Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Geltungsbereich. Durchführung des Rechts der Union. Zuständigkeit des Gerichtshofs. Vorlage vor Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls. Zulässigkeit. Grundsatz ne bis in idem. Begriffe ‚Freispruch’ und ‚Verurteilung’. Amnestie im Ausstellungsmitgliedstaat. Rechtskräftige Entscheidung über die Einstellung der Strafverfolgung. Rücknahme der Amnestie. Aufhebung der Entscheidung über die Einstellung der Strafverfolgung. Wiederaufleben der Strafverfolgung. Erforderlichkeit einer nach Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der betroffenen Person ergangenen Entscheidung. Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Begriff ‚Strafverfahren’- Gesetzgebungsverfahren zur Verabschiedung eines Beschlusses über die Rücknahme einer Amnestie. Gerichtliches Verfahren der Überprüfung der Vereinbarkeit dieses Beschlusses mit der nationalen Verfassung. Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 50
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 51; Richtlinie 2012/13/EU
Beteiligte
Tenor
1. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gegen eine Person, deren Strafverfolgung ursprünglich durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung auf der Grundlage einer Amnestie eingestellt wurde und dann nach dem Erlass eines Gesetzes, mit dem diese Amnestie zurückgenommen und diese gerichtliche Entscheidung aufgehoben wurde, wieder auflebt, nicht entgegensteht, wenn diese Entscheidung vor einer Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der betroffenen Person ergangen ist.
2. Die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass sie weder auf ein Verfahren mit Gesetzgebungscharakter über die Rücknahme einer Amnestie noch auf ein gerichtliches Verfahren, das die Überprüfung der Vereinbarkeit dieser Rücknahme mit der nationalen Verfassung zum Gegenstand hat, anwendbar ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Okresný súd Bratislava III (Bezirksgericht Bratislava III, Slowakei) mit Entscheidung vom 11. Mai 2020, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Strafverfahren gegen
AB,
CD,
EF,
NO,
JL,
GH,
IJ,
LM,
PR,
ST,
UV,
WZ,
BC,
DE,
FG,
Beteiligte:
HI,
Krajská prokuratúra v Bratislave,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer, F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie des Richters N. Wahl,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Mai 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von AB, vertreten durch M. Mandzák, M. Para, L. Hlbočan und L. Kaščák, advokáti,
- von CD, EF, NO und JL, vertreten durch M. Krajčí und M. Para, advokáti,
- von IJ, vertreten durch M. Totkovič und M. Pohovej, advokáti,
- der Krajská prokuratúra v Bratislave, vertreten durch R. Remeta und V. Pravda als Bevollmächtigte,
- der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und A. Tokár als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. Juni 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 82 AEUV, der Art. 47, 48 und 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) und der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen AB, CD, EF, NO, JL, GH, IJ, LM, PR, ST, UV, WZ, BC, DE und FG (im Folgenden: beschuldigte Personen), in dessen Zusammenhang das vorlegende Gericht die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gegen eine dieser Personen beabsichtigt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rahmenbeschluss 2002/584
Rz. 3
Art. 17 („Fristen und Modalitäten der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls”) Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:
„Ein Europäischer Haftbefehl wird als Eilsache erledigt und vollstreckt.”
Richtlinie 2012/13
Rz. 4
Art. 1 („Gegenstand”) der Richtlinie 2012/13 sieht vor:
„Mit dieser Richtlinie werden Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung üb...