Entscheidungsstichwort (Thema)
Beihilfe zu Heilkuren im Ausland. Notwendigkeit eines amtsärztlichen Gutachtens, dass die Auslandskur zwingend notwendig ist. Freiheit des Dienstleistungsverkehrs nach EU-Vertrag. Wahrung des finanziellen Gleichgewichts des sozialen Sicherungssystems als Rechtfertigungsgrund für Einschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs. Unanwendbarkeit bei beamtenrechtlicher Beihilfe. Einschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs zwecks finanzieller Sicherung des inländischen Kurwesens
Leitsatz (amtlich)
Eine beihilferechtliche Vorschrift, welche die Beihilfe bei Heilkuren in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union von der amtsärztlichen Bestätigung abhängig macht, dass eine Auslandskur zwingend notwendig ist, verstößt gegen Art. 49 Abs. 1 EU-Vertrag über die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs.
Normenkette
HBeihVO § 14 Abs. 3 S. 1 Nr. 1; BhV § 13 Abs. 3 S. 1 Nr. 1; EU-Vertrag Art. 49 Abs. 1, Art. 50
Verfahrensgang
Hessischer VGH (Urteil vom 08.03.2000; Aktenzeichen 2 UE 4625/98) |
VG Frankfurt am Main (Urteil vom 27.07.1998; Aktenzeichen 9 E 1992/96 (2)) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. März 2000 wird aufgehoben.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 27. Juli 1998 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I.
Die Klägerin beantragte im Dezember 1995, die Aufwendungen für eine Heilkur, die sie während der nächsten Osterferien in Abano Terme/Italien durchführen wollte, als beihilfefähig anzuerkennen. Dies lehnte der Beklagte unter Hinweis auf ein amtsärztliches Gutachten ab, wonach eine Kur im Ausland nicht zwingend erforderlich sei.
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten verpflichtet, die Beihilfefähigkeit der Kur, der sich die Klägerin vom 23. März bis 13. April 1996 in Abano Terme/Italien unterzogen hat, anzuerkennen und eine Beihilfe zu den Kosten zu leisten, die auch bei einer Inlandskur entstanden wären. Der Verwaltungsgerichtshof hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Er hat ausgeführt: Nach § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 8 Abs. 2 Nr. 2 bis 5 der Hessischen Beihilfeverordnung seien die Aufwendungen der Klägerin nicht beihilfefähig, weil nicht vor Antritt der Heilkur durch amts- oder vertrauensärztliches Gutachten nachgewiesen worden sei, dass die Heilkur wegen der wesentlich größeren Erfolgsaussicht außerhalb der Bundesrepublik Deutschland zwingend notwendig gewesen sei, und der Beklagte die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen nicht vor Antritt der Kur anerkannt habe. Soweit die genannten Vorschriften der Hessischen Beihilfeverordnung die im Vertrag über die Europäische Union garantierte Freiheit bei der Entgegennahme von Dienstleistungen einschränke, sei dies gerechtfertigt durch das öffentliche Interesse, das System von Kureinrichtungen in Deutschland finanziell zu sichern. Stehe dem beihilfeberechtigten Beamten die Wahl eines ausländischen Kurorts frei, sei zu befürchten, dass die inländischen Kureinrichtungen nicht mehr hinreichend ausgelastet seien, in finanzielle Schwierigkeiten gerieten und letztlich die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung gefährdet sei.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts.
Der Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf die begehrte Beihilfe.
Nach § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Hessischen Beihilfeverordnung in der Fassung vom 24. November 1994 (GVBl I S. 720, 726, 1995 I S. 20), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 30. Juni 1999 (GVBl S. 362) – HBeihVO – sind die aus Anlass einer Heilkur im Ausland entstandenen Aufwendungen – ungeachtet weiterer, hier nicht streitiger Voraussetzungen – beihilfefähig, wenn durch ein amts- oder vertrauensärztliches Gutachten nachgewiesen wird, dass die Heilkur wegen der wesentlich größeren Erfolgsaussicht außerhalb der Bundesrepublik Deutschland zwingend notwendig ist. Die allein nach dem Ort der beabsichtigten Maßnahme differenzierende Regelung, die die Beihilfe für eine Kur auch in einem Mitgliedstaat von gesteigerten Anforderungen („wesentlich größere Erfolgsaussicht”, „zwingende Notwendigkeit”) abhängig macht, verstößt gegen Art. 49 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Union (EU). Wegen des Geltungsvorrangs dieses unmittelbar geltenden Europäischen Gemeinschaftsrechts ist die Regelung der Beihilfeverordnung unanwendbar. Bestimmungen nationalen Rechts, die im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht stehen, dürfen wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts einer behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden (vgl. BVerfGE 75, 223 ≪244≫, BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2000 – 2 BvR 1210/98 – DVBl 2000, 900 ≪901≫; Urteile vom 29. November 1990 – BVerwG 3 C 77.87 – BVerwGE 87, 154 ≪158≫ und vom 7. Dezember 1999 – BVerwG 1 C 13.99 – Buchholz 402.240 § 45 AuslG Nr. 17 S. 9; Beschlüsse vom 11. Mai 2000 – BVerwG 11 B 26.00 – Buchholz 316 § 44 VwVfG Nr. 12 S. 5 und vom 18. Juli 2000 – BVerwG 1 BN 1.00 – Buchholz 418.5 Fleischbeschau Nr. 22 S. 28).
Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 234 Unterabs. 3 EU (früher Art. 177 Unterabs. 3 EGV) scheidet aus, weil die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der zu treffenden Entscheidung bleibt (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 – Rechtssache 283/81 – Slg. 1982, 3415, 3430). Dass der in § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 HBeihVO grundsätzlich angeordnete Ausschluss der Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für Auslandsheilkuren mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht bezweifelt werden.
Auf die Auslandsheilkur, zu deren Kosten die Klägerin eine Beihilfe begehrt, sind die Bestimmungen der Art. 49 und 50 EU (früher: Art. 59 und 60 EGV) über den freien Dienstleistungsverkehr anzuwenden. Daran besteht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kein Zweifel. In einem Mitgliedstaat der Europäischen Union erbrachte medizinische Tätigkeiten werden danach von Art. 50 EU (Art. 60 EGV) erfasst; ob die medizinische Behandlung in einer Krankenanstalt oder außerhalb davon erfolgt, ist unerheblich (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001 – C 368/98 – DVBl 2001, 1509 ≪1511≫ und – C 157/99 – DVBl 2001, 1512 ≪1514≫ jeweils m.w.N.; stRspr). Besonderheiten bestimmter Dienstleistungen führen nicht dazu, dass diese nicht unter den elementaren Grundsatz des freien Verkehrs fallen (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001, a.a.O. S. 1511 und 1514 jeweils m.w.N.; stRspr). Dass die streitige nationale Regelung zum Bereich der sozialen Sicherheit gehört, schließt die Anwendung der Art. 49 und 50 EU (Art. 59 und 60 EGV) nicht aus (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001, a.a.O. S. 1511 und 1514 jeweils m.w.N.).
Gegen Art. 49 EU (Art. 59 EGV) verstößt nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs jede nationale Regelung, die eine Leistung von Diensten zwischen Mitgliedstaaten im Ergebnis gegenüber der Leistung von Diensten im Inneren eines Mitgliedstaates erschwert (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001, a.a.O. S. 1511 und 1514 jeweils m.w.N.; stRspr). Die Dienstleistungsfreiheit schließt die Befugnis der Leistungsempfänger ein, sich zur Inanspruchnahme einer medizinischen Behandlung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Die hier in Rede stehende Einschränkung der Beihilfefähigkeit von Auslandskuren behindert den freien Dienstleistungsverkehr. Sie nimmt den Behilfeberechtigten zwar nicht die Möglichkeit, sich eines Dienstleistungserbringers in einem anderen Mitgliedstaat zu bedienen. Doch macht sie die (teilweise) Erstattung der dadurch verursachten Kosten davon abhängig, dass die Heilkur in einem anderen Mitgliedstaat medizinisch notwendig ist, weil sie nicht mit gleicher Erfolgsaussicht im Inland durchgeführt werden kann. Dieses Erfordernis stellt sowohl für die Beihilfeberechtigten als auch für die medizinischen Leistungserbringer in anderen Mitgliedstaaten eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs dar, weil sie Behilfeberechtigte davon abhält oder zumindest davon abhalten kann, Heilkuren in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union durchzuführen (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001, a.a.O. S. 1511 f. und 1515 jeweils m.w.N.).
Diese Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit lässt sich entgegen der entscheidungstragenden Annahme des Berufungsgerichts nicht rechtfertigen. Zwar kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs zu rechtfertigen vermag (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001, a.a.O. S. 1512 und 1515 jeweils m.w.N.). Der Europäische Gerichtshof hat ebenfalls anerkannt, dass das Ziel, eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrechtzuerhalten, zwar eng mit der Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit verbunden ist, aber auch zu den Ausnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit nach Art. 56 EGV (jetzt Art. 46 EU) zählen kann, soweit es zur Erzielung eines hohen Gesundheitsschutzes beiträgt (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001, a.a.O. S. 1512 und 1515 jeweils m.w.N.). Schließlich hat der Europäische Gerichtshof auch entschieden, dass Art. 56 EGV (Art. 46 EU) es den Mitgliedstaaten erlaubt, den freien Dienstleistungsverkehr im Bereich der medizinischen Versorgung einzuschränken, soweit die Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines bestimmten Niveaus der Heilkunde für die Gesundheit oder selbst das Überleben ihrer Bevölkerung erforderlich ist (vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2001, a.a.O. S. 1512 und 1515 jeweils m.w.N.). Keiner der genannten Gründe kann jedoch den Ausschluss der Beihilfefähigkeit von Auslandsheilkuren rechtfertigen.
Der Rechtfertigungsgrund der Wahrung eines finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit greift von vornherein nicht ein. Soziale Sicherungssysteme im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind vornehmlich die auf dem Solidarprinzip fußenden Systeme der gesetzlichen Krankenversicherung, die Ansprüche der Mitglieder gegen den Träger des Systems vorsehen und deshalb nur bei Ausgewogenheit zwischen dem finanziellen Aufwand des Systemträgers und den Kosten der Inanspruchnahme durch die Mitglieder existieren können. Ob auch das deutsche Institut der beamtenrechtlichen Beihilfe überhaupt als soziales Sicherungssystem angesehen werden kann, ist bereits zweifelhaft, mag aber auf sich beruhen. Darauf kommt es nicht an, weil allein die Wahl eines ausländischen Kurorts durch einen Beihilfeberechtigten dieses System jedenfalls finanziell nicht höher belastet, als dies ohnehin bei einer Inlandskur der Fall ist.
Die Beihilfegewährung zu Auslandskuren gefährdet auch nicht eine allen Bürgern zugängliche medizinische und pflegerische Versorgung in Gestalt eines funktionierenden inländischen Kurwesens. Dessen Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit wird nicht erheblich beeinträchtigt, wenn Beihilfeberechtigte im Rahmen einer teilweisen Kostenerstattung zwischen einer Inlandskur und einer Auslandskur wählen können. Nach dem vom Vertreter des Bundesinteresses vorgelegten statistischen Material über durchgeführte Kuren von Beamten im In- und Ausland, das als solches von den Beteiligten nicht angezweifelt worden ist und deswegen im Revisionsverfahren als unstreitige Tatsache berücksichtigt werden kann (vgl. u.a. Urteil vom 13. April 2000 – BVerwG 5 C 14.99 – Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 93 S. 8 m.w.N.; stRspr), ist auch bei einer Wahlfreiheit zwischen Inlands- und Auslandskur innerhalb der Europäischen Gemeinschaft nicht zu befürchten, dass das deutsche Kurwesen infolge eines künftigen Ausbleibens beihilfeberechtigter Beamter in existentielle Schwierigkeiten geraten könnte.
Ebenso wenig ist aufgrund der statistischen Erhebungen anzunehmen, dass das Niveau des nationalen Kurwesens sinken könnte, wenn ein erwartungsgemäß geringer Teil der Beihilfeberechtigten eine Kur im Ausland durchführt. Um eine Kostenerstattung für Kuren zu verhindern, die im Ausland aus anderen Gründen als die der Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit durchgeführt werden, bedarf es schließlich keiner unterschiedlichen beihilferechtlichen Regelung für In- und Auslandskuren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Unterschriften
Dr. Silberkuhl, Dawin, Dr. Kugele, Groepper, Dr. Bayer
Fundstellen
BVerwGE, 269 |
DRiZ 2002, 452 |
DÖD 2003, 66 |
DÖV 2003, 31 |
PersV 2003, 270 |
RiA 2003, 138 |
DVBl. 2002, 1643 |
NPA 2003, 0 |