Entscheidungsstichwort (Thema)
Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Unbegleiteter Minderjähriger. Nacheinander in zwei Mitgliedstaaten gestellte Asylanträge. Kein im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats anwesender Familienangehöriger. Überstellung des Minderjährigen in den Mitgliedstaat, in dem er seinen ersten Antrag gestellt hat. Vereinbarkeit. Wohl des Kindes
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 343/2003 Art. 6 Abs. 2; Charta Art. 24 Abs. 2
Beteiligte
Secretary of State for the Home Department |
Tenor
Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen ein unbegleiteter Minderjähriger, der keinen sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhaltenden Familienangehörigen hat, in mehr als einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat, denjenigen Mitgliedstaat als „zuständigen Mitgliedstaat” bestimmt, in dem sich dieser Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabenscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 14. Dezember 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Dezember 2011, in dem Verfahren
The Queen, auf Antrag von:
MA,
BT,
DA
gegen
Secretary of State for the Home Department,
Beteiligte:
The AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (UK),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer sowie der Richter U. Lõhmus, M. Safjan und der Richterin A. Prechal,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. November 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von MA und BT, vertreten durch S. Knafler, QC, K. Cronin, Barrister, und L. Barratt, Solicitor,
- von DA, vertreten durch S. Knafler, QC, B. Poynor, Barrister, und D. Sheahan, Solicitor,
- von The AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (UK), vertreten durch D. Das, Solicitor, R. Hussain, QC, und C. Meredith, Barrister,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Murrell als Bevollmächtigte, im Beistand von S. Lee, Barrister,
- der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne als Bevollmächtigter,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der hellenischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels, M. Noort und C. Schillemans als Bevollmächtigte,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk als Bevollmächtigte,
- der schweizerischen Regierung, vertreten durch O. Kjelsen als Bevollmächtigter,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Februar 2013
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MA, BT und DA, drei minderjährigen Drittstaatsangehörigen, und dem Secretary of State for the Home Department (im Folgenden: Secretary of State) wegen dessen Entscheidung, ihre im Vereinigten Königreich eingereichten Asylanträge nicht zu prüfen und ihre Überstellung in den Mitgliedstaat anzuregen, in dem sie zuerst einen Asylantrag gestellt hatten.
Rechtlicher Rahmen
Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Rz. 3
Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der sich, wie aus den Erläuterungen zu dieser Bestimmung hervorgeht, auf das am 20. November 1989 in New York geschlossene und von allen Mitgliedstaaten ratifizierte Übereinkommen über die Rechte des Kindes stützt, bestimmt in seinem Abs. 2:
„Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.”
Verordnung Nr. 343/2003
Rz. 4
In den Erwägungsgründen 3 und 4 der Verordnung Nr. 343/2003 heißt es:
„(3) Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere...