Entscheidungsstichwort (Thema)
Angebote der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen. Bedarf, Vorhaltung von Plätzen in Tageseinrichtungen nach –. Inanspruchnahme von Angeboten der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen. Kinderkrippen, Übernahme von Teilnahmebeiträgen für –. Kindertagesstätten, Inanspruchnahme von Angeboten der Förderung in –. Teilnahmebeiträge, Übernahme von – für Kindertagesstätten. Übernahme von Teilnahmebeiträgen für Kindertagesstätten
Leitsatz (amtlich)
Die Übernahme von Beiträgen wegen Inanspruchnahme von Angeboten der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen (hier: Kinderkrippen) setzt nach § 90 Abs. 3 SGB VIII F. 1993 eine erzieherische Erforderlichkeit der Jugendhilfe nicht (mehr) voraus; bei Selbstbeschaffung eines Krippenplatzes bei einem freien Träger durch die Erziehungsberechtigten ist Voraussetzung der Beitragsübernahme, daß die für entsprechende Angebote des Jugendhilfeträgers geltenden Bedarfskriterien erfüllt sind.
Der Begriff des „Bedarfs” i.S. von § 24 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII (F. 1993) ist nicht im Sinne einer faktischen Nachfrage, sondern normativ unter Berücksichtigung der Planungsverantwortung des zuständigen Jugendhilfeträgers zu bestimmen.
Normenkette
SGB VIII 1993 § 90 Abs. 3, § 24 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Entscheidung vom 25.02.1998; Aktenzeichen 4 L 2781/96) |
VG Hannover (Entscheidung vom 12.03.1996; Aktenzeichen 3 A 2382/94.Hi) |
Tenor
Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 25. Februar 1998 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Klägerin ist Mutter der beiden Kinder Norina, geb. am 27. April 1992, und Jan, geb. am 5. Mai 1993, und begehrt vom Beklagten die Übernahme von Teilnahmebeiträgen für die Betreuung der Kinder in einer Kinderkrippe; im Streit ist nach zwischenzeitlicher Teilerledigung noch der Zeitraum vom 1. Januar bis zum 14. November 1994.
Bis zum 14. November 1994 wohnte die Klägerin mit ihrem Lebenspartner, dem Vater der Kinder, in Bad S. in einer gemeinsamen Wohnung. Die Tochter besuchte vom 1. Juli 1993 bis zum 14. November 1994, der Sohn in der Zeit vom 1. Januar bis zum 14. November 1994 in H. die Kinderkrippe „R.” des Studentenwerkes B. Die Klägerin war damals Studentin der Universität H., jedoch für das Sommersemester 1993 beurlaubt. Unter dem 3. September 1993 beantragte sie bei der Stadt Bad S., der früheren Beklagten zu 1), die Übernahme des Teilnahmebeitrages für den vormittäglichen Besuch der Kinderkrippe durch ihre Tochter ab dem 1. Juli 1993. Die Stadt bewilligte zunächst die Übernahme in Höhe von monatlich 130 DM ab dem 1. August 1993 mit der Begründung, in diesem Umfang würden bei Besuch einer Kindertagesstätte in Bad S. die Beiträge übernommen bzw. erlassen. Ein Platz sei der Klägerin angeboten worden. Wegen der nicht gedeckten Kosten müsse sie sich an den Landkreis wenden. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, in Bad S. gebe es zwar Kindergärten, aber keine Tageskrippen. Am 20. Januar 1994 beantragte sie auch die Übernahme des Teilnahmebeitrages für den Besuch der Kinderkrippe durch ihren Sohn. Den Monatsverdienst des Vaters der Kinder aus Taxifahrten gab sie mit rund 1 200 DM an. Nachdem die Klägerin ein von der Stadt Bad S. für erforderlich gehaltenes Gespräch mit dem allgemeinen Sozialdienst des Beklagten abgelehnt hatte, nahm die Stadt ihren Kostenübernahmebescheid u.a. mit der Begründung zurück, zur Überprüfung des Widerspruchs habe die Notwendigkeit bestanden, eine sozialpädagogische Stellungnahme hinsichtlich des Unterbringungserfordernisses einzuholen. Auf die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Verpflichtungsklage – wegen der Beiträge für den Sohn hatte die Klägerin bereits vorher Untätigkeitsklage erhoben – hat das Verwaltungsgericht die Stadt Bad S. unter entsprechender Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet, die Teilnahmebeiträge für die Tochter der Klägerin vom Beginn des Kindergartenjahres 1993 bis 14. November 1994 und für den Sohn vom 1. Januar 1994 bis 14. November 1994 zu übernehmen. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin die Klage auch gegen den Beklagten gerichtet. Nach Teilerledigung und Beschränkung des Klagebegehrens auf die Zeit vom 1. Januar bis zum 14. November 1994 hat das Oberverwaltungsgericht die Klage auf Verpflichtung der Stadt Bad S. abgewiesen; insoweit ist das Urteil rechtskräftig geworden. Zugleich hat es den Beklagten verpflichtet, die von der Klägerin begehrten Teilnahmebeiträge für die Zeit vom 1. Januar bis zum 14. November 1994 zu übernehmen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Zuständig für die Übernahme der Beiträge sei nach den maßgeblichen landesrechtlichen Bestimmungen nicht die Stadt Bad S., sondern der Beklagte. Der Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten folge aus § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. Mai 1993. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Übernahme der Teilnahmebeiträge seien zwischen den Beteiligten zu Recht nicht streitig, da die Kinder sowie die Klägerin und ihr Lebenspartner Einkommen lediglich unterhalb der maßgeblichen Einkommensgrenze des § 90 Abs. 4 SGB VIII erzielt hätten. Weitergehende Anforderungen an die Unzumutbarkeit der Belastungen durch die Teilnahmebeiträge (§ 90 Abs. 3 SGB VIII) seien nicht zu stellen. Die Auffassung des Beklagten, die Belastung mit den Teilnahmebeiträgen sei den Eltern schon deswegen zuzumuten, weil sie ihre Kinder auch selbst hätten betreuen können, gehe fehl; der Anspruch auf Übernahme der Beiträge knüpfe nämlich nicht an eine besondere, von erzieherischen Defiziten geprägte Notwendigkeit für den Besuch einer Tageseinrichtung an, sondern allein daran, daß Angebote der Förderung in Tageseinrichtungen in Anspruch genommen würden, und sei unabhängig davon, ob ein Rechtsanspruch auf die Bereitstellung von Tageseinrichtungen bestehe. Im Gegensatz zur früheren, bis zum Inkrafttreten des Ersten SGB VIII-Änderungsgesetzes vom 16. Februar 1993 geltenden Fassung stelle § 90 Abs. 3 SGB VIII F. 1993 nicht (mehr) darauf ab, daß die Inanspruchnahme einer Tageseinrichtung erforderlich sei. Auch die gleichzeitig erfolgte Änderung des § 24 SGB VIII belege, daß für den Besuch von Tageseinrichtungen – anders als für die Inanspruchnahme von Tagespflege (§ 23 SGB VIII) – nicht mehr eine Erforderlichkeit, sondern lediglich ein „Bedarf” bestehen müsse. Der Anspruch der Klägerin scheitere auch nicht daran, daß das Studentenwerk B. als Träger der Jugendhilfe die Beiträge für eine in H. und damit außerhalb des Zuständigkeitsgebietes des Beklagten gelegene Tageseinrichtung erhebe. Namentlich mit Blick auf das Recht des Leistungsberechtigten, zwischen Einrichtungen, Diensten und Veranstaltungen verschiedener Träger der Jugendhilfe zu wählen (§ 5 SGB VIII a.F.), könne kein Zweifel bestehen, daß das „Angebot” im Sinne des § 90 SGB VIII a.F. sich nicht auf die in der Jugendhilfeplanung auch unter Zuständigkeitsgesichtspunkten „festgestellten” Einrichtungen beschränke, sondern auf die in der Realität vorhandenen Möglichkeiten abstelle; einzige Einschränkung sei insoweit der Vorbehalt für unverhältnismäßige Mehrkosten, der einen Kostenvergleich anhand von Alternativangeboten voraussetze, die im vorliegenden Fall jedoch nicht vorhanden seien.
