Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats. Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich. Rechte der türkischen Arbeitnehmer, die dem regulären Arbeitsmarkt angehören. Rückwirkende Rücknahme eines Aufenthaltstitels
Beteiligte
Freie und Hansestadt Hamburg |
Tenor
Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, die durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet wurde, das von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde, ist dahin auszulegen, dass er die zuständigen nationalen Behörden daran hindert, den Aufenthaltstitel eines türkischen Arbeitnehmers rückwirkend auf den Zeitpunkt, zu dem der Grund weggefallen war, von dem das nationale Recht die Erteilung dieses Titels abhängig machte, zurückzunehmen, wenn der Arbeitnehmer keine Täuschung begangen hat und die Rücknahme nach Ablauf des in Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich genannten Zeitraums von einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung erfolgt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hamburgischen Oberverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Mai 2011, in dem Verfahren
Atilla Gülbahce
gegen
Freie und Hansestadt Hamburg
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, sowie der Richter K. Lenaerts, J. Malenovský, T. von Danwitz und D. Šváby,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. April 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Gülbahce, vertreten durch Rechtsanwalt M. Prottung,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz und G. Rozet als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Juni 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, die durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet wurde, das von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80 bzw. Assoziierungsabkommen).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Gülbahce und der Freien und Hansestadt Hamburg über die Rücknahme seiner Aufenthaltserlaubnis.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Assoziierungsabkommen
Rz. 3
Nach seinem Art. 2 Abs. 1 hat das Assoziierungsabkommen zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.
Rz. 4
Art. 12 des Assoziierungsabkommens lautet: „Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [39 EG], [40 EG] und [41 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen.” In Art. 13 des Abkommens vereinbaren die Vertragsparteien, „sich von den Artikeln [43 EG] bis [46 EG] und [48 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufzuheben”.
Rz. 5
In Art. 22 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens heißt es:
„Zur Verwirklichung der Ziele des [Assoziierungsabkommens] und in den darin vorgesehenen Fällen ist der Assoziationsrat befugt, Beschlüsse zu fassen. Jede der beiden Parteien ist verpflichtet, die zur Durchführung der Beschlüsse erforderlichen Maßnahmen zu treffen. …”
Beschluss Nr. 1/80
Rz. 6
Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
- nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleic...