Entscheidungsstichwort (Thema)
Unionsbürgerschaft. Art. 20 AEUV. Richtlinie 2003/86/EG. Recht auf Familienzusammenführung. Minderjährige Unionsbürger, die sich mit ihren Müttern, die Drittstaatsangehörige sind, in dem Mitgliedstaat aufhalten, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Daueraufenthaltsrecht der Mütter, denen das ausschließliche Sorgerecht für die Unionsbürger übertragen wurde, in diesem Mitgliedstaat. Neue Zusammensetzung der Familien nach einer erneuten Eheschließung der Mütter mit Drittstaatsangehörigen und der Geburt von Kindern, die aus diesen Ehen hervorgegangen und ebenfalls Drittstaatsangehörige sind. Antrag auf Familienzusammenführung im Herkunftsmitgliedstaat der Unionsbürger. Verweigerung des Aufenthaltsrechts der neuen Ehegatten mangels ausreichender Einkünfte. Recht auf Achtung des Familienlebens. Berücksichtigung des Kindeswohls
Beteiligte
Tenor
Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen die Erteilung eines auf der Grundlage der Familienzusammenführung beantragten Aufenthaltstitels zu verweigern, wenn dieser Drittstaatsangehörige beabsichtigt, mit seiner Ehegattin, die ebenfalls Drittstaatsangehörige ist, sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält und Mutter eines Kindes aus einer ersten Ehe ist, das die Unionsbürgerschaft besitzt, und dem aus der Ehe des Drittstaatsangehörigen und seiner Ehegattin hervorgegangenen Kind, das ebenfalls Drittstaatsangehöriger ist, zusammenzuleben, sofern eine solche Verweigerung nicht dazu führt, dass dem betroffenen Unionsbürger verwehrt wird, den Kernbestand der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
Auf der Grundlage der Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden fallen unter die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten zwar befugt sind, den Nachweis zu verlangen, dass der Zusammenführende über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um den Lebensunterhalt für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, diese Befugnis aber im Licht der Art. 7 und 24 Abs. 2 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgeübt werden muss, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohls der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, auch das Familienleben zu fördern, prüfen müssen und das Ziel dieser Richtlinie und deren praktische Wirksamkeit nicht beeinträchtigen dürfen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidungen, mit denen die Erteilung von Aufenthaltstiteln abgelehnt wurde, unter Beachtung dieser Anforderungen erlassen wurden.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Finnland) mit Entscheidungen vom 5. Juli 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juli 2011, in den Verfahren
O.,
S.
gegen
Maahanmuuttovirasto (C-356/11)
und
Maahanmuuttovirasto
gegen
L. (C-357/11)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Richters A. Rosas in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Zweiten Kammer sowie der Richter U. Lõhmus, A. Ó Caoimh (Berichterstatter), A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. September 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau L., vertreten durch J. Streng, asianajaja,
- der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski als Bevollmächtigten,
- der dänischen Regierung, vertreten durch V. Pasternak Jørgensen und C. Vang als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und A. Wiedmann als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und B. Koopman als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani und E. Paasivirta als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. September 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 20 AEUV.
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zum einen zwischen Herrn O. und Frau S., die beide Drittstaatsangehörige sind, und der Maahanmuuttovirasto (Einwanderungsbehörde) (Rechtssache C-356/11) und zum anderen zwischen der Maahanmuuttovirasto und Frau L., die ebenfalls Drittstaatsangehörige ist (Rechtssache C-357/11), ...