Entscheidungsstichwort (Thema)
Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Richtlinie 2004/38/EG. Art. 27. Verwaltungsmaßnahme eines Ausreiseverbots wegen Nichtbegleichung einer Schuld gegenüber einer juristischen Person des Privatrechts. Grundsatz der Rechtssicherheit hinsichtlich bestandskräftig gewordener Verwaltungsakte. Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität
Beteiligte
Glaven sekretar na Ministerstvo na vatreshnite raboti |
Tenor
1. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es der Anwendung einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die die Auferlegung einer Beschränkung des Rechts eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich in der Europäischen Union frei zu bewegen, allein aus dem Grund vorsieht, dass er einer juristischen Person des Privatrechts einen Betrag schuldet, der über eine gesetzlich festgelegte Grenze hinausgeht und für den keine Sicherheit geleistet worden ist.
2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein Verwaltungsverfahren, das zum Erlass eines Ausreiseverbots wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen geführt hat, das bestandskräftig geworden ist und nicht vor Gericht angefochten worden ist, im Fall eines offensichtlichen Verstoßes dieses Verbots gegen das Unionsrecht nur unter Voraussetzungen wie den in Art. 99 des Administrativnoprotsesualen kodeks (Verwaltungsverfahrensordnung) abschließend aufgeführten wieder aufgenommen werden kann, ungeachtet der Tatsache, dass ein solches Verbot gegenüber seinem Adressaten weiterhin Rechtswirkungen erzeugt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 9. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Mai 2011, in dem Verfahren
Hristo Byankov
gegen
Glaven sekretar na Ministerstvo na vatreshnite raboti
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter U. Lõhmus, A. Ó Caoimh (Berichterstatter), A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Tufvesson und V. Savov als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Juni 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit den Art. 20 AEUV und 21 AEUV, von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und von Art. 27 Abs. 1 sowie Art. 31 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, Berichtigung in ABl. L 229, S. 35).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Byankov und dem Glaven sekretar na Ministerstvo na vatreshnite raboti (Hauptsekretär des Innenministeriums) wegen der Weigerung, ein Verwaltungsverfahren wiederaufzunehmen und die gegen Herrn Byankov erlassene Verwaltungsmaßnahme eines Ausreiseverbots wegen Nichtbegleichung einer privaten Verbindlichkeit aufzuheben.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Im 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 heißt es, dass diese Richtlinie mit den Grundrechten und -freiheiten und den Grundsätzen, die mit der Charta anerkannt wurden, in Einklang steht.
Rz. 4
Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 gilt die Richtlinie 2004/38 für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.
Rz. 5
Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, … das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.”
Rz. 6
Art. 27 Abs. 1 und 2 in Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit”) dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gr...