Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Stillhalteklausel. Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen. Begriff ‚ordnungsgemäßer Aufenthalt’
Normenkette
Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats Art. 13
Beteiligte
Staatssecretaris van Justitie |
Tenor
1. Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, erlassen vom Assoziationsrat, der durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet wurde, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde, ist dahin auszulegen, dass, wenn mit einer Maßnahme eines Aufnahmemitgliedstaats die Kriterien für die Rechtmäßigkeit der Lage der türkischen Staatsangehörigen festgelegt werden sollen, indem die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die Aufnahme, den Aufenthalt und gegebenenfalls die Beschäftigung dieser Staatsangehörigen im Gebiet dieses Staates erlassen oder geändert werden, und wenn diese Voraussetzungen eine neue Beschränkung der Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer im Sinne der Stillhalteklausel in diesem Artikel darstellen, die Anwendung dieser Klausel nicht schon dann ausgeschlossen werden kann, wenn mit der Maßnahme die rechtswidrige Einreise und der rechtswidrige Aufenthalt vor Stellung eines Antrags auf eine Aufenthaltserlaubnis verhindert werden sollen.
2. Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 ist dahin auszulegen, dass der „Aufenthalt” der türkischen Staatsangehörigen nicht „ordnungsgemäß [ist]”, wenn diese eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis besitzen, die nur bis zur endgültigen Entscheidung über ihr Aufenthaltsrecht gilt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Niederlande) mit Entscheidung vom 9. Mai 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Mai 2012, in dem Verfahren
C. Demir
gegen
Staatssecretaris van Justitie
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis, J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. April 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Demir, vertreten durch J. P. Sanchez Montoto, advocaat,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Noort, B. Koopman und C. Wissels als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, J. Möller und A. Wiedmann als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Urbani Neri, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz und M. van Beek als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juli 2013
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685, im Folgenden: Assoziierungsabkommen) geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Demir und dem Staatssecretaris van Justitie (Justizstaatssekretär, im Folgenden: Staatssecretaris) wegen Ablehnung eines Antrags auf Aufenthaltserlaubnis.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Das Assoziierungsabkommen
Rz. 3
Nach Art. 2 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens hat dieses zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstands und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.
Rz. 4
In Art. 12 des Assoziierungsabkommens heißt es, dass „[d]ie Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [39 EG], [40 EG] und [41 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen”.
Rz. 5
Art. 22 Abs. 1 dieses Abkommens bestimmt:
„Zur Verwirklichung der Ziele de...