Entscheidungsstichwort (Thema)
Verordnung (EG) Nr. 1346/2000. Insolvenzverfahren. Internationale Zuständigkeit. Bei einer Vermischung von Vermögensmassen vorgesehene Erweiterung eines Insolvenzverfahrens, das gegen eine in einem Mitgliedstaat niedergelassene Gesellschaft eröffnet ist, auf eine Gesellschaft, deren satzungsmäßiger Sitz sich in einem anderen Mitgliedstaat befindet
Beteiligte
Jean-Charles Hidoux in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter der Médiasucre international |
Nachgehend
Tenor
1. Die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren ist dahin auszulegen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, das ein Hauptinsolvenzverfahren gegen eine Gesellschaft unter Zugrundelegung der Tatsache eröffnet hat, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Gesellschaft im Gebiet dieses Mitgliedstaats befindet, dieses Verfahren in Anwendung einer innerstaatlichen Vorschrift nur unter der Bedingung auf eine zweite Gesellschaft, deren satzungsmäßiger Sitz sich in einem anderen Mitgliedstaat befindet, erweitern kann, dass nachgewiesen wird, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der zweiten Gesellschaft im erstgenannten Mitgliedstaat befindet.
2. Die Verordnung Nr. 1346/2000 ist dahin auszulegen, dass, wenn gegen eine Gesellschaft, deren satzungsmäßiger Sitz sich im Gebiet eines Mitgliedstaats befindet, Klage auf Erweiterung der Wirkungen eines Insolvenzverfahrens erhoben wird, das in einem anderen Mitgliedstaat gegen eine andere Gesellschaft, die im Gebiet dieses Mitgliedstaats niedergelassen ist, eröffnet ist, die Feststellung allein, dass eine Vermischung der Vermögensmassen dieser Gesellschaften vorliegt, nicht für den Nachweis ausreicht, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der von der Klage betroffenen Gesellschaft ebenfalls in diesem Mitgliedstaat befindet. Zur Widerlegung der Vermutung, dass sich dieser Mittelpunkt am Ort des satzungsmäßigen Sitzes befindet, ist erforderlich, dass mit einer Gesamtbeurteilung aller relevanten Anhaltspunkte der Nachweis gelingt, dass sich das tatsächliche Verwaltungs- und Kontrollzentrum der von der Klage auf Erweiterung betroffenen Gesellschaft für Dritte feststellbar in dem Mitgliedstaat befindet, in dem das ursprüngliche Insolvenzverfahren eröffnet wurde.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Frankreich) mit Entscheidung vom 13. April 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 19. April 2010, in dem Verfahren
Rastelli Davide e C. Snc
gegen
Jean-Charles Hidoux in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter der Gesellschaft Médiasucre international
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter M. Safjan, A. Borg Barthet und M. Ilešič sowie der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von J.-C. Hidoux in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter der Médiasucre international, vertreten durch B. Kuchukian, avocat,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und B. Cabouat als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. M. Wissels und B. Koopman als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A.-M. Rouchaud-Joët und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1, im Folgenden: Verordnung).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Rastelli Davide e C. Snc (im Folgenden: Rastelli) und Herrn Hidoux in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter der Médiasucre international (im Folgenden: Médiasucre) über die Erweiterung des gegen Médiasucre eröffneten Insolvenzverfahrens auf Rastelli.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Nach ihrem sechsten Erwägungsgrund beschränkt sich die Verordnung auf „Vorschriften …, die die Zuständigkeit für die Eröffnung von Insolvenzverfahren und für Entscheidungen regeln, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen”.
Rz. 4
Art. 3 („Internationale Zuständigkeit”) der Verordnung bestimmt:
„(1) Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen I...