Entscheidungsstichwort (Thema)
Freizügigkeit von Unionsbürgern. Richtlinie 2004/38/EG. Verbot, das nationale Hoheitsgebiet zu verlassen, das wegen Nichtbegleichung einer Abgabenschuld verhängt wird. Maßnahme, die durch Gründe der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt werden kann
Beteiligte
Zamestnik direktor na Stolichna direktsia na vatreshnite raboti kam Ministerstvo na vatreshnite raboti |
Tenor
1. Das Unionsrecht steht einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats, wonach die Verwaltungsbehörde einem Staatsangehörigen dieses Staates verbieten darf, diesen Staat zu verlassen, weil eine Abgabenschuld der Gesellschaft, zu deren Geschäftsführern er gehört, nicht beglichen wurde, nicht entgegen, jedoch unter der doppelten Voraussetzung, dass die in Rede stehende Maßnahme zum Gegenstand hat, unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen, die sich u. a. aus der Art oder der Höhe dieser Schuld ergeben könnten, einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, zu begegnen, und dass das damit angestrebte Ziel nicht nur wirtschaftlichen Zwecken dient. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind.
2. Selbst wenn eine Maßnahme des Verbots, das Hoheitsgebiet zu verlassen, wie sie gegenüber Herrn Aladzhov im Ausgangsverfahren ergangen ist, unter den Voraussetzungen des Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG erlassen wurde, stehen die Voraussetzungen des Art. 27 Abs. 2 dieser Verordnung einer solchen Maßnahme entgegen, wenn
- sie ausschließlich auf das Bestehen der Abgabenschuld der Gesellschaft, zu deren Geschäftsführern der Kläger gehört, und allein auf diese Eigenschaft gestützt ist, ohne dass eine spezifische Beurteilung des persönlichen Verhaltens des Betroffenen stattgefunden hätte und auf irgendeine von ihm ausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung Bezug genommen worden wäre, und
- das Verbot, das Hoheitsgebiet zu verlassen, nicht geeignet ist, die Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels zu gewährleisten, und über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies im Ausgangsverfahren der Fall ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 24. August 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 6. September 2010, in dem Verfahren
Petar Aladzhov
gegen
Zamestnik direktor na Stolichna direktsia na vatreshnite raboti kam Ministerstvo na vatreshnite raboti
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot (Berichterstatter), der Richterin A. Prechal, des Richters K. Schiemann, der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Aladzhov, vertreten durch Rechtsanwalt M. Hristov,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani und V. Savov als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. September 2011
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt in ABl. L 229, S. 35).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem bulgarischen Staatsangehörigen Herrn Aladzhov, Mitgeschäftsführer der Gesellschaft UBN Cargo, und dem Zamestnik direktor na Stolichna direktsia na vatreshnite raboti kam Ministerstvo na vatreshnite raboti (Stellvertretender Direktor der Hauptstadtdirektion für innere Angelegenheiten des Innenministeriums, im Folgenden: Stellvertretender Direktor) wegen dessen Entscheidung, Herrn Aladzhov zu verbieten, das nationale Hoheitsgebiet zu verlassen, bis die Abgabenforderung des bulgarischen Staates gegen diese Gesellschaft beglichen oder eine Sicherheit für die gesamte Forderung gestellt wird.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2004/38
Rz. 3
Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 gilt die Richtlinie 2004/38 für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitglied...