Entscheidungsstichwort (Thema)
Erschließungsbeitrag. Erschlossensein. Mischgebiet. Wohnnutzung. gewerbliche Nutzung. Erreichbarkeit. Zugang. Zufahrt. Heranfahren. Herauffahren. Hindernis. Mauer. Höhenunterschied. Geländeniveau. Erschließungsvorteil. Bebaubarkeit. Gegenrüge. aktenwidrige Feststellungen. maßgeblicher Sachverhalt
Leitsatz (amtlich)
- Ein in einem Mischgebiet gelegenes Grundstück ist – vorbehaltlich besonderer Festsetzungen im einschlägigen Bebauungsplan – erschlossen i.S.v. § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB, wenn die für eine Wohnnutzung ausreichende Möglichkeit gegeben ist, mit Personen- und Versorgungsfahrzeugen an das Grundstück heranzufahren und es von dort aus zu betreten.
- Der ein Erschlossensein begründende Erschließungsvorteil verlangt nicht, dass die Erschließungsanlage dem Mischgebietsgrundstück eine Bebaubarkeit für alle nach § 6 Abs. 2 BauNVO zulässigen Nutzungen ermöglicht. Ein Erschließungsvorteil liegt vielmehr darin, dass auf dem Grundstück überhaupt eine der nach § 6 Abs. 2 BauNVO zulässigen Nutzungen genehmigt werden müsste. Unerheblich ist, welche Nutzung auf dem Grundstück tatsächlich bereits verwirklicht ist.
- Der in der Rechtsprechung entwickelte, zur Annahme des Erschlossenseins führende Ausnahmefall, dass die übrigen Eigentümer schutzwürdig erwarten dürfen, dass ein bebauungsrechtlich nicht erschlossenes Grundstück gleichwohl in die Verteilung des beitragsfähigen Erschließungsaufwands einbezogen wird, setzt voraus, dass zum Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflichten Umstände vorliegen, die diese Erwartung stützen; bloße Mutmaßungen über künftige Entwicklungen reichen dafür nicht aus.
- Auf die sog. Gegenrüge des Revisionsbeklagten zu unzutreffenden, insbesondere aktenwidrigen Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz hat das Revisionsgericht bei der Prüfung, ob sich die angefochtene Entscheidung aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO), von dem im Revisionsverfahren von den Beteiligten unstreitig gestellten Sachverhalt auszugehen.
Normenkette
BauGB § 131 Abs. 1 S. 1, § 133 Abs. 1; BauNVO § 6 Abs. 1-2; VwGO § 137 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 144 Abs. 4
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 10.11.2005; Aktenzeichen 2 S 913/05) |
VG Karlsruhe (Urteil vom 24.03.2004; Aktenzeichen 11 K 1367/03) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 10. November 2005 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I
Die Klägerin wendet sich gegen ihre Heranziehung zu einem Erschließungsbeitrag. Das streitgegenständliche Grundstück verläuft zwischen zwei Straßen. Im Nordosten grenzt es mit einem Wohnhaus und einer Hoffläche an die Hauptstraße an, zu der eine Zufahrt besteht. Der südwestliche, zur Straße Hinter der Kirche gelegene Teil des Grundstücks ist mit einem gewerblich genutzten Hallen- und Bürogebäude bebaut. Die rückwärtige Wand dieses Gebäudes ist auf die Grundstücksgrenze gebaut und verfügt über keine Tür- oder Toröffnung. Das Grundstück liegt im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der für diese Fläche die Nutzungsart Mischgebiet festsetzt. Die Beklagte zog die Klägerin für die erstmalige Herstellung der Straße Hinter der Kirche zu einem Erschließungsbeitrag in Höhe von umgerechnet 12 033,56 € heran. Der dagegen gerichtete Widerspruch blieb erfolglos.
Zur Begründung ihrer Klage hat die Klägerin vorgetragen, ihr Grundstück werde durch die Straße Hinter der Kirche nicht erschlossen. Zu dieser Straße bestünden wegen der rückwärtigen Gebäudewand und wegen eines Höhenunterschiedes von ca. 0,75 Metern zwischen dem Fußboden des Hallengebäudes und der Straße tatsächliche Hindernisse, deren Beseitigung nur mit unzumutbarem finanziellen Aufwand bewerkstelligt werden könne. Da das Hallengebäude über einem Gewölbekeller stehe, müsste dessen Decke abgetragen werden, um einen höhengleichen Zugang herzustellen. Es sei fraglich, ob das ohne Gefährdung des Hallengebäudes technisch zu verwirklichen sei. Jedenfalls stünden die anfallenden Kosten außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung zurückgewiesen und ausgeführt: Das Grundstück der Klägerin werde – unter Hinwegdenken der bereits vorhandenen Ersterschließung durch die Hauptstraße – durch die Straße Hinter der Kirche erschlossen, weil dafür ausreiche, dass an das Grundstück herangefahren werden könne. Die planungsrechtliche Festsetzung eines Mischgebiets führe nicht zwingend dazu, dass alle davon erfassten Grundstücke über eine Zufahrt verfügen müssten. Ob dies auch regelmäßig dann gelte, wenn die Festsetzung Mischgebiet auf eine bereits vorhandene gewerbliche Nutzung treffe, bedürfe keiner abschließenden Entscheidung. Ebenso könne offen bleiben, ob die vorhandene gewerbliche Nutzung mit Blick auf den durch Art. 14 GG geschützten Anliegergebrauch dazu führe, dass eine Zufahrtsmöglichkeit zu dem Grundstück zu fordern sei. Schließlich könne offen bleiben, ob das Anlegen einer Zufahrt wegen des dafür erforderlichen finanziellen Aufwands unzumutbar sei. Denn vorliegend sei ein Erschlossensein des klägerischen Grundstücks ausnahmsweise deshalb anzunehmen, weil die anderen Anwohner der Straße Hinter der Kirche schutzwürdig darauf vertrauen dürften, dass das Grundstück bei der Aufwandsverteilung für diese Erschließungsanlage berücksichtigt werde. Dies sei geboten, weil das Grundstück der Klägerin das Erfordernis der Erreichbarkeit erfülle, soweit es ohne weiteres möglich sei, einen Zugang zur Erschließungsanlage zu schaffen. Auch sei das Anlegen einer Zufahrt jedenfalls nicht auf Dauer ausgeschlossen und könne von dem jeweiligen Eigentümer durchaus als nützlich in Betracht gezogen werden, wenngleich die Kosten hierfür sehr hoch seien. Letztlich sei ausschlaggebend zu berücksichtigen, dass für das Grundstück der mit Blick auf den Gewerbebetrieb geforderte Anliegergebrauch schon jetzt gewährleistet sei.
Zur Begründung ihrer vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision vertieft die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor: Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass ihr Grundstück i.S.v. § 131 Abs. 1 BauGB erschlossen sei, stehe damit noch nicht fest, dass das Grundstück auch nach § 133 Abs. 1 BauGB beitragspflichtig sei. Zwar könne allein aus der Festsetzung eines Mischgebiets nicht hergeleitet werden, dass auf allen betroffenen Grundstücken jede nach § 6 Abs. 2 BauNVO zulässige Nutzung möglich sein müsse mit der Folge, dass für das Erschlossensein die Möglichkeit einer Zufahrt zu fordern sei. Etwas anderes habe jedoch bei Grundstücken in überplanten Mischgebieten zu gelten, die – wie hier – seit langem gewerblich genutzt seien und bei denen auch nicht absehbar sei, dass die gewerbliche Nutzung in naher Zukunft aufgegeben werde. In solchen Fällen sei auch in Mischgebieten für das Erschlossensein i.S.v. § 133 Abs. 1 BauGB als Korrektiv auf die aktuelle Nutzung abzustellen und somit vorliegend zu fordern, dass man auf das Grundstück herauffahren könne. Hinzu komme, dass wegen des Höhenunterschiedes zwischen der Erschließungsanlage und dem Fußboden des Hallengebäudes die für die gewerbliche Nutzung erforderliche Zufahrtsmöglichkeit nur geschaffen werden könne, wenn auf dem Anliegergrundstück selbst ein entsprechendes Bauwerk, z.B. eine Rampe, angelegt werde. Dies sei der Klägerin wegen des dafür erforderlichen finanziellen Aufwands, aber auch wegen des damit verbundenen erheblichen Eingriffs in die vorhandene und genutzte Bausubstanz nicht zumutbar.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 10. November 2005 aufzuheben, unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 24. März 2004 den Bescheid der Beklagten vom 7. September 2001 und den Widerspruchsbescheid des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis vom 21. März 2003 aufzuheben und die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das Berufungsurteil als im Ergebnis zutreffend, weil für ein Erschlossensein des klägerischen Grundstücks lediglich eine Zugangsmöglichkeit zu fordern sei, die mit zumutbarem Aufwand geschaffen werden könne.
Auf eine Rüge der Beklagten zu den Sachverhaltsfeststellungen des Verwaltungsgerichtshofs haben die Beteiligten im Laufe des Revisionsverfahrens in tatsächlicher Hinsicht unstreitig gestellt, dass sich das Hallen- und Bürogebäude nicht, wie im angefochtenen Urteil festgestellt, über die gesamte rückwärtige Grundstücksgrenze erstreckt, sondern dass sich neben diesem Gebäude entlang der nordwestlichen Grundstücksgrenze ein unbebauter Geländestreifen in einer Breite von 3,57 Metern (unter Berücksichtigung einer Grenzmauer) befindet, der sich in Richtung des Wohnhauses noch weiter verjüngt und der an der rückwärtigen Grundstücksgrenze nur durch eine Mauer von der Straße Hinter der Kirche getrennt ist. Ferner gehen die Beteiligten nunmehr übereinstimmend davon aus, dass die Erschließungsanlage ca. 0,75 Meter tiefer liegt als der Fußboden des Hallen- und Bürogebäudes.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Das Berufungsurteil verletzt zwar Bundesrecht (1.), weil es trotz im Ausgangspunkt zutreffender Maßstäbe zur Beurteilung der Frage des Erschlossenseins i.S.v. § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB (a) im Streitfall dies zu Unrecht mit der Erwägung bejaht, dass die anderen Grundstückseigentümer schutzwürdig erwarten dürften, dass das Grundstück der Klägerin in die Verteilung des beitragsfähigen Erschließungsaufwands einbezogen werde (b). Die Entscheidung des Berufungsgerichts erweist sich jedoch im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig i.S.v. § 144 Abs. 4 VwGO (2.), weil auf der Grundlage des nach der Gegenrüge der Beklagten unstreitig gestellten Sachverhalts (a) für das vorliegende Mischgebietsgrundstück lediglich eine Zugangsmöglichkeit in Form des Heranfahrens bis zur Grundstücksgrenze erforderlich ist (b) und dem keine beachtlichen tatsächlichen Hindernisse entgegenstehen (c). Die Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 BauGB sind ebenfalls erfüllt (3.).
1. Das Berufungsgericht hat ein Erschlossensein des klägerischen Grundstücks i.S.v. § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB mit einer Begründung bejaht, die einer revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht standhält.
a) Das Berufungsgericht ist zwar im Ansatz zutreffend von den für die Beurteilung des Erschlossenseins maßgeblichen Grundsätzen ausgegangen. Es hat den Umstand, dass das Grundstück der Klägerin bereits durch die Hauptstraße über eine (Erst-)Erschließung verfügt, zutreffend außer Betracht gelassen (sog. “Hinwegdenken” der Ersterschließung, vgl. Urteile vom 26. September 1983 – BVerwG 8 C 86.81 – BVerwGE 68, 41 ≪45≫ und vom 1. März 1991 – BVerwG 8 C 59.89 – BVerwGE 88, 70 ≪72≫; Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 7. Aufl. 2004, § 17 Rn. 89). Es hat weiter zutreffend angenommen, dass das erschließungs(beitrags)rechtliche Erschlossensein wesentlich von dem bebauungsrechtlichen Erschlossensein (i.S.d. §§ 30 ff. BauGB) bestimmt wird. Es hat sodann erörtert, welche Form der Erreichbarkeit zur Annahme des Erschlossenseins im Streitfall zu fordern ist und ob dem beachtliche, mit zumutbarem finanziellen Aufwand nicht ausräumbare Hindernisse entgegenstehen. Es hat letztlich die Möglichkeit eines Zugangs ausreichen lassen und entscheidungstragend auf die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als Ausnahmefall gebilligte Erwägung abgestellt, dass die Eigentümer der übrigen durch die Anbaustraße erschlossenen Grundstücke schutzwürdig erwarten dürften, dass das Grundstück der Klägerin in die Verteilung des beitragsfähigen Erschließungsaufwands einbezogen werde. Diese Entscheidungsbegründung verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Das Berufungsgericht hat zwar durchaus erkannt, dass diese Erwägung nur ausnahmsweise zum Tragen kommen kann. Sie ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als eine Art “letzter Korrekturansatz” für den Fall entwickelt worden, dass das Erschlossensein eines Grundstücks nach bebauungsrechtlichen Kriterien zu verneinen wäre, dies aber zu mit der Interessenlage billigerweise nicht zu vereinbarenden Ergebnissen führen würde – insoweit dem Gedanken von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht unähnlich. Voraussetzung ist allerdings, dass die erwähnte schutzwürdige Erwartung der Eigentümer der übrigen Grundstücke in den bestehenden Verhältnissen ihre Stütze findet (vgl. Urteil vom 23. März 1984 – BVerwG 8 C 65.82 – Buchholz 406.11 § 127 BBauG Nr. 42 S. 19 ≪23≫). Diese Verhältnisse müssen im Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflichten vorliegen und den übrigen Grundstückseigentümern ohne weiteres erkennbar sein. Bloße Mutmaßungen über künftige Entwicklungen reichen hierfür nicht aus. Das Bundesverwaltungsgericht hat eine solche Ausnahmesituation bejaht bei einer – ungeachtet ihrer rechtlichen Zulässigkeit – tatsächlich bestehenden Zufahrt zu der Erschließungsanlage; denn in diesem Fall konnten die Anlieger selbst vor Ort sehen, dass die Straße von dem klagenden Grundstückseigentümer im selben Umfang genutzt und in Anspruch genommen wird wie von ihren Grundstücken aus und dass damit auch ihm ein Erschließungsvorteil zuwächst (vgl. Urteil vom 17. Juni 1994 – BVerwG 8 C 24.92 – BVerwGE 96, 116 ≪122 f.≫; Driehaus, a.a.O. § 17 Rn. 18).
b) Solche Umstände liegen im Streitfall nicht vor. Die Begründung des Berufungsgerichts für seine gegenteilige Annahme trägt nicht. Sie ist nicht schlüssig und steht zudem im Widerspruch zu Grundprinzipien des Erschließungsbeitragsrechts.
Das Berufungsgericht führt zunächst an, dass das klägerische Grundstück das Erreichbarkeitserfordernis erfülle, “soweit es ohne weiteres möglich ist, einen Zugang zur Erschließungsstraße zu schaffen”. Damit knüpft es nicht an die gegenwärtig bestehenden, den übrigen Grundstückseigentümern ohne weiteres erkennbaren Verhältnisse an, sondern nur an die erst aufgrund einer gerichtlichen Beweisaufnahme festgestellte Möglichkeit, diese in Zukunft zu ändern. Mit der weiteren Begründung, dass auch das Anlegen einer Zufahrt jedenfalls “nicht auf Dauer ausgeschlossen” sei und “durchaus von dem Eigentümer in Betracht gezogen” werden könne, sind keine tatsächlichen Umstände dargetan, sondern es wird lediglich eine Mutmaßung geäußert. Das schließlich vom Berufungsgericht als “ausschlaggebend” angeführte Argument, dass für das Grundstück wegen der bestehenden Zufahrt von der Hauptstraße “der mit Blick auf den Gewerbebetrieb geforderte Anliegergebrauch schon jetzt gewährleistet” sei, ist keine schlüssige Begründung für ein schutzwürdiges Vertrauen der anderen Anlieger darauf, dass das Grundstück in die Verteilung des beitragsfähigen Erschließungsaufwands für eine andere Straße, nämlich für die Straße Hinter der Kirche, einbezogen werde. Zudem steht diese Erwägung im Widerspruch zu dem vom Berufungsgericht eingangs zutreffend angeführten Grundsatz des Erschließungsbeitragsrechts, dass eine vorhandene Ersterschließung bei der Beurteilung der hier in Rede stehenden weiteren Erschließungsanlage hinwegzudenken ist.
2. Das angegriffene Urteil erweist sich jedoch im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO).
a) Im Rahmen dieser Prüfung hat der Senat aufgrund der sog. Gegenrüge der Beklagten zu den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts von dem von den Beteiligten im Revisionsverfahren unstreitig gestellten Sachverhalt auszugehen.
Das Institut der Gegenrüge ermöglicht es einem Revisionsbeklagten, der aufgrund seines Obsiegens in der Vorinstanz dazu bislang keinen Anlass und keine Möglichkeit hatte, Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz anzugreifen, um zu verhindern, dass die Revisionsinstanz bei einer für ihn ungünstigen rechtlichen Beurteilung des Streitfalls auf der Grundlage der von der Vorinstanz getroffenen, aus seiner Sicht aber unzutreffenden Tatsachenfeststellungen eine ihm nachteilige Revisionsentscheidung trifft. Mit diesem Inhalt ist die Gegenrüge, die unbefristet bis zum Schluss der Revisionsinstanz erhoben werden kann, allgemein anerkannt (vgl. Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 16. März 1976 – GmS-OGB 1/75 – BVerwGE 50, 369 ≪375≫ m.w.N.; BVerwG, Urteile vom 15. Dezember 1983 – BVerwG 5 C 26.83 – BVerwGE 68, 290 ≪296≫ und vom 23. März 1999 – BVerwG 1 C 12.97 – Buchholz 402.44 VersG Nr. 12 S. 1 ≪5≫; Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 137 Rn. 240 m.w.N.).
Hier hat die Beklagte geltend gemacht, dass entgegen der Feststellung im Tatbestand des angegriffenen Urteils die Rückwand des Hallen- und Bürogebäudes sich nicht über die gesamte rückwärtige Grundstücksgrenze erstreckt, sondern dass sich entlang der nordwestlichen Grundstücksgrenze ein unbebauter Grundstücksstreifen befindet, der nur durch eine Mauer von der Erschließungsstraße getrennt ist. Die Existenz dieses Geländestreifens war im Übrigen schon aus den im Berufungsurteil in Bezug genommenen Gerichts- und Beiakten ersichtlich, so dass es sich auch um aktenwidrige Feststellungen handelt. Die Klägerin hat die Richtigkeit der Angaben der Beklagten mit der Maßgabe bestätigt, dass dieser Grundstücksstreifen unter Berücksichtigung der Grenzmauer zum nordwestlichen Nachbargrundstück eine maximale Breite von 3,57 Meter habe und sich in Richtung des Wohnhauses noch zusätzlich verjünge. Darüber hinaus haben die Beteiligten im Revisionsverfahren unstreitig gestellt, dass die Erschließungsstraße ca. 0,75 Meter tiefer liegt als der Boden des Hallen- und Bürogebäudes. Diesen Sachverhalt hat der Senat im Rahmen seiner Entscheidung nach § 144 Abs. 4 VwGO zugrunde zu legen.
b) Auf dieser Tatsachengrundlage hängt die Frage des Erschlossenseins des Grundstücks der Klägerin in erster Linie davon ab, welche Anforderungen an die Form seiner Erreichbarkeit zu stellen sind. Dies wird wesentlich vom Bebauungsrecht bestimmt. Danach werden Grundstücke in Wohngebieten in der Regel durch eine Anbaustraße erschlossen, wenn sie die Möglichkeit eröffnet, mit Personen- und Versorgungsfahrzeugen an das Grundstück heranzufahren und es von dort aus zu betreten (vgl. Urteil vom 3. November 1987 – BVerwG 8 C 77.86 – BVerwGE 78, 237 ≪240≫; stRspr). Für Grundstücke in Gewerbegebieten ist in der Regel für das Erschlossensein ein Herauffahrenkönnen erforderlich (vgl. Urteil vom 1. März 1991 – BVerwG 8 C 59.89 – BVerwGE 88, 70 ≪76≫; stRspr). Für ein Mischgebiet hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass die Lage eines Grundstücks in einem solchen Gebiet keinen Rechtsanspruch darauf begründet, auf diesem Grundstück jede gemäß § 6 Abs. 2 BauNVO in dieser Gebietsart zulässige Nutzung auszuüben (vgl. Urteil vom 1. März 1991 a.a.O.). Danach handelt es sich bei der Ausweisung als Mischgebiet lediglich um eine bebauungsrechtlich relevante Festsetzung. Führen weitere Festsetzungen dazu, dass auf diesem Grundstück im Mischgebiet nur eine bestimmte Nutzung verwirklicht werden darf, ist dieses Grundstück erschlossen durch die Straße, die ihm diese Art der baulichen Nutzbarkeit vermittelt (vgl. Urteil vom 1. März 1991 a.a.O.).
