Entscheidungsstichwort (Thema)
Freier Personenverkehr. Unionsbürgerschaft. Aufenthaltsrecht. Richtlinie 90/364/EWG. Beschränkungen und Bedingungen. Person, die in einem Wohnheim gegen Naturalleistungen arbeitet. Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe
Beteiligte
Centre public d'aide sociale de Bruxelles (CPAS) |
Tenor
1. Eine Person, die sich in einer Situation wie der des Klägers des Ausgangsverfahrens befindet, fällt zum einen nicht unter die Artikel 43 EG und 49 EG und kann zum anderen nur dann ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 39 EG beanspruchen, wenn es sich bei der von ihr ausgeübten unselbständigen Tätigkeit um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die tatsächlichen Prüfungen vorzunehmen, deren es zur Beurteilung der Frage bedarf, ob dies in der bei ihm anhängigen Rechtssache der Fall ist.
2. Einem Bürger der Europäischen Union, der im Aufnahmemitgliedstaat nicht kraft Artikel 39 EG, 43 EG oder 49 EG ein Aufenthaltsrecht besitzt, kann dort bereits aufgrund seiner Unionsbürgerschaft in unmittelbarer Anwendung von Artikel 18 Absatz 1 EG ein Aufenthaltsrecht zustehen. Die Wahrnehmung dieses Rechts unterliegt den in dieser Bestimmung genannten Beschränkungen und Bedingungen, jedoch haben die zuständigen Behörden dafür Sorge zu tragen, dass bei der Anwendung dieser Beschränkungen und Bedingungen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Sobald eine Person, die sich in einer Situation wie der des Klägers befindet, jedoch eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, kann sie unter Berufung auf Artikel 12 EG eine Leistung der Sozialhilfe wie das Minimex beanspruchen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG,
eingereicht vom Tribunal du travail Brüssel (Belgien) mit Entscheidung vom 21. November 2002, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Dezember 2002, in dem Verfahren
Michel Trojani
Centre public d'aide sociale de Bruxelles (CPAS)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, C. Gulmann, J.-P. Puissochet und J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), des Richters R. Schintgen, der Richterinnen F. Macken und N. Colneric sowie der Richter S. von Bahr und K. Lenaerts,
Generalanwalt: L. A. Geelhoed,
Kanzler: M. Múgica Arzamendi, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Januar 2004,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Trojani, vertreten durch P. Leclerc, avocat,
- des Centre public d'aide sociale de Bruxelles (CPAS), vertreten durch M. Legein, avocat,
- der belgischen Regierung, vertreten durch A. Snoecx als Bevollmächtigte im Beistand von C. Doutrelepont, avocat,
- der dänischen Regierung, vertreten durch J. Molde als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch W.-D. Plessing und M. Lumma als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und D. Petrausch als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster und N. Bel als Bevollmächtigte,
- des Vereinigten Königreichs, vertreten durch R. Caudwell als Bevollmächtigte im Beistand von E. Sharpston, QC,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Martin als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Februar 2004,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 18 EG, 39 EG, 43 EG und 49 EG, von Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27. Juli 1992 (ABl. L 245, S. 1) (nachstehend: Verordnung Nr. 1612/68) und der Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht (ABl. L 180, S. 26).
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Trojani (nachstehend: Kläger) und dem Centre public d'aide sociale de Bruxelles (Öffentliches Sozialhilfezentrum Brüssel, nachstehend: CPAS) wegen dessen Weigerung, dem Kläger das Existenzminimum (minimum de moyens d'existence, nachstehend: Minimex) zu gewähren.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3
Artikel 18 EG bestimmt:
„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
…”
4
Artikel 39 Absatz 1 EG lautet:
„Innerhalb der Gemeinschaft ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.”
5
Gemäß Artikel 39 Absatz 3 EG gibt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer „– vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen – den Arbeitnehmern ...