Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundrecht auf Achtung des Familienlebens. Aufenthaltsrecht eines Staatsangehörigen eines Drittlands, der als Asylwerber in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist und anschließend eine Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats geheiratet hat
Normenkette
EuGH-VerfO Art. 104; EG Art. 18, 39; Richtlinie 2004/38/EG
Beteiligte
Bundesminister für Inneres |
Tenor
1. Die Art. 3 Abs. 1, 6 Abs. 2 sowie 7 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG sind so auszulegen, dass sie auch die Familienangehörigen erfassen, die unabhängig vom Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat gelangt sind und erst dort die Angehörigeneigenschaft erworben oder das Familienleben mit diesem Unionsbürger begründet haben. Hierbei spielt es keine Rolle, dass sich der Familienangehörige zum Zeitpunkt des Erwerbs dieser Eigenschaft oder der Begründung des Familienlebens nach den asylgesetzlichen Bestimmungen des Aufnahmemitgliedstaats vorläufig in diesem Staat aufhält.
2. Die Art. 9 Abs. 1 und 10 der Richtlinie 2004/38 stehen einer nationalen Regelung entgegen, wonach Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und denen kraft Gemeinschaftsrecht, insbesondere nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie, ein Recht auf Aufenthalt zukommt, allein deshalb keine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers erhalten können, weil sie nach den asylgesetzlichen Bestimmungen des Aufnahmemitgliedstaats vorläufig zum Aufenthalt in diesem Staat berechtigt sind.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 22. November 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Dezember 2007, in dem Verfahren
Deniz Sahin
gegen
Bundesminister für Inneres
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Ó Caoimh sowie der Richter J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) und J. Klučka,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: R. Grass,
gemäß Art. 104 § 3 Abs. 1 der Verfahrensordnung, wonach der Gerichtshof durch mit Gründen versehenen Beschluss entscheiden kann,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, und – Berichtigungen – ABl. 2004, L 229, S. 35, und ABl. 2007, L 204, S. 28, im Folgenden: Richtlinie), der Art. 18 EG und 39 EG sowie des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Sahin, einem türkischen Staatsangehörigen, und dem Bundesminister für Inneres wegen Verweigerung der Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
Rz. 3
Art. 1 der Richtlinie sieht vor:
„Diese Richtlinie regelt
- die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen;
- das Recht auf Daueraufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten;
- die Beschränkungen der in den Buchstaben a) und b) genannten Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit.”
Rz. 4
Art. 2 der Richtlinie bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
- ‚Unionsbürger’ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;
‚Familienangehöriger’
- den Ehegatten;
- den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind;
- die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
- die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne ...