Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Verbraucherschutz. Haftung für fehlerhafte Produkte. Herzschrittmacher und implantierbarer Cardioverter Defibrillator. Ausfallrisiko des Produkts. Körperverletzung. Explantation des Produkts, das fehlerhaft sein soll, und Implantation eines anderen Produkts. Erstattung der Operationskosten
Normenkette
Richtlinie 85/374/EWG Art. 1, 6 Abs. 1; Richtlinie 85/374/EWG Abs. 9 S. 1 Buchst. a
Beteiligte
Boston Scientific Medizintechnik |
Boston Scientific Medizintechnik GmbH |
AOK Sachsen-Anhalt – Die Gesundheitskasse |
Tenor
1. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte ist dahin auszulegen, dass ein Produkt, das zu einer Gruppe oder Produktionsserie von Produkten wie Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren gehört, bei denen ein potenzieller Fehler festgestellt wurde, als fehlerhaft eingestuft werden kann, ohne dass der Fehler bei diesem Produkt festgestellt zu werden braucht.
2. Die Art. 1 und 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 sind dahin auszulegen, dass es sich bei dem durch eine chirurgische Operation zum Austausch eines fehlerhaften Produkts wie eines Herzschrittmachers oder eines implantierbaren Cardioverten Defibrillators verursachten Schaden um einen „durch Tod und Körperverletzungen verursachten Schaden” handelt, für den der Hersteller haftet, wenn diese Operation erforderlich ist, um den Fehler des betreffenden Produkts zu beseitigen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzung in den Ausgangsverfahren erfüllt ist.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidungen vom 30. Juli 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 19. September 2013, in den Verfahren
Boston Scientific Medizintechnik GmbH
gegen
AOK Sachsen-Anhalt – Die Gesundheitskasse (C-503/13),
Betriebskrankenkasse RWE (C-504/13)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský und M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richterin A. Prechal,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. September 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Boston Scientific Medizintechnik GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt C. Wagner,
- der AOK Sachsen-Anhalt – Die Gesundheitskasse, vertreten durch die Rechtsanwälte R. Schultze-Zeu und H. Rien,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und S. Menez als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Mihaylova und G. Wilms als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Oktober 2014
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 1, 6 Abs. 1 und 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (ABl. L 210, S. 29).
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Verfahren, in denen sich die Boston Scientific Medizintechnik GmbH (im Folgenden: Boston Scientific Medizintechnik) als Revisionsklägerin und die AOK Sachsen-Anhalt – Die Gesundheitskasse (C-503/13) (im Folgenden: AOK) sowie die Betriebskrankenkasse RWE (C-504/13), die Trägerinnen der gesetzlichen Krankenversicherung sind, als Revisionsbeklagte gegenüberstehen und in denen es um Forderungen der Revisionsbeklagten auf Ersatz der Kosten im Zusammenhang mit der Implantation von Herzschrittmachern und eines implantierbaren Cardioverten Defibrillators geht, die von der G. GmbH (im Folgenden: G.), einer später mit Boston Scientific Medizintechnik verschmolzenen Gesellschaft, in die Europäische Union eingeführt und dort vertrieben wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 1, 2, 6, 7 und 9 der Richtlinie 85/374 heißt es:
„Eine Angleichung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über die Haftung des Herstellers für Schäden, die durch die Fehlerhaftigkeit seiner Produkte verursacht worden sind, ist erforderlich, weil deren Unterschiedlichkeit … zu einem unterschiedlichen Schutz des Verbrauchers vor Schädigungen seiner Gesundheit und seines Eigentums durch ein fehlerhaftes Produkt führen kann.
Nur bei einer verschuldensunabhängigen Haftung des Herstellers kann das unserem Zeitalter fortschreitender Technisierung eigene Problem einer gerechten Zuweisung der mit der modernen technischen Produktion verbundenen Risiken in sachgerechter Weise gelöst werde...