Entscheidungsstichwort (Thema)
Kostenerstattung für Rechtsanwalt. Widerspruchsverfahren. Notwendigkeit der Vertretung. zweckentsprechende Rechtsverfolgung. Wohnungs- und Baugesellschaft mit eigener Rechtsabteilung
Leitsatz (amtlich)
§ 38 Abs. 2 Satz 2 VermG stellt an die Erstattungsfähigkeit der Kosten für eine Vertretung im Widerspruchsverfahren keine höheren Anforderungen als die entsprechenden Vorschriften der § 80 Abs. 2 VwVfG und § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO.
Normenkette
VermG § 38 Abs. 2 S. 2; VwGO § 162 Abs. 2 S. 2; VwVfG § 80 Abs. 2
Verfahrensgang
VG Leipzig (Entscheidung vom 05.08.1998; Aktenzeichen 2 K 485/95) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 5. August 1998 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, die Zuziehung eines Bevollmächtigten durch die Klägerin für das Widerspruchsverfahren für notwendig zu erklären.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
I.
Die Parteien streiten darüber, ob die Vertretung der Klägerin durch einen Rechtsanwalt in einem eine vermögensrechtliche Streitigkeit betreffenden Widerspruchsverfahren notwendig war und ihr deshalb ein Anspruch auf Erstattung der dadurch entstandenen Kosten zusteht.
Gegenstand des Widerspruchsverfahrens war ein Bescheid gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1 Abs. 2 des Vermögensgesetzes (VermG) über die Rückübertragung des Eigentums an einem Grundstück in L., das mit einem Mehrfamilienhaus bebaut ist. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin als Verfügungsberechtigte erfolgreich Widerspruch ein, den der von ihr beauftragte Rechtsanwalt begründete. In dem Widerspruchsbescheid ist festgestellt, daß im Widerspruchsverfahren entstandene Auslagen nicht erstattet werden.
Gegen diese Kostenentscheidung hat die Klägerin Klage mit dem Ziel erhoben, daß ihr die durch die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Widerspruchsverfahren entstandenen Kosten erstattet werden. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 5. August 1998 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Zuziehung eines Rechtsanwalts sei zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht notwendig gewesen. § 38 Abs. 2 Satz 2 VermG stelle aufgrund des zusätzlichen Merkmals der „zweckentsprechenden Rechtsverfolgung” höhere Anforderungen an eine Kostenerstattung als § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO und § 80 Abs. 2 VwVfG. Deshalb verbiete sich die Annahme, daß die Zuziehung eines Rechtsanwalts regelmäßig notwendig sei. Maßgebend sei vielmehr eine Prüfung des Einzelfalles. Im vorliegenden Fall sei die Klägerin aufgrund der Sach- und Rechtskenntnis der in ihrer Rechtsabteilung beschäftigten Volljuristen in der Lage gewesen, ihre Rechte im Widerspruchsverfahren selbst wahrzunehmen. Ihr Einwand, daß die vermögensrechtlichen Vorverfahren nicht von der Rechtsabteilung, sondern von der Abteilung „Eigentumsklärung” bearbeitet worden seien, der kein Jurist angehört habe, führe zu keiner anderen Beurteilung. Unzweckmäßige Organisationsentscheidungen könnten die Notwendigkeit zur Hinzuziehung eines Rechtsanwalts nicht begründen. Entsprechendes gelte für die hohe Geschäftsbelastung.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision beantragt die Klägerin, das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben und den Beklagten unter teilweiser Aufhebung des Widerspruchsbescheids zu verpflichten, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren für notwendig zu erklären. Zur Begründung trägt sie vor: § 38 Abs. 2 Satz 2 VermG unterscheide sich in den Voraussetzungen für die Erstattungsfähigkeit der Kosten einer Vertretung im Widerspruchsverfahren nicht von § 80 Abs. 2 VwVfG und § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO. Die Notwendigkeit einer Vertretung sei in der Regel anzuerkennen. Einem nicht mit dem Recht der offenen Vermögensfragen befaßten Juristen sei es nicht zuzumuten, auf die Hinzuziehung eines Spezialisten zu verzichten. Gleiches müsse gelten, wenn ein größeres Unternehmen das Vermögensrecht nicht der eigenen Rechtsabteilung, sondern einer anderen Abteilung übertragen habe. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Widerspruchsverfahren sei außerdem aus Gründen der Geschäftsentlastung erforderlich gewesen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er verteidigt das angefochtene Urteil. Die Klägerin sei ein größeres Unternehmen der Wohnungswirtschaft, das personell und aufgrund der Erfahrung aus einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle in der Lage gewesen sei, das Widerspruchsverfahren selbst zu führen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil verstößt gegen § 38 Abs. 2 Satz 2 VermG.
Die Zuziehung eines Rechtsanwalts durch die Klägerin im Widerspruchsverfahren war zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig. Nach § 38 Abs. 2 Satz 2 VermG sind die Kosten der Vertretung im Widerspruchsverfahren dem Widerspruchsführer zu erstatten, soweit die Zuziehung eines Bevollmächtigten zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig und – wie es hier der Fall ist – der Widerspruch begründet war.
1.a) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts stellt die Vorschrift keine im Vergleich zu § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO und § 80 Abs. 2 VwVfG höheren Anforderungen an die Erstattungsfähigkeit der Kosten. Zwar macht § 38 Abs. 2 Satz 2 VermG die Kostenerstattung von der Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten „zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung” abhängig. Die zweckentsprechende Rechtsverfolgung ist aber auch Prüfungsmaßstab für eine sich aus § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO und § 80 Abs. 2 VwVfG ergebende Kostenerstattungspflicht. Dies folgt aus § 162 Abs. 1 VwGO und § 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG, die – wie auch andere Kostenvorschriften (z.B. § 91 ZPO) – als allgemeine Voraussetzung der Erstattung festlegen, daß die Aufwendungen „zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung” notwendig waren.
b) Die Erstattung der Kosten der Vertretung im Widerspruchsverfahren ist nicht auf Ausnahmen beschränkt. Der Gesetzgeber hat dadurch, daß er die Kostenerstattung von der Notwendigkeit der Vertretung im Widerspruchsverfahren abhängig gemacht hat, allein zum Ausdruck gebracht, daß eine Kostenerstattung nicht stets, sondern nach der Lage des Einzelfalles anzuerkennen ist (Beschluß vom 14. Januar 1999 – BVerwG 6 B 118.98 – Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 42 S. 5 f.). Aus dem Begriff der „Notwendigkeit” der Zuziehung eines Bevollmächtigten folgt nicht, daß die Erstattungsfähigkeit im Widerspruchsverfahren eine Ausnahme bleiben müsse (Urteil vom 6. Dezember 1963 – BVerwG 7 C 14/63 – BVerwGE 17, 245). Da eine Beschränkung auf Ausnahmefälle im Gesetzeswortlaut keinen hinreichenden Anhalt findet, kann eine dahin gehende Auslegung auch nicht mit der Entstehungsgeschichte des § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO (vgl. Begründung zu § 159 Abs. 2 des Regierungsentwurfs einer Verwaltungsgerichtsordnung, BTDrucks III/55, S. 48) begründet werden. Ebensowenig ist die Erwägung tragfähig, daß es der Herstellung völliger „Waffengleichheit” in diesem Verfahrensstadium nicht bedürfe (vgl. aber Urteil vom 16. Oktober 1980 – BVerwG 8 C 10.80 – BVerwGE 61, 100 ≪101≫). Sie berücksichtigt nicht ausreichend die Funktion des Widerspruchsverfahrens, das gerade auch dem Rechtsschutz des Betroffenen dienen soll.
2. Die Notwendigkeit zur Zuziehung eines Rechtsanwalts bestimmt sich danach, welche Anforderungen in dem konkreten Fall eine – zweckentsprechende – Rechtsverfolgung gestellt hat. Ausgangspunkt der rechtlichen Beurteilung ist damit die Schwierigkeit der Sache, die jedoch nicht abstrakt, sondern unter Berücksichtigung der Sachkunde und der (persönlichen) Verhältnisse des Widerspruchsführers festzustellen ist (stRspr, z.B. Beschluß vom 21. September 1982 – BVerwG 8 B 10.82 – NVwZ 1983, 346; Beschluß vom 15. März 1999 – BVerwG 8 B 225.98 – Buchholz 428 § 38 VermG Nr. 4 S. 2). Insoweit können insbesondere auch die Bedeutung der Streitsache für den Widerspruchsführer sowie dessen besondere Arbeits- oder Geschäftsbelastung berücksichtigt werden. Hierbei kommt es nicht auf die subjektive Sicht des Widerspruchsführers an, sondern darauf, wie ein verständiger Dritter in dessen Situation gehandelt hätte. Die Beurteilung ist nach der Sachlage vorzunehmen, wie sie sich im Zeitpunkt der Zuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten dargestellt hat (Urteile vom 22. Januar 1997 – BVerwG 8 C 39.95 – Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 39 S. 16 f. und vom 26. Januar 1996 – BVerwG 8 C 15.95 – Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 36 S. 4).
Für den vorliegenden Fall ist demgemäß folgendes zu erwägen:
Zwar stellten für die Klägerin als große Wohnungs- und Baugesellschaft in L., die mit einer großen Zahl von Restitutionssachen befaßt war, vermögensrechtliche Fragen ein Hauptarbeitsgebiet dar. Sie verfügte über eine eigene Fachabteilung mit der Aufgabe der „Eigentumsklärung” und eine Rechtsabteilung mit damals sechs Juristen. Die sich hieraus ergebende Sachkunde schließt aber die Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts für das Widerspruchsverfahren nicht aus. Denn es handelte sich um einen nicht einfach gelagerten Rechtsstreit, der in der Rechtsprechung noch nicht geklärte Rechtsfragen zur Auslegung des § 1 Abs. 2 VermG aufwarf, deren Beurteilung auch für andere Restitutionssachen bedeutsam war. Zudem hatte die Streitsache für die Klägerin eine nicht unerhebliche wirtschaftliche Bedeutung; mit dem Ausgangsbescheid war die Rückübertragung eines Mehrfamilienhauses angeordnet worden, dessen Verfügungsberechtigte die Klägerin war. Für die Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts spricht ferner die zu der damaligen Zeit bestehende erhebliche Geschäftsbelastung der Klägerin durch die große Zahl von etwa 250 gleichzeitig zu bearbeitenden Restitutionssachen.
Unter solchen Umständen kann auch einem Unternehmen mit eigener Rechtsabteilung nicht verwehrt werden, für die Vertretung im Widerspruchsverfahren externen Sachverstand in Anspruch zu nehmen, wenn es sich bei einer Streitsache mit noch nicht abzusehenden rechtlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen von einer Vertretung durch einen unabhängigen Rechtsanwalt (§§ 1, 3 Abs. 1 BRAO) und der damit verbundenen aus einer objektiv größeren Distanz heraus erfolgenden Beratung höhere Erfolgsaussichten verspricht (vgl. auch Urteil vom 16. Oktober 1980 – BVerwG 8 C 10.80 – BVerwGE 61, 100 ≪102≫). Die Gefahr, daß der Maßstab des § 38 Abs. 2 Satz 2 VermG unterlaufen wird, besteht nicht; ihr wird dadurch entgegengewirkt, daß die Notwendigkeit einer Vertretung stets aus der Sicht eines verständigen Dritten zu beurteilen ist.
Mit dieser Entscheidung weicht der Senat nicht in entscheidungserheblicher Weise von dem Beschluß des 8. Senats vom 15. März 1999 – BVerwG 8 B 225.98 – (a.a.O.) ab. Mit dem in diesem Beschluß enthaltenen Hinweis, es sei einer in der Immobilienbranche tätigen Gesellschaft eher als einem rechtsunkundigen Bürger zuzumuten, das Widerspruchsverfahren selbst zu führen, ist das vorstehend Gesagte ohne weiteres vereinbar. Der genannte Beschluß betraf zudem in der Sache die Durchsetzung eines durch Abtretung erworbenen Rückübertragungsanspruchs. Dieser Umstand ist auch von Bedeutung im Blick auf die weitere in dem Beschluß enthaltene Bemerkung, daß auch nach § 38 Abs. 2 Satz 2 VermG die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren in der Regel nicht notwendig sei. Sollte diese Aussage wegen ihres fallübergreifenden Bezugs in einem normativen Sinn zu verstehen sein, könnte der erkennende Senat ihr nicht beipflichten; er hält jedoch im vorliegeden Fall die Zuziehung eines Bevollmächtigten auch dann für nötig, wenn man von einer in diesem Sinne zu verstehenden Regel auszugehen hätte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Unterschriften
Dr. Franßen, Dr. Bardenhewer, Gödel, Kley, Richter am Bundesverwaltungsgericht Golze ist wegen Urlaubs gehindert zu unterzeichnen. Dr. Franßen
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 24.05.2000 durch Nöpel Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
NJW 2000, 3081 |
BuW 2001, 38 |
ZAP-Ost 2000, 620 |
NJ 2000, 611 |
ZAR 2004, 20 |
AGS 2000, 222 |
BRAK-Mitt. 2000, 312 |
OVS 2000, 312 |