Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Insolvenzverfahren. Internationale Zuständigkeit. Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners. Natürliche Person, die keine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt. Widerlegliche Vermutung, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Person der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist. Widerlegung der Vermutung. Situation, in der die einzige Immobilie des Schuldners außerhalb des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts belegen ist
Normenkette
Verordnung (EU) 2015/848 Art. 3
Beteiligte
Tenor
Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 und 4 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren ist dahin auszulegen, dass die darin vorgesehene Vermutung zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, wonach der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen einer natürlichen Person, die keine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist, nicht schon allein dadurch widerlegt wird, dass die einzige Immobilie dieser Person außerhalb des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts belegen ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal da Relação de Guimarães (Berufungsgericht Guimarães, Portugal) mit Entscheidung vom 14. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 26. März 2019, in dem Verfahren
MH,
NI
gegen
OJ,
Novo Banco SA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters N. Piçarra,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, P. Lacerda, P. Barros da Costa und L. Medeiros als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und P. Costa de Oliveira als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141, S. 19).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MH und NI auf der einen und OJ und der Novo Banco SA auf der anderen Seite über den Antrag von MH und NI auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 1346/2000
Rz. 3
Die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. 2000, L 160, S. 1) wurde durch die Verordnung 2015/848 aufgehoben und ersetzt. In ihrem 13. Erwägungsgrund hieß es:
„Als Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen sollte der Ort gelten, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und [der] damit für Dritte feststellbar ist.”
Rz. 4
Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 bestimmte:
„Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.”
Verordnung 2015/848
Rz. 5
In den Erwägungsgründen 5, 23 und 27 bis 34 der Verordnung 2015/848 heißt es:
„(5) Im Interesse eines ordnungsgemäßen Funktionierens des Binnenmarkts muss verhindert werden, dass es für Beteiligte vorteilhafter ist, Vermögensgegenstände oder Gerichtsverfahren von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu verlagern, um auf diese Weise eine günstigere Rechtsstellung zum Nachteil der Gesamtheit der Gläubiger zu erlangen (im Folgenden ‚Forum Shopping’).
…
(23) Diese Verordnung gestattet die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Dieses Verfahren hat universale Geltung sowie das Ziel, das gesamte Vermögen des Schuldners zu erfassen. Zum Schutz der unterschiedlichen Interessen gestattet diese Verordnung die Eröffnung von Sekundärinsolvenzverfahren parallel zum Hauptinsolvenzverfahren. Ein Sekundärinsolvenzverfahren kann in dem Mitgliedstaat eröffnet werden, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat. Seine Wirkungen sind auf das in dem betreffenden Mitgliedstaat belegene Vermögen des Schuldners beschränkt. Zwingende Vorschriften für die Koordinierung mit dem Hauptinsolvenzverfahren tragen dem Gebot der Einheitlichkeit in der Union Rechnung.
…
(27) Vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens sollte das zuständige Gericht von Amts wegen prüfen, ob sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners ...