Verfahrensgang
OVG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 25.05.2020; Aktenzeichen OVG 3 B 9.19) |
VG Berlin (Urteil vom 09.01.2019; Aktenzeichen 28 K 266.17 A) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 25. Mai 2020 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin begehrt während ihres laufenden Asylverfahrens (vorab) die Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes in Bezug auf Italien.
Rz. 2
Die Klägerin, eine 1955 geborene somalische Staatsangehörige, reiste 2015 in das Bundesgebiet ein, nachdem sie zuvor in Italien als Flüchtling anerkannt worden war, und stellte hier einen (weiteren) Asylantrag. Diesen Antrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - mit Bescheid vom 19. Dezember 2016 als unzulässig ab (Ziffer 1). Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), drohte der Klägerin die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG a.F. auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4).
Rz. 3
Nach Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stellte das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 9. Januar 2019 fest, dass die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig und die Abschiebungsandrohung nach Italien unwirksam geworden sind. Außerdem verpflichtete es die Beklagte unter Aufhebung der Feststellung, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, sowie der Entscheidung zur Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots, für die Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Italiens festzustellen und über den Asylantrag der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Rz. 4
Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 25. Mai 2020 das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert, soweit dieses die Beklagte verpflichtet hat, für die Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Italiens festzustellen. Zugleich hat es Ziffer 2 und 4 des Bescheids aufgehoben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe lediglich Anspruch auf (isolierte) Aufhebung der Entscheidungen in Ziffer 2 und 4 des Bescheids, weil diesen Folgeentscheidungen durch die Unwirksamkeit der Unzulässigkeitsentscheidung und der Abschiebungsandrohung die Grundlage entzogen worden sei. Eine Klage auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Italiens sei hingegen unzulässig. Das Bundesamt habe in dem nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG fortzusetzenden Asylverfahren erneut über den Asylantrag zu befinden. Nach dem in § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG festgelegten Prüfprogramm setze eine Entscheidung über das Vorliegen nationaler Abschiebungsverbote voraus, dass das Bundesamt zuvor den weitergehenden Asylantrag beschieden habe. Daran fehle es bei Unwirksamkeit der Unzulässigkeitsentscheidung und Verpflichtung des Bundesamts zur Fortführung des Asylverfahrens. Werde das Bundesamt dennoch zur Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Italiens verpflichtet, so werde ihm der Erlass eines Verwaltungsakts auferlegt, den es zu diesem Zeitpunkt weder erlassen müsse noch dürfe, und die in § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG vorgesehene behördliche Absehensbefugnis verkürzt. Dass ein nationales Abschiebungsverbot nicht geltend gemacht werden könne, solange das Bundesamt noch nicht über die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung internationalen Schutzes entschieden habe, ergebe sich auch aus einer Zusammenschau der Regelungen in § 31 Abs. 2 und 3 AsylG und des sich hieraus ergebenden Rangverhältnisses der Schutzansprüche. Nur so werde hinsichtlich einer im Mitgliedstaat der Schutzgewährung drohenden Verletzung von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK eine nicht statthafte Vorwegnahme der erneuten Entscheidung des Bundesamts über den Asylantrag vermieden. Der Gefahr einer "Endlosschleife" könne das Bundesamt begegnen, indem es entweder auf den Erlass einer erneuten Abschiebungsandrohung verzichte oder deren Vollzug bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens aussetze. Soweit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Schutzsuchender zusätzlich zu der gegen die Unzulässigkeitsentscheidung gerichteten Anfechtungsklage hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbotes mit der Verpflichtungsklage verfolgen könne, sei über diesen Hilfsantrag nur zu entscheiden, wenn die Anfechtungsklage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung keinen Erfolg habe, das Asylverfahren durch das Bundesamt also nicht fortzuführen sei.
Rz. 5
Die Klägerin macht mit der Revision geltend, ihr Verpflichtungsbegehren sei statthaft. Das Bundesamt habe auch bei Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig eine Sachentscheidung zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu treffen. Hinsichtlich der vom Bundesamt noch vorzunehmenden Prüfung der Zulässigkeit des Asylantrags werde mit der Verpflichtung zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nur über eine Frage entschieden, die auch bei der Zulässigkeitsprüfung zu berücksichtigen sei, weil nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bei einer drohenden Verletzung von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK der Asylantrag nicht als unzulässig abgelehnt werden dürfe, sondern in dessen inhaltliche Prüfung einzusteigen sei. Vorweggenommen werde lediglich die Entscheidung, von der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots abzusehen, wenn der Ausländer als Asylberechtigter anerkannt oder ihm internationaler Schutz gewährt werde. Selbst wenn vorrangig über Asyl und internationalen Schutz zu entscheiden sei, schließe dies die zusätzliche Feststellung eines Abschiebungsverbots nicht aus. Der verfassungsrechtliche Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gebiete in der vorliegenden Konstellation eine Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten, soweit solche vorlägen. Die Entscheidungspraxis des Bundesamts führe zu einer Endlosschleife. Der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei nicht zu entnehmen, dass die Feststellung eines Abschiebungsverbots nur nachrangig mit der Verpflichtungsklage verfolgt werden könne. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung scheitere schon daran, dass das Bundesamt über das Vorliegen nationaler Abschiebungsverbote entschieden habe.
Rz. 6
Die Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht verteidigen die angegriffene Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Rz. 7
Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht entschieden, dass die Klage, soweit sie noch anhängig ist, nicht statthaft und damit unzulässig ist.
Rz. 8
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der nationale Abschiebungsschutz und hier nach gerichtlicher Aufhebung der (negativen) Feststellung im Bescheid des Bundesamts vom 19. Dezember 2016, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen (Ziffer 2 des Bescheids), nur noch die von der Klägerin begehrte Verpflichtung des Bundesamts zur (positiven) Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG hinsichtlich Italiens. Insoweit handelt es sich um einen einheitlichen, nicht weiter aufteilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen (§ 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 einschließlich Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung). Eine Abschichtung einzelner nationaler Abschiebungsverbote im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ist ungeachtet des materiellen Nachrangs des Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG nicht möglich (BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 17).
Rz. 9
Bei sachdienlicher Auslegung der Revision wendet sich die Klägerin nicht gegen die - sie nicht beschwerende - (erneute) Aufhebung der schon vom Verwaltungsgericht aufgehobenen Befristungsentscheidung (Ziffer 4 des Bescheids) durch das Berufungsgericht.
Rz. 10
2. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens sind das Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch den am 1. April 2021 in Kraft getretenen Art. 5 des Zweiten Datenaustauschverbesserungsgesetzes vom 4. August 2019 (BGBl. I S. 1131), sowie das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch das am 1. Januar 2021 in Kraft getretene Gesetz vom 9. Dezember 2020 zur Ermittlung der Regelbedarfe und zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie weiterer Gesetze (BGBl. I S. 2855). Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz eintreten, sind im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht - entschiede es anstelle des Revisionsgerichts - sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8.07 - BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuellen Fassungen zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 12). Die hier maßgeblichen Bestimmungen haben sich seit der Entscheidung des Berufungsgerichts nicht geändert.
Rz. 11
3. Die auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Italiens gerichtete Verpflichtungsklage ist im derzeitigen Verfahrensstadium, in dem das Asylverfahren nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG vom Bundesamt fortzuführen ist, nicht statthaft.
Rz. 12
Das Begehren ist zwar auf den Erlass eines feststellenden Verwaltungsakts durch das Bundesamt gerichtet und damit grundsätzlich mit der Verpflichtungsklage zu verfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2017 - 1 C 10.17 - Buchholz 402.251 § 31 AsylG Nr. 2 Rn. 17, wonach der Kläger im Falle einer Unzulässigkeitsentscheidung die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage nach allgemeinen prozessrechtlichen Grundsätzen ≪§ 44 VwGO≫ hilfsweise mit einem entsprechenden Verpflichtungsantrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG verbinden kann). Für den Fall eines erfolgreichen Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG sieht § 37 Abs. 1 AsylG aber vor, dass die Unzulässigkeitsentscheidung und die Abschiebungsandrohung kraft Gesetzes unwirksam werden (Satz 1) und das Bundesamt das Asylverfahren fortzuführen hat (Satz 2). Damit ist die vom Bundesamt mit der (unwirksam gewordenen) Unzulässigkeitsentscheidung verweigerte sachliche Prüfung des Asylantrags vorrangig vom Bundesamt als einer mit besonderem Sachverstand ausgestatteten Fachbehörde nachzuholen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 - BVerwGE 157, 18 Rn. 19). Die Unwirksamkeit der Unzulässigkeitsentscheidung entzieht der vom Bundesamt mit der Unzulässigkeitsentscheidung verbundenen (negativen) Feststellung zum Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG die Grundlage. Die in § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG angeordnete Fortführung des Asylverfahrens durch das Bundesamt umfasst daher auch eine neuerliche Entscheidung zum nationalen Abschiebungsschutz. Prozessual hat das zur Folge, dass gegen diese mangels wirksamer Unzulässigkeitsentscheidung verfrüht ergangene Folgeentscheidung trotz des grundsätzlichen Vorrangs der Verpflichtungsklage nur eine Anfechtungsklage statthaft ist. Dies ergibt sich vor allem aus dem dem Bundesamt gemäß § 24 Abs. 2 i.V.m. § 31 Abs. 3 und 5 AsylG obliegenden "Entscheidungsprogramm" (a), das auf der Grundentscheidung beruht, dass Schutz vorrangig auf derjenigen Stufe zu gewähren ist, die den umfassendsten Schutz vermittelt (b). Zudem ist der nationale Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zielstaatsbezogen; dabei hängt der in den Blick zu nehmende Zielstaat vom Ausgang des Asylverfahrens ab (c). Das Erfordernis einererneuten Behördenentscheidung auch in Bezug auf den nationalen Abschiebungsschutz dient der Verfahrensbeschleunigung und -konzentration (d). Es verletzt weder das Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG (e) noch widerspricht es Unionsrecht (f). Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Senats (g).
Rz. 13
a) Mit Stellung eines Asylantrags geht die Prüfverantwortung für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG gemäß § 24 Abs. 2 AsylG von der Ausländerbehörde auf das Bundesamt über. Damit erstreckt sich die Zuständigkeit des Bundesamts über die primären Verfahrensgegenstände eines Asylverfahrens nach § 31 Abs. 2 AsylG (Asyl, Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz) hinaus auch auf die - an sich originär ausländerrechtliche - Prüfung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Inhalt und Grenzen der Entscheidungsbefugnis des Bundesamts ergeben sich aus § 31 Abs. 3 und 5 und § 32 AsylG. Nach dem dort festgelegten (objektivrechtlichen) "Entscheidungsprogramm" (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2017 - 1 C 10.17 - Buchholz 402.251 § 31 AsylG Nr. 2 Rn. 16) muss das Bundesamt abhängig vom Ergebnis der Prüfung des eigentlichen Asylantrags sowie im Falle der Antragsrücknahme oder des Verzichts auch über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach nationalem Recht entscheiden.
Rz. 14
aa) Nach der Grundregel des § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG hat das Bundesamt sowohl bei zulässigen als auch bei unzulässigen Asylanträgen und selbst bei Vorliegen eines Nichtantrags, der nach § 30 Abs. 5 AsylG als (offensichtlich) unbegründeter Asylantrag gilt, über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach nationalem Recht zu entscheiden. Dabei bezieht sich die nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG zu treffende Feststellung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen, in den Fällen unzulässiger Asylanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AsylG nicht auf den Herkunftsstaat des Asylbewerbers, sondern auf den Zielstaat der Abschiebung bzw. Überstellung (BVerwG, Beschluss vom 3. April 2017 - 1 C 9.16 - Buchholz 402.251 § 31 AsylG Nr. 1 Rn. 9). Dies stellt sicher, dass eine ggf. zu erlassende Rückführungs- oder Überstellungsentscheidung in Form einer Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG oder einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG ohne Verletzung des konventionsrechtlichen Refoulementverbots (Art. 33 GK) oder grund- und menschenrechtlicher Garantien (insbesondere aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 EMRK) ergeht. Eine solche "Vorratsentscheidung" ist - abgesehen von den ausdrücklich im Gesetz genannten Fällen - auch dann nicht entbehrlich, wenn aus tatsächlichen Gründen (z.B. wegen zielstaatsunabhängiger Duldungsgründe) wenig Aussicht auf Durchsetzung der Ausreisepflicht besteht. Insoweit dient § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG dem gesetzgeberischen Ziel, Asylverfahren zu konzentrieren und zu beschleunigen, um im Falle der Ablehnung des Asylbegehrens die Aufenthaltsbeendigung ohne weitere Verzögerungen durchsetzen zu können (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2003 - 1 C 21.02 - BVerwGE 118, 308 ≪311 f.≫ zu § 53 AuslG).
Rz. 15
bb) Von der nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG an sich gebotenen Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten kann nach Satz 2 abgesehen werden, wenn der Betroffene als Asylberechtigter anerkannt oder ihm internationaler Schutz zuerkannt wird. Beruht die Anerkennung als Asylberechtigter auf § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG (Familienasyl) bzw. die Zuerkennung internationalen Schutzes auf § 26 Abs. 5 AsylG (internationaler Schutz für Familienangehörige), verdichtet sich das Ermessen nach § 31 Abs. 5 AsylG und soll von der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG abgesehen werden.
Rz. 16
b) Dieses gesetzliche "Entscheidungsprogramm" des Bundesamts fußt auf der Grundentscheidung, dass einem Schutzsuchenden Schutz vorrangig auf derjenigen Stufe zu gewähren ist, die den umfassendsten Schutz vermittelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 - BVerwGE 162, 44 Rn. 44). Damit ist die Prüfung nationaler Abschiebungsverbote gegenüber der Prüfung der Asylberechtigung und der Zuerkennung internationalen Schutzes nachrangig, ohne dass sich die verschiedenen Schutzformen materiell oder verfahrensrechtlich ausschließen. Der betroffene Ausländer erleidet hierdurch keinen Nachteil, weil die Zuerkennung eines positiven Schutzstatus für ihn günstigere Rechtswirkungen entfaltet und er im Falle eines Widerrufs oder einer Rücknahme eine Vollprüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG beanspruchen kann (§ 73 Abs. 3 AsylG).
Rz. 17
c) Dass über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG erst nach einer (wirksamen) Entscheidung über den Asylantrag zu befinden ist, ergibt sich auch daraus, dass der nationale Abschiebungsschutz zielstaatsbezogen ist. Welcher Staat dabei in den Blick zu nehmen ist, hängt indes vom Ausgang des Asylverfahrens ab. Ist ein Asylantrag zulässig, aber unbegründet, ist dies (vorrangig) der Herkunftsstaat. Ist der Asylantrag hingegen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat) oder nach § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG (Aufnahmebereitschaft eines sonstigen Drittstaats, in dem der Ausländer vor Verfolgung sicher war) unzulässig, ist dem Ausländer die Abschiebung in den Staat anzudrohen, in dem er vor Verfolgung sicher war (§ 35 AsylG). Hat das Bundesamt das Asylverfahren nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG fortzuführen, muss es im fortzuführenden Verfahren prüfen, ob es den Asylantrag erneut als unzulässig ablehnt oder - nach Verneinung eines Unzulässigkeitsgrundes - in der Sache entscheidet. Dabei muss es sich mit den vom Gericht im Eilverfahren angedeuteten Zweifeln auseinandersetzen, ist an dessen Bewertung aber nicht gebunden (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 31).
Rz. 18
d)Auch der das Asylrecht prägende Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung und -konzentration spricht gegen die Statthaftigkeit einer vom Ausgang des Asylverfahrens entkoppelten (isolierten) Verpflichtungsklage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG während eines laufenden Asylverfahrens. Dies gilt auch in den von § 37 Abs. 1 AsylG erfassten Fallkonstellationen.
Rz. 19
Nach § 37 Abs. 1 AsylG führt ein erfolgreicher Eilantrag gegen eine Abschiebungsandrohung im Falle eines vom Bundesamt nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 oder 4 AsylG als unzulässig abgelehnten Asylantrags zur Unwirksamkeit sowohl der Unzulässigkeitsentscheidung als auch der Abschiebungsandrohung (Satz 1) mit der Folge, dass das Asylverfahren vom Bundesamt fortzuführen ist (Satz 2). Dies dient der Verfahrensbeschleunigung. Durch Straffung des gerichtlichen Verfahrens soll zügig ein rechtmäßiger Zustand hergestellt werden. Mit der Unwirksamkeitsfolge des § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG soll die ansonsten dem Hauptsacheverfahren vorbehaltene Kassation des Verwaltungsaktes vorweggenommen werden (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 26). Die damit bezweckte Verfahrensbeschleunigung würde in ihr Gegenteil verkehrt, wenn das Gericht anknüpfend an eine auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützte unwirksame Unzulässigkeitsentscheidung und eine damit einhergehende, ebenfalls unwirksame Abschiebungsandrohung zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote prüfen müsste, obwohl das Asylverfahren vom Bundesamt in dem Stadium, in dem es sich vor der Ablehnung befunden hat, mit grundsätzlich offenem Ausgang fortzuführen ist (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 31).
Rz. 20
Zudem würde in diesem Verfahrensstadium eine ungeachtet des beim Bundesamt noch anhängigen Asylverfahrens auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots gerichtete (isolierte) Vorabverpflichtung zu einer - im Asylrecht nach dem Gedanken der Verfahrenskonzentration grundsätzlich unerwünschten - Verfahrensaufspaltung und Doppelprüfung führen. Denn die Frage einer dem Ausländer im Zielstaat möglicherweise drohenden Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung stellt sich nicht nur beim nationalen Abschiebungsschutz, sondern über Art. 4 GRC auch bei der - im vorliegenden Verfahren weiterhin offenen und vom Bundesamt im fortzuführenden Asylverfahren zu prüfenden - Frage, ob der Asylantrag wegen des der Klägerin in Italien gewährten internationalen Schutzes nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in unionsrechtskonformer Einschränkung unzulässig ist (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 21. April 2020 - 1 C 4.19 - juris, im Anschluss an EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim u.a. - und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:964], Hamed und Omar -). Bejahte man während eines vom Bundesamt fortzuführenden Asylverfahrens die Statthaftigkeit einer auf eine (positive) Entscheidung zum nationalen Abschiebungsschutz gerichteten (isolierten) Verpflichtungsklage, hätte dies zur Folge, dass das Verwaltungsgericht - vorab und bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt seiner letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung - über die Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes entschiede. Diese Entscheidung entfaltete in dem vom Bundesamt fortzuführenden Asylverfahren bei der (erneuten) Prüfung der Zulässigkeit des Asylantrags trotz eines im rechtlichen Ansatz identischen Prüfungsmaßstabs keine Bindungswirkung, weil es sich prozessual um unterschiedliche Ansprüche handelt. Auch in tatsächlicher Hinsicht hätte die Entscheidung des Verwaltungsgerichts allenfalls eine begrenzte Aussagekraft für die neuerliche Entscheidung des Bundesamts und dessen gerichtliche Überprüfung wegen der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG jeweils maßgeblichen (unterschiedlichen) Entscheidungszeitpunkte für die Feststellung und Bewertung der Lebensverhältnisse im schutzgewährenden Mitgliedstaat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. September 2020 - 1 B 31.20 - InfAuslR 2021, 28 = juris Rn. 15 ff.).
Rz. 21
e) Die Statthaftigkeit lediglich einer auf Kassation der Entscheidung des Bundesamts zum nationalen Abschiebungsschutz gerichteten Anfechtungsklage statt einer auf positive behördliche Feststellung gerichteten Verpflichtungsklage verletzt in den von § 37 Abs. 1 AsylG erfassten Konstellationen nicht das Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG. Das Bundesamt hat in dem nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG fortzuführenden Asylverfahren nach Maßgabe des § 31 Abs. 3 AsylG (erneut) über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu entscheiden. Dabei muss es sich mit den vom Gericht im Eilverfahren angedeuteten Zweifeln auseinandersetzen (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 31). Verneint es - bezogen auf den Zeitpunkt seiner neuerlichen Entscheidung - (erneut) die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, kann der Betroffene hiergegen gerichtlich vorgehen. Dies führt nicht zu der von der Klägerin befürchteten Gefahr einer Rechtsschutzverweigerung. Denn die Entscheidungsinstrumente, die das Asylgesetz zur Verfügung stellt, ermöglichen dem Bundesamt auch im Falle einer neuerlichen Unzulässigkeitsentscheidung die Vermeidung einer "Endlosschleife" im Verfahren (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 31 ff.). Das vorliegende Verfahren gibt keinen Grund zu der Annahme, dass das Bundesamt hiervon in der Praxis keinen Gebrauch macht. Allein der Umstand, dass es wegen des anhängigen Revisionsverfahrens und der hierdurch aufgeworfenen möglichen Konsequenzen für seine weitere Prüfung noch keine Entscheidung im fortzuführenden Asylverfahren getroffen hat, rechtfertigt keine andere Beurteilung.
Rz. 22
f) Auch Unionsrecht steht nicht entgegen. Der nationale Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG unterliegt im Gegensatz zum internationalen Schutz keinen unionsrechtlichen Vorgaben. Insbesondere findet das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 46 RL 2013/32/EU auf ihn keine Anwendung. Dessen ungeachtet steht der Klägerin gegen eine neuerliche negative Entscheidung des Bundesamts ein Rechtsbehelf zur Verfügung und besteht nach den vorstehenden Ausführungen nicht die Gefahr, dass ihr dadurch effektiver Rechtsschutz in angemessener Zeit vorenthalten wird.
Rz. 23
g) Soweit das Verwaltungsgericht in der vorliegenden Konstellation eine Verpflichtungsklage vor einer (neuerlichen) Entscheidung über den Asylantrag für statthaft hält, beziehen sich die von ihm zitierten Ausführungen in der Rechtsprechung des Senats (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 - BVerwGE 157, 18 Rn. 20) auf die Statthaftigkeit einer hilfsweise zu erhebenden Verpflichtungsklage für den Fall, dass die gegen die Unzulässigkeitsentscheidung gerichtete Anfechtungsklage keinen Erfolg hat und damit eine wirksame (negative) Entscheidung des Bundesamts über den Asylantrag vorliegt. Vorliegend geht es hingegen darum, ob eine (isolierte) Verpflichtungsklage statthaft ist, wenn es an einer Entscheidung über den Asylantrag fehlt, weil diese kraft gesetzlicher Anordnung unwirksam und das Asylverfahren vom Bundesamt fortzuführen ist.
Rz. 24
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Rz. 25
5. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
Fundstellen
Haufe-Index 14686038 |
DVBl. 2021, 2 |