Mit der vom Bundesverwaltungsgericht zugelassenen Revision rügt der Beklagte einen Verstoß gegen § 90 Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 24 SGB VIII und Art. 6 GG. Er ist der Auffassung, die Ersetzung des Tatbestandsmerkmals „erforderlich” in § 24 SGB VIII durch den Begriff „nach Bedarf vorzuhalten” durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz vom 27. Juli 1992 bedeute nicht, daß der Gesetzgeber damit das Erforderlichkeitsmerkmal für Kinderkrippen gänzlich habe abschaffen wollen; vielmehr seien die Tatbestandsmerkmale von der Zielvorgabe her gleichzusetzen und könnten Beiträge nur übernommen werden, wenn eine am Wohl des Kindes orientierte, den Ausgleich zwischen den Interessen des Kindes und seiner Eltern berücksichtigende Entscheidung des Jugendhilfeträgers vorliege. Da auf den Besuch einer Kinderkrippe kein Rechtsanspruch bestehe, müsse der Behörde bei der Entscheidung über die Betreuungskosten ein Ermessensspielraum verbleiben, der sich daran orientiere, ob die Unterbringung des Kindes in der Tagesstätte dem Wohl des Kindes dienlich sei. Bei einem Kind unter drei Jahren sei dessen Recht auf Zuwendung und Kontinuität in der Erziehung der Vorrang vor dem Wunsch der Eltern, ihre Ausbildung fortzuführen, einzuräumen. Im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung müsse die Behörde die Beiträge für einen Tagesplatz nur dann übernehmen, wenn sie diesen auch selbst vergeben hätte. Vorliegend hätten die Klägerin als Studentin und der Vater, der nur an wenigen Tagen wöchentlich als Taxifahrer beschäftigt sei, sich ohne weiteres ihre Zeit einteilen können, um eine umfassende häusliche Betreuung der Kinder zu gewährleisten.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.
Der Oberbundesanwalt teilt in Übereinstimmung mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Auffassung des Berufungsgerichts, daß eine Kostenübernahmeverpflichtung des Jugendhilfeträgers auch bei Kinderkrippen unabhängig von einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung des Jugendhilfeträgers bestehe; jedoch müsse der Entscheidung über die Kostenübernahme grundsätzlich eine Ermessensentscheidung über die Gewährung der Leistung nach Maßgabe der Leistungsnorm des § 24 SGB VIII vorausgehen. Bei Selbstbeschaffung eines Krippenplatzes müsse die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen der Gewährung öffentlicher Jugendhilfe nachträglich im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Kostenübernahme erfolgen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Beklagten ist begründet. Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Anspruch auf Übernahme von Teilnahmebeiträgen nach § 90 Abs. 3 SGB VIII für die Inanspruchnahme von Angeboten der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen setze auch bei ohne vorherige Beteiligung des Jugendhilfeträgers selbstbeschafften Plätzen in Tageseinrichtungen für Kinder im Alter von unter drei Jahren (Kinderkrippen) lediglich voraus, daß die wirtschaftlichen Voraussetzungen gemäß § 90 Abs. 4 SGB VIII, §§ 76 bis 79, 84 und 85 BSHG gegeben seien, verletzt Bundesrecht. Da eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits noch tatsächliche Feststellungen erfordert, die zu treffen dem Revisionsgericht verwehrt ist (§ 137 Abs. 2 VwGO), muß die Sache zur weiteren Sachaufklärung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen werden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Bei der Auslegung des § 90 Abs. 3 SGB VIII in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 3. Mai 1993 (BGBl I S. 637) ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, daß ein Anspruch auf Übernahme von Beiträgen eine besondere, von erzieherischen Defiziten geprägte Notwendigkeit für den Besuch einer Tageseinrichtung nicht (mehr) voraussetzt; dies hat es zutreffend aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte der maßgeblichen Fassung der Norm und dem Zusammenhang mit der Neufassung der Leistungsnorm in § 24 SGB VIII gefolgert. Nach § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII F. 1993 soll im Falle des Absatzes 1 Nr. 3 (Inanspruchnahme von Angeboten „der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen nach den §§ 22, 24”) der Teilnahmebeitrag oder die Gebühr auf Antrag ganz oder teilweise erlassen oder vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe übernommen werden, wenn die Belastung den Eltern und dem Kind nicht zuzumuten ist. Die in der ursprünglichen Gesetzesfassung vom 26. Juni 1990 (BGBl I S. 1163) enthaltene weitere Voraussetzung, daß „die Hilfe gemäß der landesrechtlichen Regelung nach Maßgabe des § 24 erforderlich ist”, ist ausweislich der amtlichen Begründung des 1. SGB VIII-Änderungsgesetzes gestrichen worden, weil die Länder entsprechende Regelungen nicht getroffen hatten (BTDrucks 12/2866 S. 25 f.). Soweit der Beklagte meint, dem Oberverwaltungsgericht sei entgangen, daß der Bundesgesetzgeber § 24 Abs. 1 SGB VIII nicht erst durch das 1. SGB VIII-Änderungsgesetz vom 16. Februar 1993, sondern bereits durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz vom 27. Juli 1992 (BGBl I S. 1398) geändert habe, und in diesem Zusammenhang mutmaßt, der Bundesgesetzgeber habe nicht die Voraussetzung der Erforderlichkeit der Hilfe gänzlich abschaffen wollen, sondern bei der Änderung des § 90 SGB VIII schlicht übersehen, daß § 24 SGB VIII bereits vorher geändert worden sei, ist diese Vermutung weder in irgendeiner Weise belegt noch lassen sich daraus die vom Beklagten gewünschten Schlußfolgerungen herleiten.
Richtig ist, daß die ursprüngliche Gesetzesfassung des Achten Buches Sozialgesetzbuch sowohl bei der Kostenregelung in § 90 Abs. 3 wie bei der die Ausgestaltung des Förderungsangebots regelnden Leistungsnorm in § 24 ein übereinstimmendes Erforderlichkeitskriterium enthielt.
§ 24 SGB VIII in der Fassung vom 26. Juni 1990 lautete:
„Alle Kinder, für deren Wohl eine Förderung in Tageseinrichtungen (§ 22) oder in der Tagespflege (§ 23) erforderlich ist, sollen eine entsprechende Hilfe erhalten. Die Länder regeln die Verwirklichung dieses Grundsatzes durch Landesrecht und tragen für einen bedarfsgerechten Ausbau Sorge.”
Richtig ist auch, daß § 24 SGB VIII nicht erst durch das 1. SGB VIII-Änderungsgesetz, sondern mit Wirkung vom 5. August 1992 bereits durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz vom 27. Juli 1992 geändert worden ist.
Nach diesem Gesetz war § 24 in folgender Fassung anzuwenden:
„(1) Ein Kind vom vollendeten dritten Lebensjahr an hat nach Maßgabe des Landesrechts Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens. Für Kinder im Alter unter drei Jahren und Kinder im schulpflichtigen Alter sind nach Bedarf Plätze in Tageseinrichtungen und, soweit für das Wohl des Kindes erforderlich, Tagespflegeplätze vorzuhalten.
(2) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe und die kreisangehörigen Gemeinden ohne Jugendamt haben darauf hinzuwirken, daß
- für jedes Kind vom vollendeten dritten Lebensjahr an bis zum Schuleintritt ein Platz im Kindergarten zur Verfügung steht,
- das Betreuungsangebot für Kinder im Alter unter drei Jahren und Kinder im schulpflichtigen Alter bedarfsgerecht ausgebaut wird und
- ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagesplätzen vorgehalten wird.”
Die Vermutung des Beklagten, der Gesetzgeber habe bei Erlaß des 1. SGB VIII-Änderungsgesetzes übersehen, daß § 24 SGB VIII bereits durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz geändert worden sei, wird durch die im 1. SGB VIII-Änderungsgesetz zeitgleich mit der Änderung des § 90 Abs. 3 SGB VIII vorgenommene Änderung der bereits zuvor neu gefaßten Vorschrift des § 24 SGB VIII widerlegt (in Absatz 2 wurden die Worte „und die kreisangehörigen Gemeinden ohne Jugendamt” gestrichen). Die sprachliche Formulierung des § 24 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII F. 1992 mit dem neu eingeführten Bedarfskriterium für Plätze in Tageseinrichtungen einerseits und dem unverändert beibehaltenen Erforderlichkeitskriterium für Tagespflegeplätze andererseits schließt die Annahme aus, das Gesetz habe auch für Plätze in Tageseinrichtungen unverändert am Erforderlichkeitskriterium festgehalten. Der Umstand, daß erst das Zweite Gesetz zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 15. Dezember 1995 (BGBl I S. 1775) die Regelung der Vorhaltung von Tagespflegeplätzen mitsamt dem hierauf bezogenen Erforderlichkeitskriterium ganz aus § 24 SGB VIII herausgenommen hat, rechtfertigt nicht die Annahme, bis dahin habe dieses Kriterium entgegen dem Gesetzeswortlaut auch für Plätze in Tageseinrichtungen fortgegolten (so allerdings Wiesner, SGB VIII, 1. Aufl. 1995, § 24 Rn. 22). Auch der Unterschied im Wortlaut des § 90 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII mit der in bezug auf die Inanspruchnahme von Angeboten nach Absatz 1 Nr. 1 und 2 beibehaltenen Voraussetzung, daß die Förderung für die Entwicklung des jungen Menschen „erforderlich” ist, und dem des Absatzes 3, der eine solche Erforderlichkeit nicht voraussetzt, spricht gegen die Auffassung des Beklagten.
Gegen Bundesrecht verstößt es jedoch, daß die Vorinstanz die Bezugnahme auf die „Inanspruchnahme von Angeboten … der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen nach den §§ 22, 24” in § 90 Abs. 3 und 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII ohne Berücksichtigung der Struktur der in der zugrundeliegenden Leistungsnorm in § 24 SGB VIII geregelten Jugendhilfeleistungen bzw. Angebote in einem rein faktischen Sinne als Inanspruchnahme real vorhandener Möglichkeiten und den Begriff des „Bedarfs” in der Leistungsnorm des § 24 SGB VIII – ebenfalls rein faktisch – im Sinne einer bloßen Nachfrage verstanden hat. Zwar ist einzuräumen, daß ein „Bedarf” an Plätzen in Tageseinrichtungen eine entsprechende Nachfrage voraussetzt, doch ist der Bedarf im Rechtssinne als normativer Begriff im Zusammenhang mit der Gesamtverantwortung des Jugendhilfeträgers (§ 79 SGB VIII) und im Rahmen der Planungsverantwortung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII zu sehen, wonach der Bedarf „unter Berücksichtigung der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen und der Personensorgeberechtigten” und nicht nach alleiniger Maßgabe der Nachfrage zu ermitteln ist. Auch die Systematik des § 24 SGB VIII, die für die Altersgruppen nach Absatz 1 Satz 2 nur eine objektivrechtliche Verpflichtung des Jugendhilfeträgers, aber im Gegensatz zu Satz 1 keinen Anspruch vorsieht, spricht gegen eine rein nachfrageorientierte Auslegung des Bedarfsbegriffs. Die inhaltlichen Kriterien des Förderungsangebots des Jugendhilfeträgers sind nicht nur auf der Leistungsseite, sondern – soweit bei selbstbeschafften Leistungen eine Entscheidung des Jugendhilfeträgers über die Leistungsgewährung fehlt – auch bei der Prüfung der Beitragsübernahme zu berücksichtigen, da es mit dem Wesen des Förderungsangebots nach § 24 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII nicht vereinbar wäre, wenn Personen, die wegen eines beschränkten Angebots dieser Förderung Jugendhilfeleistung nicht erlangen konnten, durch einen Akt der Selbsthilfe Kostenübernahme erreichen könnten. Auch kann – worauf der Oberbundesanwalt zutreffend hinweist – die Selbstbeschaffung einer Hilfe bei einem zur Tragung der Kosten nicht bereiten Dritten einen Kostenübernahmeanspruch gegen den Jugendhilfeträger nur begründen, wenn jedenfalls die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung öffentlicher Jugendhilfe für die tatsächlich erhaltene Erziehung vorgelegen haben und diese Kosten nicht vom Minderjährigen oder seinen Eltern zu tragen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. September 1996 – BVerwG 5 C 31.95 ≪Buchholz 436.511 § 27 KJHG/SGB VIII Nr. 3 S. 9≫).
Eine nicht allein auf die Nachfrage abstellende Bestimmung des Bedarfs im Sinne von § 24 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII F. 1992 folgt insbesondere aus der Struktur der Jugendhilfeleistung, hier als Angebot zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII). Während die „Hilfen” gemäß Absatz 2 Nr. 4 bis 6 SGB VIII den Hilfebedürftigen nach bestimmten gesetzlichen Maßgaben gewährt werden, bezieht § 90 SGB VIII sich auf die Inanspruchnahme von „Angeboten”, welche zwar ebenfalls Leistungen der Jugendhilfe sind, aber eine andere rechtliche Struktur haben. Die unterschiedliche Struktur eines Anspruchs auf Hilfe und der Möglichkeit, ein Angebot der Jugendhilfe wahrzunehmen, wirkt sich zwar im Ergebnis nicht aus, wenn etwa ein Kind einen subjektiven Anspruch auf ein bestimmtes Angebot hat wie im Falle des Anspruchs auf den Besuch eines Kindergartens nach § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Für Kinder im Alter unter drei Jahren ist aber die Verpflichtung des Jugendhilfeträgers, nach Bedarf Plätze in einer Tageseinrichtung vorzuhalten und damit anzubieten, nach der Systematik des Gesetzes nicht mit einem entsprechenden subjektivrechtlichen Anspruch gekoppelt. Erst wenn ein Kinderkrippenplatz vorgehalten bzw. angeboten wird, kann das Angebot angenommen werden. Wird ein Kind, wie im Streitfall, in einer Kinderkrippe eines freien Trägers aufgenommen, so ist daher zu prüfen, ob die von dem für die Übernahme der Teilnahmebeiträge zuständigen Jugendhilfeträger für das Angebot eines Kinderkrippenplatzes festgelegten Bedarfskriterien erfüllt sind.
Das vorliegende Verfahren gibt dem Senat keinen Anlaß, näher zu bestimmen, welchen rechtlichen Voraussetzungen eine Festlegung von Bedarfskriterien im einzelnen genügen muß. Auf der Grundlage der Zielsetzung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes und des verfassungsrechtlichen Gebots, Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Familientätigkeit und Berufstätigkeit aufeinander abgestimmt werden können und die Wahrnehmung der familiären Erziehungsaufgabe nicht zu beruflichen Nachteilen führt (BVerfGE 88, 203, 258 ff., 260), ist davon auszugehen, daß im Rahmen der Angebotsplanung jedenfalls einem Bedarf Rechnung getragen werden muß, der entsteht, wenn die Eltern sich in Ausbildung befinden oder aus wirtschaftlichen Gründen erwerbstätig sein müssen (vgl. auch Wiesner/Struck, SGB VIII, 2. Aufl. 2000, § 24 Rn. 32). Insoweit sind die im oben genannten, am 28. Mai 1993 ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts dargelegten, aus dem Gedanken einer staatlichen Schutzpflicht für das ungeborene menschliche Leben abgeleiteten Grundsätze auch schon auf § 24 SGB VIII F. 1992 anzuwenden. Die vom Beklagten in der mündlichen Verhandlung dargelegten Förderungsgrundsätze genügen ersichtlich diesen Maßstäben. Danach übernimmt der Beklagte auch bei Unterbringung in einer auswärtigen Krippe die Beiträge, soweit die Betreuung in einer Kindertagesstätte (einer kreisangehörigen Gemeinde) nicht möglich ist und
„die Eltern bzw. ein alleinerziehendes Elternteil einer Erwerbstätigkeit nachgehen/nachgeht und/oder sich in Erstausbildung (Berufsausbildung oder Studium) befindet/befinden,
oder
- beide Elternteile berufstätig sind und die Aufgabe der Berufstätigkeit eines Elternteils zur Sozialhilfebedürftigkeit führt …”
Da die Klägerin sich im streitgegegenständlichen Zeitraum im Studium befand, dürften – was die Tatsacheninstanz abschließend zu entscheiden hat – die vom Beklagten generell aufgestellten Bedarfskriterien mit Blick auf ihre Person erfüllt sein. Daß der Beklagte die Klägerin, die im fraglichen Zeitraum mit dem nichtehelichen Vater der Kinder in einer Wohnung zusammenlebte, nicht als alleinerziehenden Elternteil im Sinne der Bedarfskriterien angesehen, sondern den Vater in die Erziehungs- und Betreuungsverantwortung eingebunden hat, entspricht offenbar der zwischen den Eltern bestehenden Aufgabenverteilung und bedarf insofern nicht der rechtlichen Problematisierung. Indes bedarf es in tatsächlicher Hinsicht noch der Prüfung, ob die Berufstätigkeit des Vaters der Kinder eine persönliche Betreuung ausschloß. Dies erfordert die Aufhebung und Zurückverweisung an die Vorinstanz.
Unterschriften
Dr. Säcker, Dr. Bender, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 27.01.2000 durch Müller Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
NJW 2001, 458 |
BVerwGE, 302 |
FamRZ 2000, 1087 |
NVwZ 2000, 1300 |
FEVS 2000, 347 |
NDV-RD 2000, 67 |
ZfJ 2000, 235 |
ZfSH/SGB 2000, 471 |
DVBl. 2000, 1212 |
info-also 2000, 230 |