Entscheidungsstichwort (Thema)
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich und Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats. Richtlinien 64/221/EWG, 2003/109/EG und 2004/38/EG. Aufenthaltsrecht eines türkischen Staatsangehörigen, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats geboren ist und sich dort mehr als zehn Jahre ununterbrochen als Kind eines türkischen Arbeitnehmers rechtmäßig aufgehalten hat. Strafrechtliche Verurteilungen. Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung. Voraussetzungen
Beteiligte
Tenor
Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem Assoziationsrat erlassen wurde, der durch das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnete und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet wurde, ist dahin auszulegen, dass
- der den türkischen Staatsangehörigen durch diese Vorschrift gewährte Ausweisungsschutz nicht denselben Umfang aufweist wie der Schutz, den die Unionsbürger nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG genießen, so dass die für Unionsbürger geltende Regelung des Ausweisungsschutzes nicht entsprechend auf türkische Staatsangehörige angewandt werden kann, um die Bedeutung und die Tragweite dieses Art. 14 Abs. 1 zu bestimmen;
- diese Vorschrift des Beschlusses Nr. 1/80 dem nicht entgegensteht, dass eine auf Gründe der öffentlichen Ordnung gestützte Ausweisungsmaßnahme gegen einen türkischen Staatsangehörigen getroffen wird, der eine Rechtsposition nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich dieses Beschlusses besitzt, sofern das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats darstellt und die Maßnahme für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Es obliegt dem vorlegenden Gericht, unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte der Situation des betreffenden türkischen Staatsangehörigen zu prüfen, ob eine solche Maßnahme im Ausgangsverfahren rechtlich zulässig ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 22. Juli 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 14. August 2008, in dem Verfahren
Nural Ziebell
gegen
Land Baden-Württemberg
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter A. Borg Barthet, M. Ilešič und J.-J. Kasel (Berichterstatter) sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. März 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Ziebell, vertreten durch Rechtsanwälte B. Fresenius und R. Gutmann,
- des Landes Baden-Württemberg, vertreten durch M. Schenk als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
- der dänischen Regierung, vertreten durch J. Bering Liisberg und R. Holdgaard als Bevollmächtigte,
- der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch G. Karipsiadis und T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch I. Rao und C. Murrell als Bevollmächtigte im Beistand von T. Eicke, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Rozet und V. Kreuschitz als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. April 2011
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (im Folgenden: Assoziierungsabkommen) errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezembe...