Entscheidungsstichwort (Thema)
Mindestnormen für die Anerkennung und den Status als Flüchtling oder den subsidiären Schutzstatus. Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Sexuelle Ausrichtung. Verfolgungsgrund. Begriff ‚Verfolgungshandlungen’. Begründete Furcht vor Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Handlungen, die so gravierend sind, dass sie eine solche Furcht begründen. Rechtsvorschriften, die homosexuelle Handlungen bestrafen. Individuelle Prüfung der Ereignisse und Umstände
Normenkette
Richtlinie 2004/83/EG Art. 4, 9 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 Buchst. d
Beteiligte
Minister voor Immigratie en Asiel |
Minister voor Immigratie en Asiel |
Tenor
1. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung erlaubt, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind.
2. Art. 9 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 ist dahin auszulegen, dass der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher keine Verfolgungshandlung darstellt. Dagegen ist eine Freiheitsstrafe, mit der homosexuelle Handlungen bedroht sind und die im Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird, als unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar.
3. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/83 ist dahin auszulegen, dass vom Geltungsbereich der Richtlinie nur homosexuelle Handlungen ausgeschlossen sind, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten strafbar sind. Bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft können die zuständigen Behörden von dem Asylbewerber nicht erwarten, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Niederlande) mit Entscheidungen vom 18. April 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 27. April 2012, in den Verfahren
Minister voor Immigratie en Asiel
gegen
X (C-199/12),
Y (C-200/12),
und
Z
gegen
Minister voor Immigratie en Asiel (C-201/12),
Beteiligter:
Hoog Commissariaat van de Verenigde Naties voor de Vluchtelingen (C-199/12 bis C-201/12)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer, der Richter M. Safjan und J. Malenovský sowie der Richterin A. Prechal,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. April 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von X, vertreten durch H. M. Pot und M. C. S. Huijbers, advocaten,
- von Y, vertreten durch J. M. Walls, advocaat,
- von Z, vertreten durch S. Sewnath und P. Brochet, advocaten, im Beistand von K. Monaghan und J. Grierson, Barristers,
- des Hoog Commissariaat van de Verenigde Naties voor de Vluchtelingen, vertreten durch P. Moreau als Bevollmächtigte im Beistand von M.-E. Demetriou, Barrister,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch B. Koopman, C. S. Schillemans, C. Wissels und M. Noort als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, N. Graf Vitzthum und A. Wiedmann als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch G. Papagianni und M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und S. Menez als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Christie als Bevollmächtigten im Beistand von S. Lee, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 11. Juli 2013
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, berichtigt in ABl. 2005, L 204, S. 24, im Folgenden: Richtlinie) in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d dieser Richt...