Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, Reverse-Charge-Verfahren, Rechnung, Angabe eines fiktiven Lieferers in der Rechnung, Eigenrechnung im Reverse-Charge-Verfahren, Betrugsbekämpfung
Normenkette
EGRL 112/2006
Beteiligte
Administración General del Estado |
Verfahrensgang
Tribunal Supremo (Spanien) (Beschluss vom 11.02.2020; ABl. EU 2020, Nr. C 320/9) |
Tenor
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass einem Steuerpflichtigen die Ausübung des Rechts auf Abzug der auf den Erwerb von ihm gelieferten Gegenständen entfallenden Mehrwertsteuer zu versagen ist, wenn der Steuerpflichtige bewusst einen fiktiven Lieferer in der Rechnung angegeben hat, die er selbst für diesen Umsatz im Rahmen der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens ausgestellt hat, sofern unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände und der von dem Steuerpflichtigen vorgelegten Informationen die für die Prüfung, ob der wahre Lieferer Steuerpflichtiger war, erforderlichen Angaben fehlen oder rechtlich hinreichend nachgewiesen ist, dass der Steuerpflichtige Mehrwertsteuer hinterzogen hat oder gewusst hat oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in eine solche Hinterziehung einbezogen war.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) mit Entscheidung vom 11. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juni 2020, in dem Verfahren
Ferimet SL
gegen
Administración General del Estado
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Fünften Kammer, des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter) und M. Ilešič,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Ferimet SL, vertreten durch M. A. Montero Reiter, procurador, und F. Juanes Ródenas, abogado,
- der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und O. Serdula als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und J. Jokubauskaite als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 168 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1), gegebenenfalls in Verbindung mit weiteren Bestimmungen der Richtlinie, und des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Ferimet SL und der Administración General del Estado (Allgemeine Verwaltung des Staates, Spanien) über das Recht auf Vorsteuerabzug für eine im Jahr 2008 bewirkte Lieferung von recyclingfähigen Materialien.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Als ‚Steuerpflichtiger’ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit’ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.”
Rz. 4
Art. 168 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…”
Rz. 5
Art. 178 der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
a) für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferungen von Gegenständen und dem Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß den Artikeln 220 bis 236 sowie 238, 239 und 240 ausgestellte Rechnung besitzen;
…
f) hat er die Steuer in seiner Eigenschaft als Dienstleistungsempfänger oder Erwerber gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 zu entrichten, muss er die von dem jeweiligen Mitgliedstaat vorgeschriebenen Formalitäten erfüllen.”
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