Entscheidungsstichwort (Thema)
Geistiges, gewerbliches und kommerzielles Eigentum. Muster und Modelle. Vorlage zur Vorabentscheidung. Geistiges Eigentum. Gemeinschaftsgeschmacksmuster. Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses, die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind. Beurteilungskriterien. Bestehen alternativer Geschmacksmuster. Inhaber, der auch über eine Vielzahl alternativer geschützter Geschmacksmuster verfügt. Mehrfarbigkeit eines Erzeugnisses, die nicht aus der Eintragung des betreffenden Geschmacksmusters ersichtlich ist
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 6/2002 Art. 8 Abs. 1
Beteiligte
Papierfabriek Doetinchem BV |
Sprick GmbH Bielefelder Papier- und Wellpappenwerk & Co. |
Tenor
1.Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster
ist dahin auszulegen, dass
die Frage, ob die Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt im Sinne dieser Bestimmung sind, im Hinblick auf alle objektiven maßgeblichen Umstände des Einzelfalls, insbesondere diejenigen, die die Wahl dieser Merkmale leiten, das Bestehen alternativer Geschmacksmuster, durch die sich diese technische Funktion erfüllen lässt, und den Umstand, dass der Inhaber des betreffenden Geschmacksmusters auch Inhaber einer Vielzahl alternativer Geschmacksmuster ist, zu beurteilen ist, doch ist der zuletzt genannte Umstand für die Anwendung dieser Bestimmung nicht entscheidend.
2.Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002
ist dahin auszulegen, dass
bei der Prüfung der Frage, ob die Erscheinungsform eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt ist, der Umstand, dass die Gestaltung dieses Erzeugnisses eine Mehrfarbigkeit zulässt, nicht zu berücksichtigen ist, wenn die Mehrfarbigkeit nicht aus der Eintragung des betreffenden Geschmacksmusters ersichtlich ist.
Tatbestand
In der Rechtssache C-684/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Düsseldorf (Deutschland) mit Entscheidung vom 4. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 12. November 2021, in dem Verfahren
Papierfabriek Doetinchem BV
gegen
Sprick GmbH Bielefelder Papier- und Wellpappenwerk & Co.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters M. Ilešič in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zehnten Kammer sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter) und Z. Csehi,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Papierfabriek Doetinchem BV, vertreten durch Rechtsanwältin C. Böhmer und Rechtsanwalt C. Menebröcker,
- – der Sprick GmbH Bielefelder Papier- und Wellpappenwerk & Co., vertreten durch Rechtsanwältin S. Rojahn,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Němečková, J. Samnadda und T. Scharf als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 1 und von Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Papierfabriek Doetinchem BV und der Sprick GmbH Bielefelder Papier- und Wellpappenwerk & Co. (im Folgenden: Sprick); dieser Rechtsstreit betrifft eine Verletzungsklage wegen einer angeblichen Verletzung von Rechten aus einem Gemeinschaftsgeschmacksmuster, dessen Inhaber Sprick ist.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Der zehnte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 6/2002 lautet:
„Technologische Innovationen dürfen nicht dadurch behindert werden, dass ausschließlich technisch bedingten Merkmalen Geschmacksmusterschutz gewährt wird. Das heißt nicht, dass ein Geschmacksmuster unbedingt einen ästhetischen Gehalt aufweisen muss. Ebenso wenig darf die Interoperabilität von Erzeugnissen unterschiedlichen Fabrikats dadurch behindert werden, dass sich der Schutz auf das Design mechanischer Verbindungselemente erstreckt. Dementsprechend dürfen Merkmale eines Geschmacksmusters, die aus diesen Gründen vom Schutz ausgenommen sind, bei der Beurteilung, ob andere Merkmale des Geschmacksmusters die Schutzvoraussetzungen erfüllen, nicht herangezogen werden.“
Rz. 4
Art. 3 („Begriffe“) der Verordnung Nr. 6/2002 bestimmt:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet:
a) ‚Geschmacksmuster‘ die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt;
b) ‚Erzeugnis‘ jeden industriellen oder handwerklichen Gegenstand, einschließlich – unter anderem – der Einzelteile, die zu einem komplexen Erzeugnis zusammengebaut werden sollen, Verpa...