Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. Begriff ‚Risiko für die öffentliche Ordnung’. Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten davon absehen können, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen können
Normenkette
Richtlinie 2008/115/EG Art. 7 Abs. 4
Beteiligte
Staatssecretaris voor Veiligheid en Justitie |
Staatssecretaris voor Veiligheid en Justitie |
Tenor
1. Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der ein Drittstaatsangehöriger, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, bereits deshalb eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Vorschrift darstellt, weil er der Begehung einer nach nationalem Recht als Straftat geahndeten Handlung verdächtigt wird oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde.
2. Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass im Fall eines Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält und verdächtigt wird, eine nach nationalem Recht als Straftat geahndete Handlung begangen zu haben, oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde, andere Kriterien wie die Art und die Schwere dieser Tat, der Zeitablauf seit der Tatbegehung sowie der Umstand, dass dieser Drittstaatsangehörige dabei war, das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu verlassen, als er von den nationalen Behörden festgenommen wurde, im Rahmen der Beurteilung der Frage, ob dieser Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Bestimmung darstellt, maßgeblich sein können. Im Rahmen dieser Beurteilung ist gegebenenfalls auch jedes Kriterium maßgeblich, das die Stichhaltigkeit des Verdachts der dem betreffenden Drittstaatsangehörigen vorgeworfenen Straftat betrifft.
3. Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass der Rückgriff auf die in dieser Bestimmung vorgesehene Möglichkeit, gar keine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, wenn der Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, keine erneute Prüfung der Kriterien erfordert, die bereits geprüft wurden, um das Bestehen dieser Gefahr festzustellen. Jede Regelung oder Praxis eines Mitgliedstaats in diesem Bereich muss jedoch gewährleisten, dass im Einzelfall geprüft wird, ob das Fehlen einer Frist für die freiwillige Ausreise mit den Grundrechten dieses Drittstaatsangehörigen vereinbar ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Niederlande) mit Entscheidung vom 23. Oktober 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Oktober 2013, in den Verfahren
Z. Zh.
gegen
Staatssecretaris voor Veiligheid en Justitie
und
Staatssecretaris voor Veiligheid en Justitie
gegen
I. O.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Ó Caoimh (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Oktober 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Zh., vertreten durch J. J. D. van Doleweerd, advocaat,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman, B. Koopman und C. Schillemans als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, M. Jacobs und T. Materne als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčíl als Bevollmächtigte,
- der hellenischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki, als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und F.-X. Bréchot als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, K. Pawłowska und M. Pawlicka als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und G. Wils als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 12. Februar 2015
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen einerseits Herrn Zh., Drittstaatsangehöriger, und dem Minister voor Immigratie en Asiel (Minister für Einwanderung und Asyl), dessen Nachfolg...