Entscheidungsstichwort (Thema)
Normenkontrollantrag einer anerkannten Umweltvereinigung gegen die "Inntal-Süd"
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Schutzgebietsausweisung setzt nur dann einen Rahmen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Buchst. a, Abs. 4 SUP-RL, wenn sie eine signifikante Gesamtheit von Kriterien und Modalitäten für die Genehmigung und Durchführung von Projekten aufstellt, insbesondere hinsichtlich des Standorts, der Art, der Größe und der Betriebsbedingungen solcher Projekte oder der mit ihnen verbundenen Inanspruchnahme von Ressourcen (EuGH, Urteil vom 22. Februar 2022 - C-300/20 - Rn. 62).
2. Ohne eine Rahmensetzung fehlt es einer Landschaftsschutzgebietsverordnung zugleich an einem Mindestmaß an Konkretisierung, um feststellen zu können, ob von ihrer Verwirklichung eine erhebliche Beeinträchtigung eines Natura 2000-Gebietes ausgehen könnte (Art. 3 Abs. 2 Buchst. b SUP-RL i. V. m. Art. 6 Abs. 3 Satz 1 FFH-RL).
3. Unionsumweltrecht gebietet es, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UmwRG so anzuwenden, dass er einen Rechtsbehelf einer nach § 3 UmwRG anerkannten Vereinigung nicht ausschließt, die eine Verletzung von Art. 11 Abs. 1 des Protokolls "Naturschutz und Landschaftspflege" zur Alpenkonvention wegen einer Verkleinerung des bisherigen Landschaftsschutzgebiets rügt.
Normenkette
AEUV Art. 216 Abs. 2; EUGrdRCh Art. 47 Abs. 1, Art. 51 Abs. 1 S. 1; EUBes 332/2013 Art. 2 Abs. 2 Buchst. f.; EGRL 42/2001 Art. 3 Abs. 2 Buchst. a, b, Abs. 4; GG Art. 59 Abs. 2; UmwRG § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, § 2 Abs. 1, 4 S. 2, § 8 Abs. 2; UVPG § 2 Abs. 7, 10; BNatSchG § 20 Abs. 2 Nr. 4, § 26; VwGO § 144 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, Abs. 4
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 25.04.2018; Aktenzeichen 14 N 14.878) |
Tenor
Auf die Revision des Antragstellers wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. April 2018 aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
Rz. 1
Der Antragsteller, eine anerkannte Umweltvereinigung, wendet sich mit seinem Normenkontrollantrag gegen die Verordnung des Landkreises Rosenheim über das Landschaftsschutzgebiet "Inntal Süd" (im Folgenden: "Inntal Süd"-Verordnung). Im Aufstellungsverfahren führte der Antragsgegner weder eine Strategische Umweltprüfung noch eine überschlägige Prüfung, ob die Verordnung voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen hat, durch.
Rz. 2
Die "Inntal-Süd"-Verordnung stellt ein etwa 4 021 ha großes Gebiet unter Schutz. Mit Inkrafttreten der Verordnung im Jahr 2013 traten frühere Verordnungen über Schutzgebiete aus den Jahren 1952 und 1977 teilweise bzw. vollständig außer Kraft. Dadurch wird das bisherige Landschaftsschutzgebiet um ca. 650 ha verkleinert. Innerhalb der Grenzen des Landschaftsschutzgebietes liegt das Natura 2000-Gebiet "Innauwald bei Neubeuern und Pionierübungsplatz Nußdorf".
Rz. 3
Der Verwaltungsgerichtshof hat den Antrag als unzulässig abgelehnt. Der Antragsteller sei weder nach nationalem Recht noch nach unions- oder völkerrechtlichen Vorschriften antragsbefugt. Insbesondere sei ein Fall des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UmwRG nicht gegeben. Mit seiner vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision verfolgt der Antragsteller sein Begehren, die "Inntal Süd"-Verordnung für unwirksam zu erklären, weiter.
Rz. 4
Mit Beschluss vom 4. Mai 2020 - BVerwG 4 CN 4.18 - hat der ursprünglich zuständige 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union um Klärung mehrerer Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2001/42/EG gebeten. Über dieses Vorabentscheidungsersuchen hat der Gerichtshof mit Urteil vom 22. Februar 2022 - C-300/20 - entschieden.
Rz. 5
Nach Fortsetzung des Verfahrens beantragt der Antragsteller,
das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. April 2018 zu ändern und die Verordnung des Landkreises Rosenheim über das Landschaftsschutzgebiet "Inntal Süd" vom 10. April 2013 für unwirksam zu erklären.
Rz. 6
Der Antragsgegner und die Vertreterin des öffentlichen Interesses beantragen jeweils,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Rz. 7
Die zulässige Revision des Antragstellers ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs verstößt gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) und stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Auf der Grundlage der vom Tatsachengericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen kann über den Normenkontrollantrag nicht abschließend entschieden werden. Die Sache war deshalb zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Rz. 8
A. Der absolute Revisionsgrund der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO i. V. m. Art. 103 Abs. 1 GG) liegt nicht vor. Das Urteil ist nicht bereits deswegen als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen (§ 138 Nr. 3 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof hat den Vortrag, dass eine Antragsbefugnis aus einer möglichen Verletzung nationalen Umweltrechts hergeleitet werden könne, wie der Antragsteller selbst einräumt, in den Tatbestand aufgenommen und sich in Randnummer 89 der angefochtenen Entscheidung mit dieser Frage auseinandergesetzt. Aus der fehlenden Erwähnung der Spruchpraxis des Compliance Committee der Aarhus-Konvention in den Entscheidungsgründen, folgt nicht, dass die Vorinstanz den entsprechenden Vortrag des Antragstellers nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in dieser Frage lediglich eine andere Rechtsauffassung als der Antragsteller.
Rz. 9
B. Der Normenkontrollantrag ist zulässig. Der Antragsteller ist als anerkannte Umweltvereinigung nach Maßgabe des § 2 Abs. 1 UmwRG in der nach der Überleitungsvorschrift des § 8 Abs. 2 UmwRG geltenden Fassung vom 23. August 2017 (BGBl. I S. 3290) antragsbefugt. Die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, der Antragsteller könne sich nicht mit Erfolg auf § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UmwRG berufen, steht mit Bundesrecht nicht in Einklang. Dies folgt zwar nicht daraus, dass vor Erlass der "Inntal Süd"-Verordnung eine Strategische Umweltprüfung oder eine Vorprüfung des Einzelfalls durchzuführen war (1.). Die Rüge einer Verletzung des Art. 11 Abs. 1 des Protokolls zur Durchführung der Alpenkonvention von 1991 im Bereich Naturschutz und Landschaftspflege (Protokoll "Naturschutz und Landschaftspflege" - ProtNatSch) erfordert es jedoch, einer anerkannten Umweltvereinigung, wie dem Antragsteller, einen wirksamen gerichtlichen Schutz der durch das Recht der Union garantierten Rechte zu gewährleisten (2.).
Rz. 10
1. Die Vorinstanz ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Pflicht zur Durchführung einer Strategischen Umweltprüfung oder zu einer Vorprüfung des Einzelfalls vor Erlass der streitgegenständlichen Landschaftsschutzgebietsverordnung weder nach nationalem Recht noch nach Unionsrecht bestand.
Rz. 11
a) Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UmwRG kann eine nach § 3 UmwRG anerkannte Vereinigung, ohne eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen zu müssen, Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung gegen eine Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 UmwRG, also nach Nummer 4 auch gegen eine Entscheidung über die Annahme von Plänen und Programmen i. S. v. § 2 Abs. 7 UVPG, für die nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung eine Pflicht zur Durchführung einer Strategischen Umweltprüfung bestehen kann, einlegen, wenn sie geltend macht, dass die Entscheidung oder deren Unterlassen Rechtsvorschriften verletzt, die für die Entscheidung von Bedeutung sein können. Das Gesetz fordert für den Rechtsbehelf einen tauglichen Gegenstand, allein die Möglichkeit dessen Vorliegens reicht nicht (stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteile vom 26. September 2019 - 7 C 5.18 - BVerwGE 166, 321 Rn. 19 und vom 27. Februar 2020 - 7 C 3.19 - BVerwGE 168, 20 Rn. 22). Es ist daher schon im Rahmen der Zulässigkeit zu prüfen, ob die angegriffene Entscheidung oder der angegriffene Plan zu den Entscheidungen oder Plänen gehört, für die nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung eine SUP-Pflicht bestehen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 2013 - 4 C 14.12 - BVerwGE 149, 17 Rn. 10 zur UVP-Pflicht). Dies ist hier nicht der Fall. Denn der Erlass der Verordnung unterlag weder nach Anlage 5 zum Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung noch nach bayerischem Landesrecht einer Pflicht zur Durchführung einer Strategischen Umweltprüfung oder Vorprüfung.
Rz. 12
b) Auch Unionsrecht erforderte nicht die Durchführung einer Strategischen Umweltprüfung oder Vorprüfung vor Erlass der "Inntal Süd"-Verordnung.
Rz. 13
aa) Die streitgegenständliche Schutzgebietsausweisung setzt keinen Rahmen für die künftige Genehmigung bestimmter Projekte. Nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 9 der Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme (ABl. L 197 S. 30 - SUP-RL) wird eine Umweltprüfung bei allen Plänen und Programmen vorgenommen, die in den Bereichen Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei, Energie, Industrie, Verkehr, Abfallwirtschaft, Wasserwirtschaft, Telekommunikation, Fremdenverkehr, Raumordnung oder Bodennutzung ausgearbeitet werden und durch die der Rahmen für die künftige Genehmigung der in den Anhängen I und II der Richtlinie 2011/92/EU (UVP-Richtlinie) aufgeführten Projekte gesetzt wird. Art. 3 Abs. 4 SUP-RL bestimmt, dass die Mitgliedstaaten darüber befinden, ob nicht unter Absatz 2 fallende Pläne und Programme, durch die der Rahmen für die künftige Genehmigung von Projekten gesetzt wird, voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben.
Rz. 14
In Beantwortung der diesbezüglichen Fragestellung des 4. Senats hat der Gerichtshof der Europäischen Union (Gerichtshof) geklärt, dass das Erfordernis der Rahmensetzung nur dann als erfüllt anzusehen ist, wenn der Plan oder das Programm eine signifikante Gesamtheit von Kriterien und Modalitäten für die Genehmigung und Durchführung eines oder mehrerer dieser Projekte aufstellt, insbesondere hinsichtlich des Standorts, der Art, der Größe und der Betriebsbedingungen solcher Projekte oder der mit ihnen verbundenen Inanspruchnahme von Ressourcen (EuGH, Urteil vom 22. Februar 2022 - C-300/20 [ECLI:EU:C:2022:102], Bund Naturschutz in Bayern - Rn. 62). Auf dieser Grundlage ist nicht zweifelhaft, dass die "Inntal Süd"-Verordnung keine solchen Kriterien oder Modalitäten vorsieht. § 5 Abs. 1 der Verordnung regelt zwar die Erlaubnispflicht u. a. für die Errichtung oder Änderung baulicher Anlagen aller Art, von Straßen und Wegen sowie von Campingplätzen, die Veränderung von Gewässern und die Rodung von Waldbeständen. Diese Tätigkeiten können unter die Projekte fallen, die in den Anhängen I und II der UVP-Richtlinie genannt sind. Für einige dieser Projekte legt § 5 Abs. 1 der "Inntal Süd"-Verordnung auch die Größe fest, bei deren Überschreiten für ihre Durchführung eine vorherige Genehmigung erforderlich ist. Die Verordnung selbst enthält jedoch keine Kriterien oder Modalitäten für die Genehmigung und Durchführung der Projekte. § 5 Abs. 2 der "Inntal Süd"-Verordnung macht die Erteilung einer Erlaubnis "unbeschadet anderer Rechtsvorschriften" lediglich von der allgemein gehaltenen Voraussetzung abhängig, dass die beabsichtigte Maßnahme keine der in § 4 der Verordnung genannten Wirkungen hervorruft oder diese Wirkungen durch Nebenbestimmungen ausgeglichen werden können. Nach § 4 der Verordnung sind im Landschaftsschutzgebiet alle Handlungen verboten, die den Charakter des Gebiets verändern oder dem in § 3 der Verordnung genannten Schutzzweck zuwiderlaufen. Der Schutzzweck des Landschaftsschutzgebietes geht nicht wesentlich über die Regelungen, die bereits in § 26 BNatSchG getroffen werden, hinaus. Die "Inntal-Süd"-Verordnung stellt danach keine hinreichend detaillierten Regelungen über den Inhalt, die Ausarbeitung und die Durchführung der aufgeführten Projekte auf, so dass sie mangels Rahmensetzung nicht in den Geltungsbereich der Bestimmungen des Art. 3 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 4 der SUP-Richtlinie fällt.
