Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Beschränkungen. Eröffnung eines Entschuldungsverfahrens. Wohnsitzerfordernis. Zulässigkeit. Unmittelbare Wirkung

 

Normenkette

AEUV Art. 45

 

Beteiligte

A

A

 

Tenor

1. Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer in der Regelung eines Mitgliedstaats vorgesehenen Gerichtsstandsregel entgegensteht, die – wie die im Ausgangsverfahren fragliche – die Bewilligung einer Entschuldung an die Voraussetzung knüpft, dass der Schuldner seinen Wohnsitz oder Aufenthaltsort in diesem Mitgliedstaat hat.

2. Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass das nationale Gericht das in einer nationalen Gerichtsstandsregel wie der im Ausgangsverfahren fraglichen vorgesehene Wohnsitzerfordernis unabhängig davon unangewendet lassen muss, ob das ebenfalls in dieser Regelung vorgesehene Entschuldungsverfahren möglicherweise dazu führt, dass die Forderungen Privater nach der Regelung beeinträchtigt werden.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Østre Landsret (Landgericht der Region Ost, Dänemark) mit Entscheidung vom 19. Dezember 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Dezember 2017, in dem Verfahren auf Antrag von

A

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter D. Šváby, S. Rodin (Berichterstatter) und N. Piçarra,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Januar 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von A, vertreten durch C. T. Hermann, advokat,
  • der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren, M. S. Wolff und P. Z. L. Ngo als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch H. StØvlbæk und M. Kellerbauer als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. März 2019

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 AEUV.

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines von A eingeleiteten Entschuldungsverfahrens.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Art. 84 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141, S. 19, und Berichtigung ABl. 2016, L 349, S. 9) sieht vor:

„Diese Verordnung ist nur auf solche Insolvenzverfahren anzuwenden, die ab dem 26. Juni 2017 eröffnet worden sind. Für Rechtshandlungen des Schuldners vor diesem Datum gilt weiterhin das Recht, das für diese Rechtshandlungen anwendbar war, als sie vorgenommen wurden.”

Dänisches Recht

Rz. 4

In § 3 des Konkurslov (Konkursgesetz) heißt es:

  1. „Anträge auf Sanierung, Insolvenz oder Entschuldung sind beim Teilungsgericht [(Nachlass- und Insolvenzabteilung des Amtsgerichts)] des Ortes zu stellen, an dem die wirtschaftliche Tätigkeit des Schuldners ausgeübt wird.
  2. Übt der Schuldner keine wirtschaftliche Tätigkeit [in Dänemark] aus, ist der Antrag beim Teilungsgericht in dem Gerichtsbezirk zu stellen, in dem er seinen allgemeinen Gerichtsstand hat.

…”

Rz. 5

§ 197 Abs. 2 Nr. 1 des Konkursgesetzes bestimmt:

„2. Der Beschluss über die Entschuldung kann in der Regel nicht ergehen, wenn

1) die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners ungeklärt sind,

…”

Rz. 6

§ 229 Abs. 1 des Konkursgesetzes lautet:

„Der Entschuldungsbeschluss kann vom Teilungsgericht auf Verlangen eines Gläubigers aufgehoben werden,

1) wenn dargelegt wird, dass der Schuldner sich während des Entschuldungsverfahrens eines betrügerischen Verhaltens schuldig gemacht hat, oder

2) wenn der Schuldner seine Pflichten aus dem Entschuldungsbeschluss grob verletzt.”

Rz. 7

In § 235 des Retsplejeloven (Rechtspflegegesetz) heißt es:

„(1) Alle Rechtsstreitigkeiten werden am allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten anhängig gemacht, sofern das Gesetz nichts anderes bestimmt.

(2) Der allgemeine Gerichtsstand befindet sich in dem Gerichtsbezirk, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat. Ist der Beklagte in mehreren Gerichtsbezirken wohnhaft, befindet sich der allgemeine Gerichtsstand in jedem von ihnen.

(3) Hat der Beklagte keinen Wohnsitz, befindet sich der allgemeine Gerichtsstand in dem Gerichtsbezirk, in dem er sich aufhält.

(4) Hat der Beklagte keinen Wohnsitz oder bekannten Aufenthaltsort, befindet sich der allgemeine Gerichtsstand in dem Gerichtsbezirk, in dem er seinen letzten Wohnsitz oder Aufenthaltsort hatte.”

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

Rz. 8

A ist ein dänischer Staatsangehöriger, der in Schweden wohnt und in Dänemark als Arbeitnehmer beschäftigt ist, wo er nach dänischem Recht unbeschränkt steuerpflichtig ist.

Rz. 9

Am 8. Februar 2017 stellte A einen Antrag auf Entschuldung beim SØ- og Handelsret (See- und Handelsgericht, Dänemark).

Rz. 10

Dieser Antrag betraf seit dem Jahr 1999 entstandene Verbindlichkeiten gegenüber dänischen Gläubigern, bei denen es sich um eine juristische Person des öffentlichen Rechts und Priv...

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