Sind – wie hier – keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass nach dem einschlägigen Bebauungsplan für eine gerade durch die Straße Hinter der Kirche vermittelte Bebaubarkeit des Grundstücks der Klägerin ausnahmsweise eine Erreichbarkeit in Form des Herauffahrenkönnens erforderlich sein soll, muss angenommen werden, für das bebauungsrechtliche ebenso wie für das erschließungsbeitragsrechtliche Erschlossensein dieses Grundstücks reiche der Regel entsprechend aus, wenn es über die Straße Hinter der Kirche mit Personen- und Versorgungsfahrzeugen erreichbar ist (vgl. Urteil vom 1. März 1991 a.a.O. S. 76 f.). Gerechtfertigt ist dies durch den für die Beurteilung des Erschlossenseins i.S.d. § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB maßgeblichen Erschließungsvorteil, den die Erschließungsanlage dem Grundstück zu vermitteln vermag.
Der Erschließungsvorteil besteht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem, was die Erschließung für die bauliche oder gewerbliche Nutzbarkeit (Nutzung) des Grundstücks hergibt. Mit anderen Worten: Die Erschließung ist Voraussetzung für die nach dem Bebauungsrecht (§§ 30 ff. BauGB) zulässige Ausnutzbarkeit der Grundstücke. Indem die Gemeinde durch die Herstellung von Erschließungsanlagen und die Möglichkeit ihrer Inanspruchnahme die Voraussetzungen für die bebauungsrechtliche Ausnutzbarkeit der Grundstücke schafft, vermittelt sie den Eigentümern der Anliegergrundstücke (Erschließungs-)Vorteile, zu deren Ausgleich sie Erschließungsbeiträge zu erheben verpflichtet ist. Erschließung in diesem Sinne ist nicht gleichbedeutend mit Zugänglichkeit, sondern besteht darüber hinaus darin, einem Grundstück die Erreichbarkeit der Erschließungsanlage in einer auf die bauliche oder gewerbliche Nutzbarkeit des Grundstücks gerichteten Funktion zu vermitteln (vgl. Urteil vom 1. September 2004 – BVerwG 9 C 15.03 – BVerwGE 121, 365 ≪366 f.≫; Beschluss vom 26. April 2006– BVerwG 9 B 1.06 –NVwZ 2006, 935, jeweils m.w.N.). Der Erschließungsvorteil liegt mithin darin, dass das Grundstück gerade mit Blick auf die abzurechnende Erschließungsanlage– im Falle einer Zweiterschließung unter Hinwegdenken der Ersterschließung – bebaubar wird, also eine Baugenehmigung nicht mehr unter Hinweis auf die fehlende verkehrliche Erschließung abgelehnt werden darf.
Danach verlangt der ein Erschlossensein begründende Erschließungsvorteil bei einem Mischgebietsgrundstück – vorbehaltlich besonderer Festsetzungen in einem Bebauungsplan – nicht, dass die Erschließungsanlage dem Grundstück eine Bebaubarkeit für alle nach § 6 Abs. 2 BauNVO zulässigen Nutzungsarten ermöglicht (vgl. Urteil vom 1. März 1991 a.a.O.). Deshalb ist auch für die Frage des Erschlossenseins nicht auf diejenige rechtlich zulässige Nutzungsart abzustellen, die die höchsten Anforderungen an das Erschlossensein stellt (also ein Herauffahrenkönnen für eine gewerbliche Nutzung). Der Erschließungsvorteil, den das Grundstück durch die Erschließungsanlage erfährt, besteht vielmehr darin, dass es überhaupt bebaubar wird, dass auf ihm also irgendeine der nach § 6 Abs. 2 BauNVO rechtlich zulässigen baulichen Nutzungen mit Blick auf diese Erschließungsanlage (“ihretwegen”) nunmehr genehmigt werden müsste. Abzustellen ist auf einen “vernünftigen” Grundstückseigentümer, dem sich die Möglichkeit eröffnet, durch die Erreichbarkeit seines Grundstücks von der Erschließungsanlage aus dieses erstmals bebaubar zu machen. Unerheblich ist, welche Nutzungsart auf dem Grundstück tatsächlich bereits verwirklicht ist; denn für die Frage des Erschlossenseins ist eine normative Betrachtung geboten, die auf die abstrakte Bebaubarkeit abstellt.
Übertragen auf den Streitfall bedeutet dies: Dass das klägerische Grundstück seit langer Zeit auch gewerblich genutzt wird, führt nicht dazu, dass deshalb die erhöhten Anforderungen gelten, die regelmäßig an das Erschlossensein von Grundstücken in Gewerbegebieten zu stellen sind. Die Erwägungen, die das Berufungsgericht anknüpfend an die Rechtsfigur des Anliegergebrauchs hierzu anstellt, gehen fehl. Abgesehen davon, dass der Anliegergebrauch keine aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ableitbare Rechtsposition vermittelt, sondern sich seine Reichweite nach dem einfachgesetzlichen Straßenrecht richtet (vgl. Beschluss vom 11. Mai 1999 – BVerwG 4 VR 7.99 – Buchholz 407.4 § 8a FStrG Nr. 11 S. 1 ff.), kann ihnen schon deshalb nicht gefolgt werden, weil sie auf die konkret verwirklichte bauliche Nutzung abstellen. Für die Frage des Erschlossenseins i.S.v. § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist jedoch auf die abstrakte Bebaubarkeit des Grundstücks abzustellen, d.h. es ist danach zu fragen, welche bauliche Nutzung auf dem (hypothetisch bislang nicht bebaubaren) Grundstück durch die Erschließungsanlage abstrakt möglich wird. Das klägerische Grundstück wird aber schon dadurch (überhaupt) bebaubar, nämlich für eine Wohnbebauung (§ 6 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO), wenn es über die Straße Hinter der Kirche mit Personen- und Versorgungsfahrzeugen erreicht und von dort aus betreten werden kann. Darin liegt der Vorteil, den die Erschließungsanlage für die bauliche Nutzbarkeit des Grundstücks “hergibt”.
c) Ist demnach für die Annahme des Erschlossenseins des klägerischen Grundstücks lediglich die Möglichkeit eines Zugangs von der Erschließungsstraße zu diesem Grundstück erforderlich, steht dem auch nicht entgegen, dass ein solcher Zugang derzeit wegen eines tatsächlichen Hindernisses nicht gegeben ist. Denn im Bereich des erwähnten unbebauten Geländestreifens sind das Grundstück der Klägerin und die Erschließungsanlage Hinter der Kirche nur durch eine Mauer getrennt. Diese ist von vornherein ein unbeachtliches Hindernis, weil ein Eigentümer sein Grundstück nicht durch ein solches selbst errichtetes Hindernis “verschließen” kann (vgl. Urteil vom 15. Januar 1988 – BVerwG 8 C 111.86 – BVerwGE 79, 1 ≪7 f.≫). Der außerdem bestehende Höhenunterschied von 0,75 Metern ist schon deshalb unerheblich, weil er nach dem übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten lediglich zwischen der Erschließungsanlage und dem Fußboden des Hallen- und Bürogebäudes besteht. Selbst wenn er, wofür nichts vorgetragen ist, sich auch auf den Bereich des Geländestreifens neben diesem Gebäude erstrecken sollte, wäre es ein Hindernis, das von einem “vernünftigen” Eigentümer ausgeräumt würde, um dadurch die Bebaubarkeit seines Grundstücks zu erreichen (vgl. Urteile vom 17. Juni 1994 – BVerwG 8 C 22.92 – Buchholz 406.11 § 131 BauGB Nr. 92 S. 9 ≪13≫ und vom 25. Oktober 1996 – BVerwG 8 C 21.95 – Buchholz 406.11 § 131 BauGB Nr. 104 S. 78 ≪81≫). Das wäre auch mit zumutbarem finanziellen Aufwand möglich, wie sich aus den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen zu den Kosten eines (aufwändigeren) Treppenzugangs in das Gebäude ergibt.
3. Der Beitragspflicht des Grundstücks der Klägerin steht auch nicht – wie von ihr im Revisionsverfahren eingewandt – § 133 Abs. 1 Satz 1 BauGB entgegen.