Rz. 15
bb) Eine Pflicht zur Durchführung einer Strategischen Umweltprüfung vor Erlass der streitgegenständlichen Verordnung ergibt sich auch nicht aus Art. 3 Abs. 2 Buchst. b SUP-RL. Eine Umweltprüfung wird nach dieser Bestimmung bei allen Plänen und Programmen vorgenommen, bei denen angesichts ihrer voraussichtlichen Auswirkungen auf Gebiete eine Prüfung nach Art. 6 oder 7 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. L 206 S. 7 - Habitatrichtlinie - FFH-RL) für erforderlich erachtet wird. Nach Art. 6 Abs. 3 Satz 1 FFH-RL erfordern Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung eines besonderen Schutzgebietes in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen.
Rz. 16
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs fällt die "Inntal Süd"-Verordnung zwar unter den Planbegriff des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL. Der Planbegriff ist weit auszulegen (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 2022 - 4 BN 3.22 - ZfBR 2022, 684 Rn. 4), so dass auch im Falle einer Schutzgebietsausweisung eine Pflicht zur Prüfung der Umweltauswirkungen nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. b SUP-RL und Art. 6 Abs. 3 Satz 1 FFH-RL nicht von vornherein ausgeschlossen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Juni 2019 - C-43/18 [ECLI:EU:C:2019:483], Compagnie d'entreprises - juris Rn. 36, 39). Der Umstand, dass sich Projekte positiv auf die Umwelt auswirken werden, ist für die Frage der Durchführung einer Umweltprüfung ohne Bedeutung.
Rz. 17
Der Verwaltungsgerichtshof ist allerdings zu Recht und in Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben davon ausgegangen, dass die Möglichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung des Natura 2000-Gebiets "Innauwald bei Neubeuern und Pionierübungsplatz Nußdorf" durch die Landschaftsschutzgebietsverordnung nicht besteht, weil die "Inntal Süd"-Verordnung keine hinreichend verbindlichen konkreten Vorgaben enthält, anhand derer eine Beeinträchtigung des Natura 2000-Gebiets beurteilt werden könnte. Ein Mindestmaß an Konkretisierung ist erforderlich, um feststellen zu können, ob von der Verwirklichung des Plans eine erhebliche Beeinträchtigung eines Natura 2000-Gebiets ausgehen kann (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24. März 2010 - 4 BN 60.09 - Buchholz 406.11 § 136 BauGB Nr. 7 Rn. 10 für eine Sanierungssatzung und vom 24. Mai 2022 - 4 BN 3.22 - ZfBR 2022, 684 Rn. 5 für eine Entwicklungssatzung).
Rz. 18
Wie dargelegt setzt die streitgegenständliche Verordnung nach den vom Gerichtshof in Beantwortung der Fragestellung des 4. Senats benannten Anforderungen keinen Rahmen für die künftige Genehmigung von Projekten im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 4 SUP-RL, weil sie hierfür nicht die erforderlichen Kriterien und Modalitäten vorsieht. Damit fehlt es der "Inntal Süd"-Verordnung zugleich an konkreten Regelungen, anhand derer sich beurteilen ließe, ob von der Verwirklichung des Plans erhebliche Auswirkungen auf die Erhaltungsziele eines Natura 2000-Gebiets ausgehen können. Auch die Verkleinerung des umliegenden Schutzgebiets um etwa 650 ha in Folge der (Teil-)aufhebung früherer Schutzgebietsverordnungen bzw. die inhaltliche Modifizierung der Erlaubnisvorbehalte stellt danach keinen hinreichend konkreten Rahmen für nachfolgende Projekte dar. Dass dadurch die äußere Pufferzone zum Natura 2000-Gebiet verringert wird, ist für eine habitatrechtliche Prüfung nicht ausreichend.
Rz. 19
Sind demnach die Anforderungen an die Rahmensetzung durch den Gerichtshof geklärt und lässt sich hieraus zugleich auf das erforderliche Maß an Konkretisierung für die Genehmigung und Durchführung künftiger Vorhaben in einer Landschaftsschutzgebietsverordnung als Voraussetzung für eine Verträglichkeitsprüfung schließen, bedarf es einer erneuten Vorlage an den Gerichtshof nicht.
Rz. 20
Ob der Verwaltungsgerichtshof mit der Annahme in der angefochtenen Entscheidung, von einer Beeinträchtigung des Natura 2000-Gebiets durch die Landschaftsschutzgebietsverordnung gehe im Übrigen auch der Antragsteller nicht aus, eine aktenwidrige Feststellung (Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) getroffen hat, kann dahinstehen. Der Senat prüft die Zulässigkeit des Normenkontrollantrags von Amts wegen und ist insoweit nicht an die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs gebunden.
Rz. 21
2. Der Anwendungsvorrang des Unionsumweltrechts zwingt allerdings dazu, die Tatbestandsvoraussetzung des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UmwRG, wonach nach Anlage 5 des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung oder landesrechtlichen Vorschriften eine Pflicht zur Durchführung einer Strategischen Umweltprüfung bestehen kann, unangewendet zu lassen. Dies folgt aus der etwaigen Verletzung von Art. 11 Abs. 1 ProtNatSch.
Rz. 22
Gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. f Alpenkonvention ergreifen die Vertragsparteien geeignete Maßnahmen auf dem Gebiet des Naturschutzes und der Landschaftspflege, mit dem Ziel, Natur und Landschaft so zu schützen, zu pflegen, und, soweit erforderlich, wiederherzustellen, dass die Funktionsfähigkeit der Ökosysteme, die Erhaltung der Tier- und Pflanzenwelt einschließlich ihrer Lebensräume, die Regenerationsfähigkeit und nachhaltige Leistungsfähigkeit der Naturgüter sowie die Vielfalt, Eigenart und Schönheit der Natur und Landschaft in ihrer Gesamtheit dauerhaft gesichert werden. Die Vertragsparteien vereinbaren nach Art. 2 Abs. 3 Alpenkonvention Protokolle, in denen Einzelheiten zur Durchführung dieses Übereinkommens festgelegt werden. Die Alpenkonvention wurde durch Beschluss 96/191/EG des Rates vom 26. Februar 1996 (ABl. L 61 S. 31) genehmigt und u. a. von den Mitgliedstaaten, die - wie Deutschland - zugleich Alpenanrainerstaaten sind, bis 1999 ratifiziert. Sie bindet nach Art. 216 Abs. 2 AEUV, als von der Union geschlossene Übereinkunft, die Organe der Union und die Mitgliedstaaten. Die Alpenkonvention ist Teil des Unionsrechts.
Rz. 23
Nach Art. 11 Abs. 1 ProtNatSch verpflichten sich die Vertragsparteien, bestehende Schutzgebiete im Sinne ihres Schutzzwecks zu erhalten, zu pflegen und, wo erforderlich, zu erweitern sowie nach Möglichkeit neue Schutzgebiete auszuweisen. Sie treffen alle geeigneten Maßnahmen, um Beeinträchtigungen oder Zerstörungen dieser Schutzgebiete zu vermeiden. Das Protokoll "Naturschutz und Landschaftspflege" ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der durch Zustimmungsgesetz vom 16. August 2002 (BGBl. II S. 1785) in Bundesrecht transformiert wurde. Laut der Präambel haben die Vertragsparteien das Protokoll in Erfüllung ihrer Verpflichtungen gemäß Art. 2 Abs. 2 und 3 des Übereinkommens zum Schutz der Alpen vom 12. März 1996 (ABl. L 61 S. 32 - Alpenkonvention) unterzeichnet.
Rz. 24
Art. 11 Abs. 1 ProtNatSch dient als umweltbezogene Rechtsvorschrift des nationalen Rechts der Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). Um festzustellen, ob eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 GRCh fällt, ist zu prüfen, ob mit ihr die Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden. Es muss ein hinreichender, über eine rein mittelbare Beeinflussung hinausgehender Zusammenhang mit dem Unionsrecht bestehen (EuGH, Urteil vom 6. März 2014 - C-206/13 [ECLI:EU:C:2014:126], Siragusa - Rn. 25, 29, 35 m. w. N.). Hieran gemessen fällt Art. 11 Abs. 1 ProNatSch in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Die Regelung bezweckt die Erfüllung eines unionsrechtlich verbindlichen Ziels aus Art. 2 Abs. 2 Buchst. f Alpenkonvention. Dass die Alpenkonvention selbst die erforderlichen Maßnahmen zum Natur- und Landschaftsschutz nicht konkretisiert, sondern nur die anzustrebenden Ziele definiert und es im Übrigen den Vertragsparteien überlässt, die Einzelheiten der Durchführung des Übereinkommens und damit auch der Verpflichtungen nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. f Alpenkonvention festzulegen, ändert nichts an der eindeutigen Zweckrichtung der dort niedergelegten unionalen Verpflichtungen der Vertragsstaaten. Das Protokoll hat als Norm im Range von Bundesrecht (Art. 59 Abs. 2 GG) auch verbindlichen Charakter und verfolgt keine anderen als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele. Die EU-Grundrechte-Charta, namentlich Art. 47 Abs. 1 GRCh, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf garantiert, ist demnach anwendbar.
Rz. 25
Nach Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens vom 25. Juni 1998 über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Gesetz vom 9. Dezember 2006, BGBl. II S. 1251 - Aarhus-Konvention - AK), dessen Vorschriften Teil des Unionsrechts sind (BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - 7 C 21.12 - BVerwGE 147, 312 Rn. 20), müssen Mitglieder der Öffentlichkeit, sofern sie etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien erfüllen, Zugang zu verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren haben, um die von Privatpersonen und Behörden vorgenommenen Handlungen und begangenen Unterlassungen anzufechten, die gegen umweltbezogene Bestimmungen ihres innerstaatlichen Rechts verstoßen. Zwar hat diese Regelung im Unionsrecht als solche keine unmittelbare Wirkung. In Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 GRCh verpflichtet sie die Mitgliedstaaten aber dazu, einen wirksamen gerichtlichen Schutz der durch das Recht der Union garantierten Rechte, insbesondere der Vorschriften des Umweltrechts, zu gewährleisten (vgl. EuGH, Urteile vom 8. März 2011 - C-240/09 [ECLI:EU:C:2011:125], Lesoochranarske zoskupanie - Rn. 45 und 51, vom 20. Dezember 2017 - C-664/15 [ECLI:EU:C:2017:987], Protect - Rn. 45 und vom 8. November 2022 - C-873/19 [ECLI:EU:C:2022:857], Deutsche Umwelthilfe - Rn. 66).
Rz. 26
Daher muss das nationale Gericht die Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet lassen, die es einer anerkannten Umweltvereinigung verwehren, Regelungen in einer Landschaftsschutzgebietsverordnung, die möglicherweise gegen Art. 11 Abs. 1 ProtNatSch verstoßen, anzufechten (vgl. EuGH, Urteile vom 20. Dezember 2017 - C-664/15, Protect - Rn. 56 f. und vom 8. November 2022 - C-873/19, Deutsche Umwelthilfe - Rn. 80). Dies beinhaltet in der vorliegenden Konstellation den Verzicht auf die tatbestandliche Voraussetzung des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UmwRG, dass eine Pflicht zur Durchführung einer Strategischen Umweltprüfung bestehen kann. Auf andere Weise ist ein effektiver und angemessener Rechtsschutz nicht zu gewährleisten. Für die Umsetzung von Art. 9 Abs. 3 AK ist es nicht ausreichend, den Antragsteller auf die Möglichkeit der Anfechtung einzelner nach § 5 der "Inntal Süd"-Verordnung erteilter Erlaubnisse zu verweisen, um in diesem Rahmen die Schutzgebietsausweisung inzident auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen (vgl. Compliance Committee der Aarhus-Konvention, Bericht vom 31. Juli 2017, Rn. 39). Es kann offen bleiben, ob diese Möglichkeit den Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz genügt. Denn jedenfalls ist sie nicht umfassend gegeben. Eine inzidente Kontrollmöglichkeit besteht nicht bei erlaubnisfreien Tätigkeiten im Landschaftsschutzgebiet. Auch wird es anerkannten Umweltvereinigungen in aller Regel an der Kenntnisnahmemöglichkeit fehlen. Zudem entfallen mit der Verkleinerung des Landschaftsschutzgebietes die dort bisher bestehenden Verbote aller Handlungen, die den Charakter des Gebiets verändern oder dem Schutzzweck zuwiderlaufen (§ 4 der "Inntal Süd"-Verordnung), ohne dass der Antragsteller hiergegen im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens vorgehen könnte.
Rz. 27
3. Der Normenkontrollantrag ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere hat sich der Antragsteller im Verwaltungsverfahren geäußert und macht die Verletzung umweltbezogener Rechtsvorschriften geltend (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. b und Satz 2 UmwRG).
Rz. 28
C. Das angefochtene Urteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die tatsächlichen, den Senat bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs, auf deren Grundlage er die Zulässigkeit des Normenkontrollantrages abgelehnt hat, reichen nicht aus, um im Revisionsverfahren zu Lasten des Antragstellers annehmen zu können, der Normenkontrollantrag sei unbegründet.
Rz. 29
D. Da die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz auch eine stattgebende Entscheidung nicht tragen, verweist der Senat das Verfahren an den Verwaltungsgerichtshof zurück (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Bei seiner erneuten Entscheidung wird das Normenkontrollgericht zu berücksichtigen haben, dass der Antrag, die "Inntal Süd"-Verordnung für unwirksam zu erklären, nicht allein deshalb unbegründet sein kann, weil nach § 2 Abs. 4 Satz 2 UmwRG eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltprüfung im Sinne von § 2 Abs. 10 UVPG bestehen muss. Auch insoweit steht die Durchführung von Unionsumweltrecht inmitten und erfordert dessen Anwendungsvorrang, dass diese Tatbestandsvoraussetzung unangewendet bleibt (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2020 - 7 C 3.19 - BVerwGE 168, 20 Rn. 24 zu Luftreinhalteplänen). Weiter wird der Verwaltungsgerichtshof davon auszugehen haben, dass Art. 11 Abs. 1 ProtNatSch unmittelbar anwendbar ist und zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Änderung einer Landschaftsschutzgebietsverordnung die Durchführung einer Interessenabwägung verlangt (vgl. Oberdanner/Starchl, NuR 2022, 831 ≪834≫ zur Erkenntnis des österreichischen VfGH vom 15. Dezember 2021 - V 425/2020-9).
Fundstellen
Dokument-Index HI15724366 |