Entscheidungsstichwort (Thema)
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats. Art. 6 Abs. 1. Begriff ‚Arbeitnehmer’. Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung. Voraussetzung für den Verlust erworbener Rechte
Beteiligte
Tenor
1. Eine Person, die sich in einer Situation wie derjenigen der Klägerin des Ausgangsverfahrens befindet, ist Arbeitnehmer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, wenn es sich bei der fraglichen unselbständigen Tätigkeit um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die tatsächlichen Prüfungen vorzunehmen, deren es zur Beurteilung der Frage bedarf, ob dies in der bei ihm anhängigen Rechtssache der Fall ist.
2. Ein türkischer Arbeitnehmer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 kann sich auch dann auf das ihm nach dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei zustehende Freizügigkeitsrecht berufen, wenn der Aufenthaltszweck der Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat entfallen ist. Erfüllt ein solcher Arbeitnehmer die in Art. 6 Abs. 1 aufgestellten Voraussetzungen, darf sein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nicht zusätzlichen Bedingungen hinsichtlich des Bestehens von den Aufenthalt rechtfertigenden Belangen oder der Art der Beschäftigung unterworfen werden.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland) mit Entscheidung vom 10. Dezember 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Januar 2009, in dem Verfahren
Hava Genc
gegen
Land Berlin
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), der Richterin P. Lindh sowie der Richter A. Rosas, A. Ó Caoimh und A. Arabadjiev,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: R. Grass,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
- der dänischen Regierung, vertreten durch J. Liisberg und R. Holdgaard als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Kreuschitz und G. Rozet als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation EWG-Türkei (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (im Folgenden: Assoziierungsabkommen) errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Genc, einer türkischen Staatsangehörigen, und dem Land Berlin wegen der Versagung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:
„Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
- nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
- nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
- nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.”
Rz. 4
Art. 7 des Beschlusses bestimmt:
„Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,
- haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens dr...