Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats. Versäumnisverfahren. Übergangszeitraum. Zuständigkeit des Gerichtshofs. Urteil des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs). Vollstreckung eines Schiedsspruchs, mit dem die Zahlung von Schadensersatz zugesprochen wird. Beschluss der Europäischen Kommission, mit dem festgestellt wird, dass diese Zahlung eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstellt. Loyale Zusammenarbeit. Pflicht zur Aussetzung des Verfahrens. Zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten vor dem Zeitpunkt ihres Beitritts zur Union geschlossene internationale Übereinkunft. Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten (ICSID). Anwendung des Unionsrechts. In letzter Instanz entscheidendes nationales Gericht. Verpflichtung, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen. Aussetzung der Durchführung der Beihilfe
Normenkette
Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft v. 24.01.2020 Art. 127 Abs. 1; EUV Art. 4 Abs. 3; AEUV Art. 351 Abs. 1, Art. 267, 108 Abs. 3
Beteiligte
Kommission/ Vereinigtes Königreich (Arrêt de la Cour suprême) |
Tenor
1.Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland hat mit dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) vom 19. Februar 2020 in der Rechtssache Micula/Rumänien gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 108 Abs. 3, Art. 267 Abs. 1 und 3 sowie Art. 351 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des am 17. Oktober 2019 angenommenen Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, verstoßen.
2.Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland trägt die Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache C-516/22
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 29. Juli 2022,
Europäische Kommission,vertreten durch L. Armati, P.-J. Loewenthal und T. Maxian Rusche als Bevollmächtigte,
Klägerin,
gegen
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland,vertreten durch S. Fuller als Bevollmächtigten,
Beklagter,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter) sowie der Richter Z. Csehi, M. Ilešič, I. Jarukaitis und D. Gratsias,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. November 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland mit dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) vom 19. Februar 2020 in der Rechtssache Micula/Rumänien (im Folgenden: beanstandetes Urteil) gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 108 Abs. 3 AEUV, Art. 267 Abs. 1 und 3 AEUV sowie Art. 351 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des am 17. Oktober 2019 angenommenen Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (im Folgenden: Austrittsabkommen), verstoßen hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 2
Das Austrittsabkommen, das mit dem Beschluss (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 (ABl. 2020, L 29, S. 1) im Namen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) genehmigt wurde, ist gemäß seinem Art. 185 am 1. Februar 2020 in Kraft getreten.
Rz. 3
Art. 2 Buchst. e des Austrittsabkommens lautet:
„Für die Zwecke dieses Abkommens bezeichnet der Ausdruck
…
e) ‚Übergangszeitraum‘ den in Artikel 126 vorgesehenen Zeitraum“.
Rz. 4
Art. 86 („Vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängige Rechtssachen“) Abs. 2 des Austrittsabkommens bestimmt:
„Der Gerichtshof der Europäischen Union ist weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs zuständig, die vor Ende des Übergangszeitraums vorgelegt werden.“
Rz. 5
Art. 87 („Neue Rechtssachen vor dem Gerichtshof“) Abs. 1 des Austrittsabkommens sieht vor:
„Gelangt die Europäische Kommission zu der Auffassung, dass das Vereinigte Königreich eine Verpflichtung aus den Verträgen oder aus Teil Vier dieses Abkommens vor Ende des Übergangszeitraums nicht erfüllt hat, so kann sie den Gerichtshof der Europäischen Union im Einklang mit den Vorschriften nach Artikel 258 AEUV beziehungsweise Artikel 108 Absatz 2 Unterabsatz 2 AEUV innerhalb von vier Jahren nach Ende des Übergangszeitraums mit der Angelegenheit befassen. In diesen Fällen ist der Gerichtshof der Europäischen Union zuständig.“
Rz. 6
Art. 126 („Übergangszeitraum“) des Austrittsabkommens lautet:
„Es gibt einen Übergangs- oder Durchführungsze...