Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen. Marktmissbrauch. Insiderinformation. Begriff. Präzise Information. Information über die bevorstehende Veröffentlichung eines Presseartikels, in dem ein Marktgerücht über einen Emittenten von Finanzinstrumenten aufgegriffen wird. Unrechtmäßigkeit der Offenlegung einer Insiderinformation. Ausnahmen. Offenlegung einer Insiderinformation im Zuge der normalen Ausübung eines Berufs. Offenlegung einer Insiderinformation für journalistische Zwecke. Pressefreiheit und freie Meinungsäußerung. Offenlegung einer Information über die bevorstehende Veröffentlichung eines Presseartikels gegenüber einer üblichen Quelle durch einen Journalisten
Normenkette
Richtlinie 2003/6/EG; Verordnung (EU) Nr. 596/2014 Art. 10, 21; Richtlinie 2003/124/EG
Beteiligte
Autorité des marchés financiers |
Autorité des marchés financiers (AMF) |
Tenor
1. Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) ist dahin auszulegen, dass es sich für die Einstufung als Insiderinformation bei einer Information, die die bevorstehende Veröffentlichung eines Presseartikels betrifft, in dem ein Marktgerücht über einen Emittenten von Finanzinstrumenten aufgegriffen wird, um eine „präzise” Information im Sinne dieser Vorschrift und im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG der Kommission vom 22. Dezember 2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6 betreffend die Begriffsbestimmung und die Veröffentlichung von Insider-Informationen und die Begriffsbestimmung der Marktmanipulation handeln kann und dass für die Beurteilung, ob die Information präzise ist, der Umstand, dass in diesem Presseartikel der für die Wertpapiere dieses Emittenten im Rahmen eines möglichen öffentlichen Erwerbsangebots gebotene Preis genannt werden wird, sowie die Identität des Journalisten, der diesen Artikel unterzeichnet hat, und des Presseorgans, das ihn veröffentlicht hat, erheblich sind, sofern sie vor der Veröffentlichung des Artikels mitgeteilt wurden. Der tatsächliche Einfluss dieser Veröffentlichung auf den Kurs der Wertpapiere, auf die sie sich bezieht, kann zwar einen nachträglichen Beweis dafür darstellen, dass die Information über diese Veröffentlichung präzise war, kann aber für sich genommen, ohne dass weitere, vor dieser Veröffentlichung bekannte oder offengelegte Angaben geprüft werden, nicht für den Nachweis der Präzision der Information genügen.
2. Art. 21 der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6 und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission ist dahin auszulegen, dass die Offenlegung einer Information über die bevorstehende Veröffentlichung eines Artikels, in dem ein Marktgerücht aufgegriffen wird, durch den Journalisten, der diesen Artikel verfasst hat, an eine seiner üblichen Informationsquellen „für journalistische Zwecke” im Sinne dieser Vorschrift geschieht, wenn sie erforderlich ist, um einer journalistischen Tätigkeit nachzukommen, die auch Untersuchungstätigkeiten im Vorfeld dieser Veröffentlichung umfasst.
3. Die Art. 10 und 21 der Verordnung Nr. 596/2014 sind dahin auszulegen, dass eine Offenlegung einer Insiderinformation durch einen Journalisten rechtmäßig ist, wenn sie für die Ausübung seines Berufs erforderlich ist und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d'appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) mit Entscheidung vom 9. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren
Herr A
gegen
Autorité des marchés financiers(AMF)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele, des Kammerpräsidenten J. Passer sowie der Richter J.-C. Bonichot, T. von Danwitz, M. Safjan, F. Biltgen (Berichterstatter), A. Kumin und N. Wahl,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: V. Giacobbo, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn A, vertreten durch G. Roch und S. Poisson, Avocates,
- der Autorité des marchés financiers (AMF), vertreten durch M. Delorme und A. du Passage als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier, A.-L. Desjonquères und E. Leclerc als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz und J. Rodríguez de la Rúa Puig als Bevollmächtigte,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch O. Simonsson, J. Lundberg, C. Meyer-Seitz, A...