bis 31. Dezember 1998, in denen Kinder des Klägers im Orts- bzw. Familienzuschlag berücksichtigungsfähig waren, zu zahlen. Zur Begründung hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt: Es sei unschädlich, dass der Kläger den Antrag auf familiengerechte höhere Besoldung nicht innerhalb des in Art. 9 § 1 BBVAnpG 99 genannten Zeitraums gestellt habe. Ihm müsse Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Die Zeitspanne 1. Januar 1988 bis 31. Dezember 1998 sei eine gesetzliche Frist im Sinne des Art. 32 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes. Es sei glaubhaft, dass die Verwaltungsvorschrift bei dem Kläger die Vorstellung erweckt habe, er brauche weder einen Antrag zu stellen noch Widerspruch einzulegen, um die zusätzliche Besoldung für die Vergangenheit zu erhalten; denn aus der Sicht eines objektiven Dritten sei die Verwaltungsvorschrift dahin zu verstehen, dass der Besoldungsgesetzgeber das verfassungswidrige Besoldungsrecht für die Zeit ab der verfassungsgerichtlichen Entscheidung, also ab 1990, korrigieren werde und jeder Beamte, ohne einen Antrag zu stellen oder Widerspruch einzulegen, in den Genuss des geänderten Rechts kommen werde. Der Kläger sei bis zum Erhalt des Ablehnungsbescheides vom 20. Februar 2002 der Meinung gewesen, er gehöre zu den ohne Antragstellung oder Widerspruchseinlegung anspruchsberechtigten Personen.
Mit der Beantragung höherer Bezüge am 7. Januar 2002 habe der Kläger konkludent auch den Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Frist gestellt. Der Wiedereinsetzungsantrag sei nicht verspätet. Die unrichtige Belehrung durch den Dienstherrn sei als höhere Gewalt im Sinne des Art. 32 Abs. 3 letzter Halbsatz des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes zu werten, die dem Kläger einen rechtzeitigen Antrag unmöglich gemacht habe.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte die vom Berufungsgericht zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts und stellt den Antrag,
das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Oktober 2005 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 5. Mai 2003 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht und ist deshalb aufzuheben. Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen jedoch nicht möglich. Daher ist die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Nach Art. 9 § 1 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 des Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1999 – Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1999 vom 19. November 1999 (BGBl I S. 2198) – BBVAnpG 99 – erhalten Kläger und Widerspruchsführer, die ihren – in der Vergangenheit nicht erfüllten – Anspruch auf amtsangemessene Besoldung auch hinsichtlich des dritten Kindes und weiterer Kinder in der Zeit vom 1. Januar 1988 bis zum 31. Dezember 1998 geltend gemacht haben, ohne dass darüber schon abschließend entschieden worden ist, Erhöhungsbeträge nach Satz 1 der Vorschrift vom 1. Januar des Haushaltsjahrs an, in dem das Vorverfahren begonnen hat. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber der vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 22. März 1990 – 2 BvL 1/86 – (BVerfGE 81, 363) erhobenen und mit Beschluss vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/91, 5, 6, 7, 8, 9, 10/96, 3, 4, 5, 6/97 – (BVerfGE 99, 300) bekräftigten Forderung Rechnung getragen, die Besoldung der Beamten mit mehreren Kindern seit 1988 zu verbessern. Ein Anspruch des Klägers aus Art. 9 § 1 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 und Satz 3 BBVAnpG 99 scheitert daran, dass der Kläger nicht innerhalb des Zeitraums 1. Januar 1988 bis 31. Dezember 1998 die zusätzliche Besoldung gefordert hat.
Der Kläger konnte nach dem 31. Dezember 1998 seine Ansprüche nicht mehr rechtswirksam geltend machen; eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nicht in Betracht.
Nach Art. 32 Abs. 1 Satz 1 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 23. Dezember 1976 (GVBl S. 544) – BayVwVfG –, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 24. Dezember 2002 (GVBl S. 975), ist demjenigen, der ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die in Art. 9 § 1 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 3 BBVAnpG 99 genannte Zeitspanne ist keine gesetzliche Frist im Sinne des Art. 32 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG. Fristen im Sinne dieser Bestimmung sind Zeiträume, die den Verfahrensbeteiligten für die Vornahme von Verfahrenshandlungen kraft Gesetzes eingeräumt sind. Die Statuierung einer Frist begründet für die Verfahrensbeteiligten die Obliegenheit, zur Vermeidung eines Rechtsnachteils vor Ablauf der Frist tätig zu werden. Wenn der Verfahrensbeteiligte dieser Obliegenheit schuldlos nicht genügt, kann ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Die Obliegenheit zur Vornahme einer Verfahrenshandlung innerhalb eines bestimmten Zeitraums kann hingegen nicht durch ein Gesetz begründet werden, das erst nach dem Verstreichen des festgelegten Zeitraums erlassen worden ist. In einem solchen Fall waren die Verfahrensbeteiligten während des fraglichen Zeitraums nicht durch das Recht aufgerufen, zwecks Vermeidung rechtlicher Nachteile tätig zu werden. Ein später ergangenes Gesetz, selbst wenn es sich Rückwirkung beilegen würde, kann diese Wirkung nicht haben. Das damalige Unterlassen des Verfahrensbeteiligten bleibt deshalb auch der – für die Entscheidung über die Gewährung von Wiedereinsetzung erforderlichen – Einstufung als schuldhaft oder schuldlos unzugänglich.
Die Geltendmachung des Anspruchs auf zusätzliche Besoldung innerhalb der Zeitspanne 1. Januar 1988 bis 31. Dezember 1998 ist vielmehr ein dem materiellen Recht zuzuordnendes Tatbestandsmerkmal des Art. 9 § 1 Abs. 1 Satz 2 BBVAnpG 99. Diese Rechtsauffassung liegt dem Urteil des Senats vom 28. Juni 2001 – BVerwG 2 C 48.00 – (BVerwGE 114, 350), in dem das Zeitmoment in Art. 9 § 1 Abs. 1 Satz 2 BBVAnpG 99 als “Anspruchsvoraussetzung” bezeichnet ist (Urteil vom 28. Juni 2001 a.a.O. S. 352), sowie dem Urteil des Senats vom 3. März 2005 – BVerwG 2 C 13.04 – (Buchholz 240 § 40 BBesG Nr. 32 S. 9) zugrunde, wonach der Antrag auf Erhöhung des Familienzuschlags eine “materiellrechtliche Willenserklärung” darstellt.
Ist eine Zeitspanne, in der eine bestimmte Handlung vorgenommen werden muss, als ein Tatbestandsmerkmal einer materiellrechtlichen Anspruchsnorm statuiert, besteht bei Nichterfüllung dieses Merkmals der Anspruch nicht, es sei denn, das materielle Recht erklärt dies in bestimmten Fällen für unerheblich oder die Berufung auf die fehlende Einhaltung des Zeitraums widerspricht dem Grundsatz von Treu und Glauben (vgl. u.a. Urteile vom 28. Juni 1965 – BVerwG 8 C 334.63 – BVerwGE 21, 258 ≪261≫, vom 3. Juni 1988 – BVerwG 8 C 79.86 – Buchholz 448.7 Art. 4 KDVNG Nr. 2 und vom 22. Oktober 1993 – BVerwG 6 C 10.92 – Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 111). Keiner dieser beiden Ausnahmetatbestände ist gegeben.
Sinn und Zweck der Regelung des Art. 9 § 1 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 und Satz 3 BBVAnpG 99 ist es, den vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Verfassungsverstoß der unzureichenden Besoldung kinderreicher Beamter rückwirkend zugunsten derjenigen Beamten zu beheben, die ihren Anspruch auf amtsangemessene Alimentation zeitnah geltend gemacht haben. Eine rückwirkende Beseitigung der Verfassungswidrigkeit zugunsten aller betroffenen Beamten hatte das Bundesverfassungsgericht gerade nicht für erforderlich erklärt. Der Besoldungsgesetzgeber wollte den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nachkommen, aber nicht darüber hinausgehen. Dementsprechend ist in der amtlichen Begründung zu Art. 9 § 1 BBVAnpG 99 (Drucks. 14/1088 S. 11) ausgeführt:
“Die nachträgliche Verbesserung der kinderbezogenen Anteile im Familienzuschlag für dritte und weitere Kinder ist auf die Kläger der Ausgangsverfahren und diejenigen Bezügeempfänger begrenzt, die ihre Ansprüche auf höhere Besoldung durch Einlegen eines Widerspruchs oder Erhebung einer Klage gerichtlich geltend gemacht haben, ohne dass über ihren Anspruch bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes schon abschließend entschieden worden ist. Eine generelle rückwirkende Regelung hat das Bundesverfassungsgericht nicht angeordnet.”
Der Beklagte verstößt auch nicht gegen Treu und Glauben, indem er die Zahlung der zusätzlichen Gehaltsbestandteile für die Vergangenheit unter Berufung auf die Nichteinhaltung des gesetzlichen Zeitraums verweigert. Zwar ist es den Behörden unter bestimmten engen Voraussetzungen verwehrt, sich auf das Fehlen einer materiellrechtlichen Anspruchsvoraussetzung in Gestalt eines Zeitmoments zu berufen (vgl. für die Fälle der Versäumung einer materiellrechtlichen Ausschlussfrist Urteil vom 28. März 1996 – BVerwG 7 C 28.95 – BVerwGE 101, 39, 45 ff. m.w.N.). Hat die Einhaltung der gesetzlichen Zeitvorgabe für die Behörde aber erhebliche Bedeutung, verstößt sie mit der Berufung auf die Nichterfüllung dieser Anspruchsvoraussetzung selbst dann nicht gegen Treu und Glauben, wenn der durch die Vorschrift Begünstigte die gesetzliche Zeitvorgabe schuldlos nicht eingehalten hat (Urteil vom 8. Februar 1974 – BVerwG 7 C 35.73 – Buchholz 451.551 FFG Nr. 4 S. 19 f.).
Die Erhebung des Anspruchs auf zusätzliche kinderbezogene Besoldungsbestandteile innerhalb des in Art. 9 § 1 Abs. 1 Satz 2 BBVAnpG 99 genannten Zeitraums ist für den Dienstherrn von erheblicher Bedeutung. Durch den gesetzlichen Zeitrahmen wird das Erfordernis der zeitnahen Geltendmachung konkretisiert, die nach den maßgeblichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts den Kreis derjenigen abgrenzt, die sich auf das Alimentationsdefizit nicht eingerichtet und deshalb Anspruch auf Besoldungsleistungen für die Vergangenheit haben. Damit soll sichergestellt werden, dass der Dienstherr nicht unvorhersehbar im Nachhinein mit nicht oder nur schwer zu bewältigenden Zahlungspflichten belastet wird.
Das Berufungsurteil, das nach alledem Art. 9 § 1 Abs. 1 Satz 2 BBVAnpG 99 verletzt, stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Für eine Schadensersatzverpflichtung des Beklagten wegen unrichtiger Belehrung des Klägers über die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um kinderbezogene Gehaltsbestandteile für die Vergangenheit zu erhalten, fehlen ausreichende tatrichterliche Feststellungen.
Der Dienstherr ist aus dem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zwar grundsätzlich nicht verpflichtet, den Beamten über dessen Rechte und Pflichten jederzeit umfassend und aktuell zu informieren (vgl. z.B. Urteile vom 30. Januar 1997 – BVerwG 2 C 10.96 – BVerwGE 104, 55 ≪57 f.≫ und vom 7. April 2005 – BVerwG 2 C 5.04 – BVerwGE 123, 175 ≪188 ff.≫; Beschlüsse vom 27. September 2001 – BVerwG 2 B 8.01 – Buchholz 232 § 79 BBG Nr. 119 und vom 6. März 2002 – BVerwG 2 B 3.02 – Buchholz 232 § 79 BBG Nr. 120). Entschließt sich der Dienstherr jedoch, über Gestaltungsmöglichkeiten und Berechtigungen zu unterrichten, so müssen die Hinweise sachlich richtig, unmissverständlich und vollständig sein, um den Beamten vor nachteiligen Fehlschlüssen aus dieser Unterrichtung zu bewahren. Verletzt der Dienstherr diese Pflicht schuldhaft, und ruft die unrichtige oder irreführende Auskunft bei dem Beamten einen Irrtum hervor, der ihn veranlasst, eine rechtserhebliche Handlung zu unterlassen, und erleidet der Beamte dadurch einen Vermögensschaden, hat der Dienstherr diesen Schaden zu ersetzen.
Der Beklagte hat den Kläger durch den Erlass vom 28. Januar 1991 unrichtig informiert. Nach den Feststellungen, die der Verwaltungsgerichtshof zum Inhalt getroffen hat, lautet dessen Aussage dahin, der Besoldungsgesetzgeber werde voraussichtlich die verfassungswidrige Regelung mit Wirkung vom Jahre 1990 an korrigieren und die kinderreichen Beamten würden in den Genuss dieser rückwirkenden Korrektur gelangen, ohne Anträge zu stellen oder Widerspruch einzulegen. An diese Feststellung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Senat gebunden. Denn bei der Ermittlung des Inhalts einer solchen Wissensmitteilung handelt es sich um eine Feststellung von Tatsachen im Sinne des § 137 Abs. 2 VwGO. Die Bindung nach Halbsatz 1 dieser Vorschrift tritt nur dann nicht ein, wenn die Auslegung des Tatsachengerichts einen Rechtsirrtum oder einen Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze, Denkgesetze oder Auslegungsregeln erkennen lässt (vgl. Urteil vom 1. Dezember 1989 – BVerwG 8 C 17.87 – BVerwGE 84, 157 ≪162≫ m.w.N.; Beschluss vom 28. Mai 1973 – BVerwG 2 B 15.73 – Buchholz 238.91 Nr. 5 BhV Nr. 3 S. 3). Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Auslegung des Erlasses vom 28. Januar 1991 weder einem Rechtsirrtum erlegen, noch hat er Denkgesetze oder allgemeine Auslegungsregeln verletzt.
Er hat zunächst nicht den für die Ermittlung des Inhalts von Verwaltungsvorschriften bedeutsamen Grundsatz missachtet, wonach behördliche Verlautbarungen dieser Art nicht wie Rechtsnormen zu interpretieren sind, sondern maßgeblich ist, wie die erlassende Behörde die Verwaltungsvorschrift verstanden wissen will (vgl. Urteil vom 2. Februar 1995 – BVerwG 2 C 19.94 – Buchholz 237.6 § 75 NdsLBG Nr. 3). Denn dieser Grundsatz hat für die Auslegung des Erlasses vom 28. Januar 1991 keine Bedeutung. Bei ihm handelt es sich nämlich nicht um eine die Rechtsanwendung steuernde Richtlinie. Der Erlass vom 28. Januar 1991 stellt vielmehr eine Information über die objektive Rechtslage dar; er berichtet und informiert über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und ihre Konsequenzen für die Besoldungsansprüche der Beamten. Eine derartige behördliche Äußerung ist nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen zu interpretieren. Diesen Grundsätzen ist der Verwaltungsgerichtshof gerecht geworden. Er hat den Wortlaut der Verwaltungsvorschrift insgesamt sowie innerhalb ihrer einzelnen Textblöcke, deren äußere Abfolge und innere Beziehung zueinander gewürdigt und auch die damalige Situation einschließlich der durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ausgelösten Erwartungen berücksichtigt. Weder die einzelnen gedanklichen Schritte innerhalb der Auslegung noch die abschließende Gesamtwürdigung verletzen Denkgesetze oder anerkannte Auslegungsregeln.
Die für einen Schadensersatzanspruch des Klägers erforderliche Kausalität zwischen der irreführenden Aussage in dem Erlass und dem Unterlassen eines rechtzeitigen Antrags auf zusätzliche Besoldung durch den Kläger ist jedoch vom Verwaltungsgerichtshof nicht festgestellt worden.
Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mit dem Erfordernis des Kausalzusammenhangs zwischen der irreführenden Formulierung des Erlasses und dem Verzicht auf Beantragung zusätzlicher oder auf Beanstandung der gewährten Besoldung nur bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung nach Art. 32 BayVwVfG befasst. Die nach dieser Vorschrift erforderliche Schuldlosigkeit des Klägers an der Verspätung des Antrags verlangt, dass die irreführende Formulierung bei dem Kläger einen Irrtum hervorgerufen hat, der ihn daran gehindert hat, zeitnah tätig zu werden. Dieser Kausalzusammenhang brauchte als eine der Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung nicht zur Überzeugung des Gerichts festgestellt, sondern nach Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG lediglich glaubhaft gemacht zu werden. Mit diesem geringeren Beweismaß hat sich der Verwaltungsgerichtshof – auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung konsequent – auch begnügt. So hat er zu Beginn der Prüfung der Wiedereinsetzungsvoraussetzungen – wenn auch unter Verwendung einer in sich nicht widerspruchsfreien Formulierung – ausgeführt, diese Voraussetzungen seien “gegeben und auch vom Kläger glaubhaft gemacht” (Urteilsausfertigung S. 19). Mit dieser Formulierung hat das Berufungsgericht das gesetzliche Wiedereinsetzungserfordernis genannt, wonach fehlendes Verschulden “glaubhaft” zu machen sei (Urteilsausfertigung S. 30), und angegeben, die Behauptung des Klägers zum Ursachenzusammenhang sei “plausibel” (Urteilsausfertigung S. 24). In dem allen liegt die Aussage des Verwaltungsgerichtshofs, dass die Ursächlichkeit der missverständlichen Formulierung des Erlasses für die Untätigkeit des Klägers wahrscheinlich ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1974 – 2 BvR 32/74 – BVerfGE 38, 35 ≪39≫; BVerwG, Beschluss vom 1. Februar 1996 – BVerwG 1 B 37.95 – Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 24).
Dieses vom Verwaltungsgerichtshof für die Ursächlichkeit zugrunde gelegte Beweismaß lässt es nicht zu, dass der Senat abschließend in der Sache entscheidet. Der Verwaltungsgerichtshof, an den die Sache deshalb zurückzuverweisen ist, hat sich die richterliche Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) zu verschaffen, ob der Kausalzusammenhang besteht oder nicht. Dabei wird der Verwaltungsgerichtshof auch ohne entsprechenden Beweisantrag erschöpfend aufzuklären haben, ob die Behauptung des Klägers richtig ist, er habe aufgrund eines auf die Lektüre des Erlasses zurückzuführenden und dann über zehn Jahre wirkenden Rechtsirrtums davon abgesehen, den erforderlichen Antrag auf zusätzliche Besoldungsleistungen zu stellen.
Der Verwaltungsgerichtshof wird ebenfalls zu prüfen haben, ob der Beklagte die Fehlerhaftigkeit der Aussage in dem Erlass vom 28. Januar 1991 verschuldet hat. Die sog. Kollegialgerichtsregel entlastet den Beklagten nicht ohne weiteres.
Nach dieser “Regel” kann ein Verschulden des handelnden Behördenbediensteten entfallen, wenn ein mit mehreren Rechtskundigen besetztes Kollegialgericht die Amtstätigkeit als rechtmäßig gebilligt hat. Der Kollegialgerichtsregel liegt die Erwägung zugrunde, dass von einem Beamten ein besseres Verständnis des Rechts als von einem Kollegialgericht nicht erwartet werden kann (Urteil vom 17. August 2005 – BVerwG 2 C 37.04 – BVerwGE 124, 99, 104 ff. m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 18. November 2004 – III ZR 347/03 – DVBl 2005, 312 m.w.N.), der sich der Senat angeschlossen hat (vgl. Urteil vom 17. August 2005 a.a.O. S. 106 f.), greift die Kollegialgerichtsregel nur ein, wenn die kollegialgerichtliche Entscheidung, die eine behördliche Maßnahme als rechtmäßig gebilligt hat, ihrerseits auf einer umfassenden und sorgfältigen Prüfung der Sach- und Rechtslage beruht. Daran fehlt es in tatsächlicher Hinsicht, wenn das Kollegialgericht seiner rechtlichen Würdigung einen unzureichend ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt hat. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bezeichnet die vom Verwaltungsgericht geteilte Auffassung des Beklagten vom Aussagegehalt des Erlasses als “für das Gericht nicht nachvollziehbar” (Urteilsausfertigung S. 22). Wenn damit gesagt werden sollte, die Feststellung des Verwaltungsgerichts zum Inhalt des Erlasses sei eindeutig und offenkundig falsch, weil etwa wesentliche festgestellte Einzelumstände unberücksichtigt geblieben seien oder das gefundene Ergebnis nicht auf einer erschöpfenden Würdigung beruhe, entlastet die Kollegialgerichtsregel den Beklagten nicht.
Unterschriften
Albers, Prof. Dawin, Groepper, Dr. Bayer, Dr. Heitz
Fundstellen
Haufe-Index 1672827 |
DÖV 2007, 665 |