Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz. Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz. Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling. Beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) registrierter Staatenloser palästinensischer Herkunft. Voraussetzungen, um ipso facto den Schutz der Richtlinie 2011/95 zu genießen. Wegfall des Schutzes oder des Beistands des UNRWA
Normenkette
EURL 95/2011 Art. 12
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
1. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass zur Feststellung, ob der Schutz oder Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) nicht länger gewährt wird, im Rahmen einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände des fraglichen Sachverhalts alle Operationsgebiete des Einsatzgebiets des UNRWA zu berücksichtigen sind, in deren Gebiete ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, der dieses Einsatzgebiet verlassen hat, eine konkrete Möglichkeit hat, einzureisen und sich dort in Sicherheit aufzuhalten.
2. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass nicht angenommen werden kann, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird, wenn ein Staatenloser palästinensischer Herkunft das Einsatzgebiet des UNRWA ausgehend von einem Operationsgebiet dieses Einsatzgebiets, in dem er sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befand und in dem das UNRWA nicht imstande war, ihm seinen Schutz oder Beistand zu gewähren, verlassen hat, sofern er sich zum einen aus einem anderen Operationsgebiet dieses Einsatzgebiets, in dem er sich nicht in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befunden hatte und in dem er den Schutz oder Beistand des UNRWA hatte in Anspruch nehmen können, freiwillig in dieses Operationsgebiet begeben hat und sofern er zum anderen auf der Grundlage ihm vorliegender konkreter Informationen vernünftigerweise nicht damit rechnen konnte, in dem Operationsgebiet, in das er eingereist ist, durch das UNRWA Schutz oder Beistand zu erfahren oder in absehbarer Zeit in das Operationsgebiet, aus dem er ausgereist ist, zurückkehren zu können, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juli 2019, in dem Verfahren
Bundesrepublik Deutschland
gegen
XT
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer, der Richter N. Wahl und F. Biltgen sowie der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Juni 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch A. Schumacher als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, R. Kanitz und D. Klebs als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Dubois als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, G. Wils und C. Ladenburger als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Oktober 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).
Rz. 2
Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundesrepublik Deutschland und XT über die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz, den XT im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt hatte.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Genfer Konvention
Rz. 3
Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United N...