Nach dieser Vorschrift unterliegen Grundstücke, für die eine bauliche oder gewerbliche Nutzung festgesetzt ist, der Beitragspflicht erst, sobald sie bebaut oder gewerblich genutzt werden dürfen. Anders als § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB, der nichterschlossene Grundstücke aus dem Kreis der in die Verteilung des beitragsfähigen Aufwands einzubeziehenden Grundstücke ausscheidet, also die Verteilungsphase betrifft, meint § 133 Abs. 1 BauGB das Erschlossensein in der Heranziehungsphase. Zwar ist grundsätzlich von einer Deckungsgleichheit des Erschlossenseins im Sinne beider Vorschriften auszugehen (vgl. Löhr, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 9. Aufl. 2005, § 131 Rn. 5). Doch kann sich in bestimmten Konstellationen aus § 133 Abs. 1 BauGB ein zeitliches “Fälligkeits”-Hindernis ergeben, das vorübergehend eine Beitragserhebung für ein nach § 131 Abs. 1 BauGB erschlossenes Grundstück ausschließt (vgl. Driehaus, a.a.O. § 17 Rn. 25). Dies ist dann der Fall, wenn das fragliche Grundstück nach Maßgabe der bauplanungs- und bauordnungsrechtlichen Bestimmungen zwar abstrakt bebaubar ist, eine Benutzung der Erschließungsanlage jedoch noch durch ausräumbare rechtliche oder tatsächliche Hindernisse ausgeschlossen ist (vgl. Urteil vom 26. September 1983 a.a.O. S. 46 f.). Solange ein solches Hindernis nicht ausgeräumt ist, fehlt es am Erschlossensein i.S.v. § 133 Abs. 1 BauGB mit der Folge, dass das betreffende Grundstück noch nicht der Beitragspflicht unterliegt. Mit anderen Worten: Erschlossen i.S.v. § 133 Abs. 1 BauGB ist ein Grundstück in der Regel erst, wenn ein entgegenstehendes rechtliches oder tatsächliches Hindernis nicht nur – wie für § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB ausreichend – ausräumbar, sondern ausgeräumt ist (vgl. Urteile vom 7. Oktober 1977 – BVerwG 4 C 103.74 – Buchholz 406.11 § 131 BBauG Nr. 25 S. 35 ≪39 f.≫, vom 26. September 1983 a.a.O. S. 46 f. und vom 21. Oktober 1988 – BVerwG 8 C 56.87 – NVwZ 1989, 570 ≪571≫).
In der Rechtsprechung ist jedoch geklärt, dass das Erschlossensein eines Grundstücks sowohl i.S.d. § 131 Abs. 1 als auch des § 133 Abs. 1 BauGB nicht davon abhängt, ob ein ausräumbares Hindernis der erforderlichen Erreichbarkeit, dessen Beseitigung allein in der Verfügungsmacht des jeweiligen Grundeigentümers steht, von diesem bereits beseitigt worden ist. Insbesondere ist erschließungsbeitragsrechtlich ohne Belang, ob ein Eigentümer sein Grundstück durch eine Mauer gegen eine bestimmte Anbaustraße gleichsam verschließt. Denn es kann nicht im Belieben des Anliegers stehen, auf diese Weise darüber zu entscheiden, ob sein Grundstück an der Verteilung des beitragsfähigen Erschließungsaufwands für diese Straße teilnimmt und in der weiteren Folge der sachlichen Erschließungsbeitragspflicht unterliegt (vgl. Urteil vom 29. Mai 1991 – BVerwG 8 C 67.89 – BVerwGE 88, 248 ≪252 f.≫).
Hiervon ausgehend steht im Streitfall § 133 Abs. 1 BauGB einer Beitragspflicht schon deshalb nicht entgegen, weil das hier in Rede stehende Hindernis rechtlich nicht beachtlich ist. Denn die Mauer, die den unbebauten Grundstücksstreifen von der Erschließungsanlage trennt, ist ein auf dem Anliegergrundstück liegendes Hindernis, dessen Beseitigung allein in der Verfügungsmacht des Grundeigentümers liegt und deshalb nicht dazu führt, dass das Grundstück (dauerhaft oder zeitweilig) aus der Verteilung des umlagefähigen Aufwands heraus fällt. Für den durch eine Treppe zu überwindenden Höhenunterschied würde, sein Vorliegen im Bereich dieses Grundstücksstreifens unterstellt, dasselbe gelten.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Dr. Storost, Vallendar, Prof. Dr. Rubel, Domgörgen, Buchberger
Fundstellen
Haufe-Index 1641483 |
BVerwGE 2007, 378 |
ZMR 2007, 227 |
ZfIR 2007, 140 |
DÖV 2007, 207 |
VBlBW 2007, 141 |
BayVBl. 2007, 183 |
DVBl. 2007, 177 |
GK/BW 2008, 5 |
GK/Bay 2007, 125 |