Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Verbraucherschutz. Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen. Kriterien für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Klausel. Klausel über die vorzeitige Fälligstellung eines Darlehens. Vertragliche Befreiung von der Pflicht zur Mahnung
Normenkette
Richtlinie 93/13/EWG Art. 3 Abs. 1, Art. 4
Beteiligte
Caisse régionale de Crédit mutuel de Loire-Atlantique und du Centre Ouest |
Caisse régionale de Crédit mutuel de Loire-Atlantique et du Centre Ouest |
Tenor
1. Das Urteil vom 26. Januar 2017, Banco Primus (C-421/14, EU:C:2017:60), ist dahin auszulegen, dass die Kriterien, die darin für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen entwickelt wurden, insbesondere für die Beurteilung des erheblichen und ungerechtfertigten Missverhältnisses der vertraglichen Rechte und Pflichten, das diese Klausel zum Nachteil des Verbrauchers verursacht, nicht so zu betrachten sind, dass sie entweder kumulativ oder alternativ erfüllt sein müssen, sondern vielmehr als Teil der Gesamtheit der den Abschluss des betreffenden Vertrags begleitenden Umstände zu verstehen sind, die vom nationalen Gericht zu prüfen sind, um festzustellen, ob eine Vertragsklausel im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 missbräuchlich ist.
2. Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 der Richtlinie 93/13
sind dahin auszulegen, dass
ein Verzug von mehr als 30 Tagen bei der Begleichung einer Rate des Darlehens im Verhältnis zur Laufzeit und zur Höhe des Darlehens für sich genommen grundsätzlich eine hinreichend schwere Nichterfüllung des Darlehensvertrags im Sinne des Urteils vom 26. Januar 2017, Banco Primus (C-421/14, EU:C:2017:60), darstellen kann.
3. Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 der Richtlinie 93/13
sind dahin auszulegen, dass
sie vorbehaltlich der Anwendbarkeit von Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie dem entgegenstehen, dass die Vertragsparteien eine Klausel in den Vertrag aufnehmen, die ausdrücklich und unmissverständlich vorsieht, dass das aufgrund dieses Vertrags gewährte Darlehen von Rechts wegen fällig gestellt werden kann, wenn die Zahlung einer fälligen Rate nicht innerhalb einer bestimmten Frist erfolgt, sofern diese Klausel nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde und zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 16. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. September 2021, in dem Verfahren
QE
gegen
Caisse régionale de Crédit mutuel de Loire-Atlantique et du Centre Ouest
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi sowie der Richter J.-C. Bonichot und S. Rodin (Berichterstatter),
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von QE, vertreten durch S. Viaud, Avocat,
- der Caisse régionale de Crédit mutuel de Loire-Atlantique et du Centre Ouest, vertreten durch M.-A. Doumic-Seiller, Avocate,
- der französischen Regierung, vertreten durch A.-L. Desjonquères und N. Vincent als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen QE und der Caisse régionale de Crédit mutuel de Loire-Atlantique et du Centre Ouest, einer Bank französischen Rechts (im Folgenden: Bank) über eine Pfändung der Immobilie von QE, nachdem die Bank ein von ihr an QE gewährtes Darlehen vorzeitig fällig gestellt hatte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:
„Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.”
Rz. 4
Art. 4 der Richtlinie 93/13 sieht vor:
„(1) Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertra...